Die Produktion von Spielfilmen ausserhalb des «Groupe 5» hat, davon konnte man sich namentlich an den Solothurner Filmtagen zu Beginn dieses Jahres überzeugen, jetzt in grösserem Umfang eingesetzt. Sie zeigen, gesamthaft betrachtet, zunächst einmal, wie sehr die Filme und Autoren des «Groupe 5» in den letzten Jahren das Bild der westschweizerischen Produktion bestimmt haben. Denn die jetzt allmählich in den Vordergrund tretenden neuen Autoren warten gar nicht ab, dass die Kritik sie zum «Groupe 5» in Beziehung bringt, sie stellen diese Beziehung in ihren Filmen gleich selber her. Sie scheuen nicht die bewusste Affinität zu Tanner, Soutter, Goretta, erblicken in ihnen, den «Etablierten», mehr Wegbereiter als Väter, gegen die es sich aufzulehnen gälte. Damit einher geht natürlich auch, bei allen Autoren, der Versuch, sich individuell zu profilieren.
Erica Minor von Bertrand van Effenterre zum Beispiel enthält sowohl «Tannerismen» in beträchtlicher Zahl wie auch einige bewusste Zitate, ist aber aus einer Situation entsprungen, die den Autoren des «Groupe 5», in dieser Zuspitzung zumindest, fremd ist: derjenigen des Grenzgängers in der Region von Genf, der in Frankreich wohl wohnen, aber nicht recht arbeiten kann, in der Schweiz wohl arbeiten, aber nicht wohnen darf. Effenterre, der Franzose ist, kennt diese Lage aus eigener langjähriger Erfahrung. Er hat die persönliche Dimension in seinem ersten Spielfilm aber nur verwendet, sie nicht selbst zum zentralen Thema gemacht. Vielmehr hat er, ganz nach der Art Tanners wiederum, das persönliche Motive für einen Film über Frauen genutzt, der vielleicht noch weiter in die Geschichte des westschweizerischen Films zurückweist, bis zu Quatre d’entre elles. Drei von ihnen sind es diesmal, deren Leben in einzelnen Abschnitten betrachtet wird, dargestellt von Juliet Berto, Brigitte Fossey und Fxlith Scob. Der Film ist, und in dieser Beziehung hat sich Effenterre vielleicht zuviel tannerschen Konstruktivismus zugetraut, mit seinen ineinander geschachtelten Erzählungen nicht klar genug «gebaut», als dass die thematischen Linien immer gut zu verfolgen wären, die Figuren wirklich lebendig würden. Aber eins hat Effenterre sehr gut herausgearbeitet: den Gegensatz zwischen Brigitte Fossey, die er in ihrer ganzen Sinnlichkeit und Lebensfähigkeit zeigt, und Edith Scob, die in ihrer ideologischen Verstiegenheit schon so gut wie tot ist, aussieht, als wäre sie schon ihrem Körper entwachsen. Ein Film, aus dessen reicher Wirrnis vielleicht nichts Ganzes, aber doch eine Reihe von Anhaltspunkten zu gewinnen ist.
Yvan Butlers Ansatz in La fille au violoncelle ist eher soutterscher Art, zumindest in der Exposition, bevor dann die Sache in blutigen Ernst umschlägt, die bittere Komödie sich zum psychoanalysierenden Horrorfilm wandelt. Michel Lonsdale, aus der neueren Generation französischer Schauspieler vielleicht einer der besten, präsentiert sich als ein sinnlich sehr gut und auf Anhieb fassbarer Erfolgsmensch, Prinzipal in einer grossen Genfer Parfümerie, ein gutbezahlter, spiessiger Spezialist, der alles hat ausser einem Leben, das es wert wäre, gelebt zu werden. Seine Begegnung mit der klassischen «Fremden», der Studentin Angela McDonald, und ihrer ganz anderen, aufs Erleben des Augenblicks gerichteten Lebensweise und nebenbei auch seine Bekanntschaft mit dem wurstig dahinlebenden Jean-Luc Bideau halten sich noch im Rahmen der Komödie, erhalten der Gestalt noch ihre Glaubwürdigkeit. Seine Reaktion allerdings von dem Moment an, wo er merkt, dass er zu diesem «andern» Leben keinen rechten Zugang finden kann, immer in seiner Beobachterrolle bleibt, wirkt dann reichlich aufgesetzt, ist vielleicht nicht als solche unglaubwürdig, ist aber unglaubwürdig gezeigt.
