MARTIN SCHAUB

ANNÄHERUNG UND ENTFERNUNG — RENOIR UND SEIN REALISMUSPROBLEM

ESSAY

Die Realismusdiskussion im Film ist, sofern sie überhaupt noch stattfindet, verwildert. Es empfiehlt sich, wenn man vom Realismus von Jean Renoirs Hauptwerken sprechen will, auf allgemeinste Kategorien zurückzusteigen.

Realismus ist keine Technik, sondern eine Philosophie, allenfalls eine Haltung. Der Realist wird spezifische aesthetische Formen (und Techniken) anwenden, um seine Philosophie oder seine Haltung umzusetzen. Sie müssen nicht unbedingt den Formen entsprechen, die man in oberflächlicher Weise «realistisch» nennt. Niemand wird bestreiten wollen, dass Eisenstein — als Marxist — ein Realist gewesen ist. Trotzdem haben viele Filmhistoriker bereits ihre Schwierigkeiten mit dem Grossaufnahme-Monokel des Schiffsarztes Smirnov der Potemkin, und wie erst mit Eisensteins Anordnung, die von den Matrosen gehisste Fahne auf allen Kopien rot zu kolorieren.

Realismus muss zuerst als Gegensatz zu Idealismus verstanden werden. Während der Idealismus von den Möglichkeiten des Menschen spricht, stellt Realismus die Bedingungen fest. Idealismus wird eher von der «Freiheit» des Menschen reden, Realismus von seiner Unfreiheit. Der idealistische Täter verwirklicht einen reinen inneren Entschluss, der realistische wird von den Umständen — von dem, was um ihn herum steht im weitesten Sinne — in seine Tat gestossen.

Der realistische Künstler wird also eher die Bedingungen — oder die Umstände — zu nennen versuchen als die «innere Stimme» seiner Helden. Mehr noch: «Helden» wird es gar nicht mehr geben, nur Geschobene. «Du meinst zu schieben, und du wirst geschoben» (Goethe).

Ein realistischer Filmregisseur wäre jener, der in seinen Bildern dauernd Beziehungen der handelnden Personen und/ oder der sich ändernden Dinge zu den Umständen sinnfällig und einsichtig werden lässt, der den Zuschauer in ein Netz von Haupt- und Nebeninformationen (Denotationen und Konnotationen)) einbezieht.

Der Realist glaubt an Ursachen und Wirkungen. Der Idealist ordnet die Welt nach seinem Kopf (a priori). Der Realist ordnet seinen Kopf nach der Welt. Ist Jean Renoir ein Realist?

Film Als Traum

Mit Ausnahme von Nana (1926) spielen Renoirs erste Filme in einer Traum- und Gegenwelt. Der junge Regisseur scheint gerade an der Aufhebung der Gesetze von Ursache und Wirkung Gefallen zu finden, an einem sich selbst genügenden Formalismus. Film ist die Welt des freien Entwurfs, ein eben gewonnener Freiraum, ein bewegliches Vehikel der Phantasie.

Renoirs erster Film, La Fille de l’Eau (1924), ist ein wirklichkeitsfernes Melodrama, die erbauliche Geschichte des Mädchens Virginia (!). Es kommt vom Wasser, das heisst von einem Boot, das aber von dem bösen Onkel verkauft wird, und es muss aufs Land, unten durch natürlich; ausgenützt wird es und betrogen von bösen Menschen; zum Glück tritt der reiche junge Mann, der Virginia liebt und den sie so enttäuscht hat, gerade dazu, als sie von ihrem Onkel zum letzten Mal zum Bösen genötigt wird; so ist endlich die Befreiung möglich.

