BEATRICE LEUTHOLD

DER SCHWEIZER DOKUMENTARFILM — VOM TRAKTAT ZUM ESSAY

CH-FENSTER

Spätestens an den letzten Solothurner Filmtagen wurde es jedem Filminteressierten klar, dass in der deutschen Schweiz eine Gewichtsverlagerung zugunsten des Spielfilms stattgefunden hat. Die Deutschschweizer Filmemacher scheinen den Westschweizer Kollegen die Qualifikation streitig machen zu wollen, als einzige Spielfilme produzieren zu können. Der Trend zum Spielfilm hat sich manifestiert, aber eine Schwächung des Dokumentarfilms ist keineswegs eingetreten, im Gegenteil. Der Schweizer Filmkritiker, immer latent in der Gefahr, etwas chauvinistisch zu sein und für die Filme seiner Landsgenossen einen speziellen Masstab anzuwenden, hat in Solothurn mindestens einen Dokumentarfilm gesehen, ich meine Yves Yersins Heimposamenter, bei dem diese Gefahr nicht besteht.

Die neuen Dokumentarfilme eröffnen in vielerlei Hinsicht neue Dimensionen, beschreiten breitere Wege. Sie zeugen von arbeits- und zeitintensiven, mit wissenschaftlichem Eifer und Akribie geleisteten Recherchen. Die Zeiten, da Dokumentarfilme auf einzelne Themen hin in kurzer Zeit abgekurbelt, da Menschen zwecks Beweisführung missbraucht und an ein besserwissendes Insiderpublikum verraten wurden, scheinen eindeutig überlebt. Unklarheiten, wie sie etwa in Kurt Gloors Landschaftsgärtner in Bezug auf die gezeigten Behausungen vorkamen, waren es Dauerwohnungen oder Alpunterkünfte für wenige Wochen?, so unwesentlich sie dem von der Ausgangsthese überzeugten Betrachter sind, gibt es kaum mehr. Auch mit flüchtig zusammengestellten Fernsehreportagen haben die neuen Filme nichts mehr gemein.

Das Bild tritt zu Kommentar, Zitat oder Aussagen von Interviewten in ein dialektisches Verhältnis. Bilder sind nicht mehr zur Rechtfertigung der Theorie aufgepfropfte Ornamente, die im Betrachter vage Gefühle wecken und ihn für jede Art von Manipulation gefügig machen. Kurz, der Kommentar herrscht nicht mehr über das Bild vor. Im besten Fall wird der Kommentar überhaupt überflüssig, so in den Heimposamentern, in June Kovachs Wer einmal lügt oder Viktor und die Erziehung; in Roman Hollensteins Freut euch des Lebens wären auch die sehr spärlichen kommentierenden Inserts zum unmittelbaren Verständnis des Films nicht nötig.

Die paradoxe Situation, dass meist intellektuelle Filmemacher die Massen über ihre wahren Bedürfnisse aufklären wollen und das in bester Absicht, selbst aber herkunftsmässig und umständehalber kaum in dieser Basis verwurzelt sind, wird aufgehoben durch eine Haltung, die diese Basis voll akzeptiert und ihr das Vertrauen schenkt, ihre Bedürfnisse vor der Kamera weitgehend selbst artikulieren zu können. In dieser Richtung arbeitete bereits Dindo in Naive Maler in der Ostschweiz oder in der Bundesrepublik Deutschland Erika Runge, die in ihrem Film Warum ist Frau B. so glücklich? (1967) eine Arbeiterin ihre Situation selbst reflektieren liess.

Die neuen Dokumentarfilme vertreten nun aber keineswegs einen «wertfreien», pseudo-objektiven Standpunkt. Die Stellungnahme erfolgt klar durch die Selbstdarstellung und das Selbstverständnis der gezeigten Menschen und der mit ihnen verbundenen Tätigkeiten, Beziehungen, Umgebung. Der Betrachter hört und sieht sich aufgerufen, hellhörig und hellsehend zu sein. Das alte, wunderschön polierte Holz der Webstühle in Heimposamenter ist und erzählt Geschichte. Das lange Ausleuchten des «wissenschaftlichen» Instrumenten-Kabinetts in der Wohnung des epileptischen Gärtners bei Hollenstein, spricht eindrücklich von den verzweifelten Anpassungsversuchen eines zum Aussenseiter gestempelten Menschen.