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Zwei Kameraleute als Autoren
Bei den augenblicklich geltenden Produktionsstrukturen muss ein Kameramann Autor werden, will er einen eigenen Film machen; den «Regisseur» gibt es nicht, weil es keine Produzenten gibt, die einen Stoff oder ein Drehbuch ihrer Wahl «verfilmen» wollen. Unsere Filmförderung ist zudem eine Autorenförderung, einen Herstellungsbeitrag bekommt man auf ein Originaldrehbuch hin. Simon Edelstein und Igaal Niddam sind (oder waren) Kameraleute des welschen Fernsehens, Fidelstein zudem der Verwirklicher von Michel Soutters Visionen. Niddam hatte, bevor er seinen ersten langen Spielfilm in Angriff nahm, ein paar Kurzfilme (darunter den hübschen La maison dans les vignes) vorzuweisen. Ungefähr gleichzeitig wollten sie ihre ersten langen Spielfilme drehen. Edelstein fand einen Produzenten (Citel-Films), Niddam fand Techniker und Schauspieler, die ihr ganzes Salär investierten, arbeitete also ähnlich wie einige Deutschschweizer Kollegen. Beide — und das scheint mir ziemlich wichtig — fanden im Fernsehen keinen Partner, weil sie ja keine Autoren, sondern Kameraleute gewesen waren. Offenbar wird man (im Verständnis der TV) als Autor geboren, oder eben nicht.
Simon Edelsteins Les vilaines manières (uraufgeführt am Festival von Locarno, 1973) wurde meines Erachtens zu oft und zu ausschliesslich mit den Filmen Michel Soutters verglichen, und zwar mit den jüngeren. Zunächst wäre festzuhalten, dass Les vilaines manières eher mit La lune avec les dents zu vergleichen wäre als mit Les Arpenteurs, sodann, dass auch dieser Vergleich den Zugang zu Edelsteins persönlichem Pessimismus eher verstellt als öffnet. Edelsteins Erstling ist wie viele andere auch unterartikuliert und überladen. Viele Nebenthemen — unter anderen das der gesellschaftlichen Bevorteilung der «Schönen» — bleiben Andeutungen; dramaturgisch sind Les vilaines manières unbefriedigend. Bemerkenswert die Qualität der Schauspielerführung. Jean-Luc Bideau, schwerfällig, fast dumpf wie nie zuvor, verkörpert falsche Kommunikation auf beklemmende Weise. Francine Racette (die Schöne) und Claire Dominique (die Unscheinbare) sind klar, ohne demonstrativ zu agieren. Les vilaines manières sind eine beachtliche Talentprobe; in den nächsten Film Edelsteins — eine Geschichte von zwei Freunden, die sich gesellschaftlich verschieden entwickeln und sich deshalb auseinanderleben — darf man einige Erwartungen setzen.
Auch Niddams Erstling, Le 3e cri, ist bis fast zum Platzen vollgepackt: ein Science-Fiction-Film ohne Science Fiction. Zehn Personen werden in einem Atomunterstand von einem Atomschlag überrascht und von einem Moment auf den anderen ganz auf sich selbst gestellt: ein «Huis clos» (fast) ohne Metaphysik; im Mikrokosmos des Bunkers kommen heutige, alltägliche Konflikte zum Austrag. Nicht nur, weil der Film in einem bestehenden Unterstand des Zivilschutzes gedreht worden ist, sondern weil kaum ein Konflikt hypothetisch ist, geht der Film nahe. Niddam beschreibt über den Umweg einer hypothetischen dramatischen Situation heutige, reale Möglichkeiten, Krisen, Optionen. Die Tragweite einzelner Konflikte wird mit leisen Stilisierungen angedeutet. Dieser Film, der unbestritten auch spektakuläre Eigenschaften hat, soll noch dieses Jahr in die Kinos kommen. Niddam hat Farbe, Effekte, Romanhaftigkeit — auch eine gewisse Oberflächlichkeit — eingesetzt, um zu gewinnen.
msch.