Verschiedentlich sind sogar in diesem Märchenfilm bereits Spuren von «Realismus» festgestellt worden. Jean Bazin macht aufmerksam auf die Baum- und Wasserbilder, auf die Feuersbrunst, die aufgebrachten Gesichter der Dörfler usf.. Es sind naturalistische Details in einem Film, in dem die Wirklichkeit keine Rolle spielt. Renoir liegt in diesem ersten Film nichts an Begründungen. Der Onkel und die Dörfler sind nicht böse, weil sie arm sind, und Monsieur Raynal nicht gut, weil er es sich leisten kann. Film ist hier Traum. Immerhin lässt sich in La Fille de l’Eau bemerken, wo Renoir die Tür in die Wirklichkeit finden wird: ausserhalb des Studios, am Wasser, bei den Bäumen.

Eine vergleichende Analyse von Zolas und Renoirs Nana würde genauer zeigen, wo und weshalb bei der Filmfassung Wirklichkeitsverlust eintritt. Während Zola eine Geschichte beschreibt, konstruiert Renoir eine Fabel von Aufstieg und Fall.

Doch auch hier: naturalistische Details, das Pferderennen beispielsweise, für welches Renoir inszenierte und dokumentarische Szenen verwendet. Wesentlicher allerdings erscheinen mir andere Brüche, Ansätze einer Beziehungs-Kunst, die erst später zum Durchbruch kommen wird.

Ich meine etwa die eigenartigen Grossaufnahmen, die sich z. B. von den damals in Deutschland, in Skandinavien und auch in Amerika praktizierten unterschieden. Wenn ein expressionistischer deutscher Regisseur ein Gesicht in Grossaufnahme vor die Kamera zieht, isoliert er es völlig aus dem dramatischen Kontext. Das Gesicht allein hat alle Gefühle auszudrücken; es muss aus sich selbst heraus die ganze dramatische Situation artikulieren. Wenn Renoir ein Gesicht isoliert, vergisst er den Zusammenhang, vor allem die Geographie des Ortes nicht. Ich nehme an, er hat die Mitspieler nicht vom Plateau gewiesen, als er eine Grossaufnahme drehte.

Nach dem Misserfolg der kleinen Schauspielerin Nana (Catherine Hessling) in einer grossen Rolle, machen sich ihr Mäzen und Verehrer Vandoeuvres (Jean Angelo) und sein Neffe auf zu ihrer Garderobe. Renoir lässt sie durch lange Gänge in die Tiefe gehen und nagelt sie dann vor einer Wand fest. Nana, verzweifelt, lässt sich von Vandoeuvres nicht beruhigen; dieser verständigt sich mit seinem Neffen mit Blicken. Und eben jetzt, wenn mit Gesten und Blicken im Dreieck «gesprochen» wird, fasst Renoirs Kamera die Gesichter einzeln ins Bild. Die Kamera tritt als vierte Person dazu. Aber nie spricht ein Gesicht nur zu dieser vierten Person; immer bleibt es mit den ersten zwei in Verbindung. Herausgelöst aus dem Kontext, müssten diese Grossaufnahmen lächerlich wirken, schielen doch alle «aus dem Bild».

Es mag ineffizient erscheinen, wenn gerade in dem Film, der am nächsten beim deutschen Expressionismus steht, diese Abgrenzung durchgeführt wird. Mir scheint sie eben gerade da am interessantesten, wo sich Renoirs aufkeimende Beziehungskunst gegen den im letzten monologischen Expressionismus behauptet, gegen jenes «Kunstwollen, das Gehalte ohne Gegenstand geben zu können meinte» (Siegfried Kracauer).

Die einmal begonnene Abgrenzung sollte mit dem Aufkommen des Tonfilms deutlicher werden. Im Gegensatz zu den Expressionisten und Puristen (Clair) begrüsste Renoir den Tonfilm.

Realer Ton um jeden Preis

Leider kenne ich Renoirs ersten Tonfilm, On Purge Bébé (1931), nicht, habe also auch nicht jene sensationnelle Wasserspülung im Ohr, die die Zeitgenossen so beschäftigte.

On Purge Bébé war eine Art Probelauf für La Chienne und wurde in einer Woche gedreht; das echte Geräusch der echten Studiotoilette tat seinen Effekt. Renoir, der alles andere als ein «sicherer» Regisseur war, durfte La Chienne machen.