Überholt scheinen auch Dokumentarfilme zu sein, die Missstände anprangern, ohne historische Zusammenhänge aufzuzeigen, die lediglich Folgen bekämpfen, ohne deren Ursachen klar aufzudecken, die in reiner Symptomkritik stecken bleiben. Die neuen Filme entwickeln historische Dimensionen, zeigen Zusammenhänge auf, treten auf sozio-ökonomische, klassenbedingte Faktoren ein. Es gelingt ihnen auch bereits ansatzweise, wie die Spielfilme aus dem Ghetto privater und halbprivater Vorführungen herauszukommen, nicht weil sie irgendwelche Konzessionen machen an einen Publikumsgeschmack, den es nie gegeben hat, vielmehr weil Interviewte nicht mehr in einer Examenssituation gezeigt werden, sozusagen im Rattenexperiment. Menschen (fast) wie du und ich haben durch Filmarbeit die Möglichkeit erhalten, ihre Schwierigkeiten zu kommunizieren. Natürlich bleibt der Status quo wichtig, aber im Vordergrund steht die Frage: warum ist die Entwicklung in diesen und nicht andern Bahnen verlaufen? Dabei bleibt die Antwort weitgehend der aktiven Betrachterarbeit überlassen.

Aus den Mosaiksteinen verschiedenster Aussagen kann sich der Betrachter bei June Kovach ein Bild machen über zwanzig Jahre einer glücklosen Kindheit und Jugend. Grundmuster bildet die Erzählung Viktors, den der Betrachter als Erwachsener nie zu Gesicht bekommt. Oberflächliche Sympathien oder Antipathien werden dadurch ausgeschieden. Viktor wird nicht zum Fall hochgespielt, er spricht für Hunderte in ähnlicher Lebenslage. In Richard Dindos leider etwas zu lange geratenem und stellenweise noch zu wenig präzisem Film Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg steht nach zahlreichen Interviews mit Menschen, die den Mut hatten, ihr Engagement nicht nur verbal, sondern mit Taten unter Beweis zu stellen, die unausgesprochene Frage nach dem Weg, ein ähnliches Engagement heute zu finden. Ein im heilen helvetischen Geschichtsunterricht praktisch totgeschwiegenes Thema wird endlich an die Oberfläche gespült. Die Konfrontation mit den heute noch lebenden Spanienfahrern, mit einer der heiligen Kuh Neutralität entgegengesetzten Aktivität, mit einer so unschweizerischen Mentalität müsste weit-herum als Schock wirken. Der Auftakt zur historischen Gegeninformation, die ja Peter von Gunten in seinem Spielfilm Die Auslieferung ebenfalls zu geben versucht, hat stattgefunden.

Das konsequenteste Werk in dieser Richtung ist wiederum der Film Die letzten Heimposamenter. Yersin und sein Team haben vorerst im Auftrag des Volkskundemuseunis Basel einen herkömmlichen, in seiner Art perfekten 40-minütigen Dokumentarfilm geschaffen, in dem die Posamenterin (Bändelweberin) Emmi minutiös die Technik des Bändel-machens erklärt. Sie fühlten sich darüber hinaus verpflichtet zu zeigen, dass Arbeit und Technik nicht getrennt von ihrem sozialen und ökonomischen Hintergrund dargestellt werden können. Die gleiche Emmi erzählt im zweistündigen Heimposamenter-Film all das, was neben dem Funktionieren der Rädchen nicht funktioniert. Anhand der Geschichte der Heimposamenter durchgeht der Betrachter alle Stationen der Industrialisierung Europas: der Übergang von der Landwirtschaft zur ersten Stufe der Industrialisierung, der Schritt von der zweiten Industrialisierung mit grösstenteils automatischer Fabrikation in Fabrikhallen bis zur totalen Automatisierung. Zu Beginn hören wir von den Grosseltern und ihren handbetriebenen Webstühlen in der besten Stube, am Schluss sehen wir spanische Arbeiterinnen wie Ameisen auf den riesigen vollautomatischen Webmaschinen herumsteigen. Alle im Zuge dieser Entwicklung entstandenen Probleme sind angesprochen und treten im Zusammenhang mit den Heimarbeitern zutage: das Heranziehen des verarmenden Bauernstandes als neues, billiges Arbeitspotential; die zur Reproduktion von Arbeitskräften degradierte Familie; die mit Sonderbestimmungen verschärfte Abhängigkeit des Arbeiters vom Arbeitgeber; der Missbrauch von Investitionen der öffentlichen Hand durch das Kapital (die von den Gemeinden eingeführte Elektrizität verhalf den «Herren» zu grossen Gewinnen); die Hierarchie in der Betriebsstruktur; die strenge Unterteilung in Kopf- und Handarbeit; der immer tiefer werdende Graben zwischen Stadt und Land.