La Chienne: das ist der Beginn der realistischen Periode in Renoirs Werk, seiner besten. Sie endete mit der Übersiedlung Renoirs nach Hollywood. Oder: sie endete im

Krieg.

«Ich musste auch seine Umwelt darstellen, um zu zeigen, dass dieser Mann zum Mörder wurde, weil seine Umgebung ungeniessbar war, und dass man bei einer solchen Umgebung zwangsläufig zum Mörder wird» (Renoir in einer ORTF-Sendung, Cineastes de notre temps, 1967). Ein Realist reagiert auf seine Gegenwart, und Frankreich zu Beginn der 30er Jahre das ist vor allem der Zusammenbruch der bürgerlichen Klasse, das ist die Krise, das ist der zermürbende Kampf der äussersten Linken gegen die herrschende Klasse. Jean Vigo hatte eben «A propos de Nice» fertiggestellt, und selbst Rene Clair, ein «a-politischer» Regisseur, reflektiert die grosse Krise, in der der Faschismus geboren wird, in «A nous la Liberté».

Renoirs realistische Methode hätte ihn beinahe alles gekostet, denn der Produzent, der eine Art Musical erwartet hatte, stellte ihn vor die Türe; Paul Fejos sollte die Montage von La Chienne besorgen. Und als sich Renoir doch noch durchgesetzt hatte, war ein Teil des Originaltons bereits verschwunden. La Chienne ist wahrscheinlich der erste Film überhaupt, der Originalton in Aussenaufnahmen verwendete. Renoir wollte in echten Strassen drehen, mit echtem Ton, mit echten Einwohnern des Montmartre-Quartiers, und dafür nahm er schlechte Tonqualität in Kauf. Wie aussergewöhnlich ein solches Vorgehen war, zeigt die Tatsache, dass der Cutter, der in Renoirs Abwesenheit das Material bearbeitete, den Realton von der Strasse in der Schlüsselszene automatisch wegwarf und den Studioton (des Interieurs) durchzog. Man kann von der technischen Seite herkommen oder von der Anlage der Erzählung, und die Schlüsse bleiben sich gleich. Renoir setzt sich entschieden vom deutschen Expressionismus und vom Kammerspiel ab. Er geht auf die Strasse; er operiert mit dem Alltäglichen. Er kommt vom «vertikalen» auf den «horizontalen» Film, das heisst: In La Chienne wird nicht — wie eigentlich noch in Nana — eine Geschichte verhältnismässig willkürlich an ihr schlimmes Ende geführt, sondern in jedem Moment auch das Umstehende einbezogen. Renoir schaut durch seine Figuren hindurch auf die Umstände. Die theoretische Diskussion über die aesthetische Bedeutung der Tiefenschärfe könnte schon bei La Chienne beginnen. Hier fällt nicht ein Konflikt sozusagen im luftleeren Raum und im freien Fall seiner Katastrophe zu. Eine genau beobachtete Welt schiebt Figuren in ihr Unheil.

Ein Jahr nach der Uraufführung von La Chienne schreibt Siegfried Kracauer in der Frankfurter Zeitung:

Der Film ist ein gutes Beispiel für jenen Realismus, den der Film im allgemeinen und der deutsche Film im Besonderen offenbar nicht aufzubringen wagt. Im Gegenteil! Der Film verleugnet bei uns, wie man weiss, die Wirklichkeit, wo er kann, und er ergeht sich lieber in den ausschweifendsten Illusionen, als dass er das Leben richtig widerzuspiegeln versuchte. Und doch gäbe es keine entscheidendere Aufgabe als die Schärfung des Blicks für die Realität. Unter seiner Stumpfheit haben wir, nicht zuletzt in politischer Hinsicht, viel und unnötig zu leiden gehabt.

Boudu, Toni, Monsieur Lange

Es soll hier nicht der untaugliche Versuch unternommen werden, aus Renoir einen konsequenten und das heisst bewussten Realisten zu machen. Renoir ist ein realistisches Temperament, ein naiver Realist, wenn man will. Nur ein naiver Realist schwört in der zweiten Lebenshälfte dem Realismus ab, wie es Renoir getan hat.

Eine deutliche Warnung, Renoir in ein Realismussystem zu zwingen, ist Boudu sauvé des Eaux (1932). Es gibt gar keinen Zweifel, dass sich Renoir in diesem Film mit dem anarchistischen Clochard, der plötzlich in eine zwar ein bisschen verrottete, aber deswegen nicht weniger bürgerliche Familie einbricht, der in Balzacs «Physiologie der Ehe» spuckt, der die Hausherrin mit seiner Sexualität unterwirft, dann das Dienstmädchen heiratet und noch am Hochzeitstag seine Gönner verlässt und in ihrem eigenen Fett schmoren lässt, es gibt keinen Zweifel, dass sich Renoir mit Boudu solidarisiert. Seine eigene Revolte ist in diesem Moment seines Lebens nicht weniger instinktiv und im Grunde nicht weniger zerstörerisch als diejenige des a-moralischen Clochards. Bis zu den Hauptwerken ist noch ein gewisser Weg zurückzulegen; Renoir geht ihn zusammen mit dem «Groupe Octobre», einem Kreis von linken Intellektuellen, unter ihnen Pierre und Jacques Prevert.

«Toni gehört Renoir, Lange geht darüber hinaus», schreibt das Autorenkollektiv Borde-Schoendorff-Chardere (in Premier plan, 22-23-24). Im Vorspann, meinen die drei Kritiker, die dem PCF nahestehen, müsste es sogar heissen: «ein Film des Groupe Octobre, mit der technischen Assistenz von Jean Renoir».

Ich habe nie an ein bewusstes politisches Engagement Renoirs in der Volksfront geglaubt, ich glaube an den Enthusiasmus Renoirs, an seine Vitalität (sein realistisches Temperament). Le Crime de Monsieur Lange (1935), La Vie est à nous (1936) und La Marseillaise (1936) liegen etwas abseits von Renoirs eigenem Weg. Und doch wird man die Linie nicht einfach an ihnen vorbeiziehen können, von Toni (1934) über Partie de Campagne (1936), Les Bas-Fonds (1936), La Grande Illusion (1937) zu La Bête humaine (1938), dem Werk, das Renoirs realistischen Stil vielleicht am reinsten vermittelt.

Kommen wir zurück auf Toni. Der Stoff dieses Films, der unter italienischen, spanischen und belgischen Fremdarbeitern im französischen Midi spielt, stammt aus der Polizeichronik; Renoir arbeitete mit Laien; die Aussen- und die Innenaufnahmen wurden an Originalschauplätzen gedreht; die Inszenierung weist — auch in ihren Fehlern — auf Improvisation hin. Toni ist wiederholt als Urahn des italienischen Neorealismus genannt worden; man weiss, dass Luchino Visconti, der zwei Jahre später Renoirs dritter Regieassistent sein wird (in Partie de Campagne) diesen Film bewunderte.

Eine Abgrenzung gegen den Naturalismus wird fällig. Die oben aufgeführten Koordinaten von Toni könnten auf einen naturalistischen Film hinweisen. Naturalismus wäre die Abschilderung von Wirklichkeit, eine Abschilderung ohne Überbau (ohne Geist, wenn man will). Realismus und Naturalismus unterscheiden sich durch Präsenz und Absenz von Interpretation. Realismus ist aufgeklärter und aufklärerischer Naturalismus. Nun ist Renoir kein Ideologe; Toni ist nicht die Illustration einer (realistischen) These; Toni ist zunächst einmal naturalistisches Melodram. Doch: die umfassende Milieuzeichnung, der Durchblick, den alle Figuren auf eine gesellschaftliche Realität zulassen, heben Toni aus dem flachen Naturalismus heraus. Die Welt von Toni ist eine reale Welt, neben dem Drama scheinen eine Gesellschaft und eine Natur auf, die Dramen wie das von Renoir aufgegriffene produzieren. Renoir zeigt, wie es kerne «freien Entschlüsse» gibt, nur Zwänge.