Den Heimarbeiter verbindet eine seltsame Hassliebe mit seinem Webstuhl. Er könnte sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen, auch empfindet er seine Arbeit nicht als entfremdete Tätigkeit, obwohl er keine Ahnung hat, was weiter mit seinen Bändeln geschieht. Montiert wurde der Film dialektisch, Aussage steht oft gegen Aussage. Klar kommt zum Ausdruck, dass die Bändelmacher sich nicht für dumm verkaufen lassen und ihre Rechte und Bedürfnisse sehr viel besser kennen, als die «Herren» annehmen. Sie wissen auch, dass sie wenig Möglichkeiten haben, ihre Forderungen durchzusetzen, da sie als Heimarbeiter isoliert arbeiten und auch das Streikrecht nicht anwenden könnten.

Zwischen die Aussagen hat Yersin Bilder und alltägliche Szenen aus Arbeitsstube und Fabrik eingestreut, um das wiederzugeben, was er «Ambiance» nennt, das Stimmungsklima. Die Kamera streift immer wieder den Webstuhl, streift über den Hof und die Dorfstrasse, schliesslich über die sanfte Landschaft, in der Menschen bis zum letzten Atemzug demütig und unterwürfig für ein Nichts gearbeitet haben. Die «Ambiance-»-Bilder geben dem Betrachter Zeit, das Gehörte zu überdenken. Sie vermitteln dem Film Dichte und Wärme, die Aussagekraft der Rahmenbedingungen wird erhöht. Und sie verraten die Liebe der Filmemacher zu diesem Projekt, zu den darin vorkommenden Menschen, zur Landschaft.

Die Dokumentaristen des letzten Jahres verstehen und analysieren die sozialen Probleme und ihre Erscheinungsformen nicht nur, es ist ihnen erstmals gelungen, sie ästhetisch zu bewältigen, ohne irgendeinem Formalismus zu verfallen. Der Dokumentarfilm ist nicht unpolitisch geworden, er hat sich vom Traktat zum Essay durchgemausert. Es scheint, dass diese Filme keine Zufallstreffer sind, sondern dass der Schweizer Dokumentarfilm seinen eigenen Weg zur Filmsprache gefunden hat.

Die letzten Heimposamenter. Premiere: Solothurner Filmtage 1974. Produktion: Nemo Film, Zürich. Buch: Edouard Winiger und Yves Yersin. Regie und Schnitt: Yves Yersin. Kamera: Edouard Winiger und Otmar Schmid. Ton: Roger Tanner. Verleih: Film-pool. 16 mm. 105 Minuten. Farbe und schwarz/weiss.

Freut euch des Lebens. Premiere: Dezember 1973, Zürich. Produktion: Roman Hollenstein, EDI. Buch und Regie: Roman Hollenstein. Kamera: Otmar Schmid. Ton: Robert Boner. Schnitt; Georg Janett. Darsteller: Walter H., Kunsttischler; Reto «Mike» S., Heiminsasse; Hans Seh., Gärtner. Verleih: Film-pool. 16 mm. 930 Meter/82 Minuten. Farbe.

Wer einmal lügt oder Viktor und die Erziehung. Premiere: Solothurner Filmtage 1974. Produktion: Nemo Film,

Zürich. Buch: dune Kovach und Alexander J. Seiler. Idee, Regie und Schnitt: Jude Kovach. Verleih: Fiml-pobl. 16 mm. 840 Meter/73 Minuten. Farbe.

Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg. Premiere: Solothurner Filmtage 1974. Prpduktion, Bucl) und Schnitt: Richard Dindo. Kamera: Robert Gnant. Ton: Robert Boner. Verleih: Filrn-pool. 16 mm. 87 Minuten. Farbe.

LE DOCUMENTAIRE SUISSE: DU TRACT VERS L’ESSAI

Le tour d’horizon des nouveaux films documentaires suisses alémaniques, accompli par Béatrice Leuthold, fait apparaître les progrès réalisés par les cinéastes d’Outre-Sarine ainsi que les corrections qu’ils ont apportées à certaines de leurs fautes à l’époque de leurs débuts. Ainsi, la réalité est maintenant observée beaucoup plus systématiquement et avec une conscience aiguë du respect dû aux personnes interviewiés devant la caméra. L’on ne trouve plus guère le travail hâtif d’autrefois ni la tendance à ridiculiser les gens qui, au lieu d’être montrés par le biais du cinéaste, souvent se voient donnés l’occasion de se représenter eux-mêmes, de réfléchir eux-mêmes sur leur vie. Comme exemple majeur illustrant sa thèse, Béatrice Leuthold cite Die letzten Heimposamenter d’Yves Yersin.

Beatrice Leuthold
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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