La Bête humaine — Bestie Mensch

Titel und Stoff des zweitletzten Renoir-Films vor der Emigration stammen von Emile Zola; das Thema ist Renoirs Thema, die «condition humaine». Die Bedingungen menschlichen Lebens können derart erdrückend werden, dass sich der Mensch nur noch mit bestialischer Gewalt dagegenstemmen kann. Das Allerhöchste, was der Mensch überhaupt zustandebringen kann, ist ein empfindliches Gleichgewicht.

Auffällig, wie viele Morde in Renoirs Werk nicht nur geschildert, sondern auch begründet werden, auffällig, wie wenig all diese Morde praemeditiert sind. Ebenso auffällig, wie die Mörder — nicht nur der Mörder aus sozialen Gründen in Le Crime de Monsieur Lange — dem Zuschauer nahegehen. Renoir billigt ihnen nicht nur «verminderte Zurechnungsfähigkeit» zu; er stellt sie dar als Opfer, als ohnmächtige Vollstrecker eines Schicksals, das einen Namen hat. Das (veränderbare) Schicksal ist die bürgerliche französische Gesellschaft, der Kapitalismus, der kapitalistische Krieg.

Mesdames, Messieurs, / excusez notre indiscrétion, / mais nous sommes des gens curieux / qui cherchons une explication. / La France est un pays riche / où Von trouve de tout à joison. / Mais le pauvre en guise de miche / doit se contenter de crouton.

So beginnt das Lied aus La Vie est à nous; «wer treibt die jungen Leute zum Selbstmord und die Frauen zur Abtreibung» heisst es später, und zum Schluss: «Frankreich gehört nicht den Franzosen, denn es gehört 200 Familien. Frankreich gehört den Franzosen nicht.» Nie ist Renoir in seinen eigenen Werken so aggressiv gewesen, nie so systematisch; dennoch umschreibt das Lied die Fragen dieses Regisseurs, der kein Bücherwurm war, dafür aber das Volk kannte in einem Masse, das heute gar nicht mehr möglich ist.

Wer heute Renoirfilme der dreissiger Jahre sieht, fragt sich, wie überhaupt ein Mensch allein zu einer solchen Lebenserfahrung kommen kann, wie einer jede Einstellung derart randvoll mit Leben, mit gelebter Wirklichkeit füllen kann. Mehr als die Reflexion haben Wahrnehmung und Beobachtung — das photographische Gedächtnis eines sensiblen Mannes — Renoirs Filme geprägt. Renoirs Realismus nährt sich aus der intimen Kenntnis und aus der Anteilnahme am Leben Frankreichs. Bevor er nach Amerika auswanderte, meinte Renoir scherzweise, dass ein französischer Künstler nur schaffen könne, wenn Rotwein und ein Stück Brie immer in Griffnähe lägen.

Partie de Campagne, obwohl «unvollendet», scheint mir der wichtigere Film zu sein als Les Bas-Fonds, dieser Zwitter, nicht ganz Gorki-Verfilmung und nicht ganz Beschreibung eines spezifischen französischen Anarchismus. In Partie de Campagne fehlt nichts; auch ohne die Beschreibung des Alltags der Pariser Ladenbesitzerfamilie weiss der Zuschauer genau, wer diese Leute sind; selbst die beiden Feriengäste, die dann Mutter und Tochter verführen, stehen mit einemmale als ganze Personen da; die Karikatur des Commis rundet dieses Bild grossstätischer Verkümmerung ab. Wenn Henri Henriette küsst, bricht die ganze Tristesse in Tränen aus einem Gesicht, das Unterdrückung und Gehorsam mit Sonntagslaune maskiert hatte. Die Natur — Wasser, Wolken, Bäume — gibt einen fast vorwurfsvollen Hintergrund eines Monuments bürgerlicher Leiden und Lügen ab. Renoir braucht gar nicht mehr als vierzig Minuten, um die Bestie Mensch zu entlarven.

Der Höhepunkt von Renoirs französischem Realismus ist La Bête humaine; hier wird der Zwang, die Unfreiheit physisch spürbar. Lantier, die Hauptfigur des Films, habe ihn ebenso interessiert wie Oedipus, sagte Renoir 1938. La Bête humaine ist eine realistische Tragödie. Renoir lässt keinen Notausgang offen, aus dem sich der Zuschauer davonstehlen könnte. Jede Einstellung ist ein Gewicht mehr, das die Personen des Films in die Katastrophe zieht. Wer heute an der Ernsthaftigkeit, an der fast nihilistischen Gewalt dieses Films zweifelt, sollte sich erinnern, mit welcher Vehemenz er damals von der französischen Rechten bekämpft worden ist. Rechtsstehende Bürgermeister haben La Bête humaine verboten, obwohl der Film das nationale Visa de censure hatte (allerdings erst nach einem empfindlichen Schnitt; wie Severine stirbt, durfte der Zuschauer nicht wissen). La Bête humaine bringt den Renoirschen Realismus auf die Formel.

Renoir ist kein Realist, weil er Dinge auf realistische Weise darstellt, sondern weil er in seinen Filmen Wirklichkeit spiegelt und zu interpretieren versucht hat. In dieser Beziehung unterscheidet er sich wesentlich von den zur gleichen Zeit arbeitenden französischen Regisseuren wie Duvivier, Carné, Chenal oder Allégret. Renoir geht von einer Realität aus und versucht sie zu erklären. Und diese Erklärung ist im wesentlichen eine deterministische. Renoirs Determinismus kulminiert in La Bête humaine in der Gleichung Mensch = Maschine.

Die Bilanz: La Grande Illusion, La Règle du Jeu

La Grande Illusion, der Film, der so oft so falsch verstanden worden ist — sogar im nationalsozialistischen Deutschland anerkannten Kritiker die «edle» Haltung des Regisseurs, kreideten ihm nur die zu sympathische Zeichnung eines Juden und die Beschäftigung des antideutschen Erich von Stroheim an —, zieht eine klare Bilanz. Renoir formuliert in diesem Film eine Idee, die er vorher immer wieder verfochten hatte, die «horizontale Gliederung der Menschheit» nämlich. Renoir führt die Handlung so, dass Aristokratie und Arbeiter (und Kleinbürger) sich trennen, dass die Aristokratie untergeht und die Arbeiterschaft überlebt. (Um das zu betonen, fügt er zum Schluss auch noch die Liebesbeziehung zwischen Maréchal (Jean Gabin) und einer württembergischen Bäuerin an, mit einem Weihnachtsfest, das den Kitsch streift). Die «grosse Illusion» ist das Vaterland, der Geist der Kameradschaft, der die Klassengegensätze aufhebt. La Grande Illusion steht durchaus in Beziehung zu den Volksfrontfilmen, zu deren Realisierung Renoir beigetragen hatte, beispielsweise zu dem im gleichen Jahr entstandenen Fresko La Marseillaise.

In die Schwarzweissmalerei ist Renoir allerdings nie ausgewichen. Boieldieu (Pierre Fresnay) und Rauffenstein (Stroheim) sind keine Popanze, sondern Menschen, letzte Vertreter einer Klasse, die ausgespielt hat. Renoir treibt die Klassengegensätze nicht karikaturistisch heraus; bis zur Unmissverständlichkeit will er vielleicht gar nicht kommen. Denn: wäre die Welt unmissverständlich, würden sich die Unterdrückten wahrscheinlich nicht mehr unterdrücken lassen.

Ohne Missverständnis ist La Règle du Jeu, Renoirs Testament vor der grossen Katastrophe. «Es gibt in La Règle du Jeu nicht eine Person, die zu retten der Mühe wert wäre»5, sagte Renoir. Daran ist nicht herumzudeuteln. La Règle du Jeu zeigt eine Gesellschaft in der Auflösung, und diese Gesellschaft ist kein weltfernes Hirngespenst; es ist Frankreich (Europa) am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, das empfindlichste aller vorstellbaren Gleichgewichte. Die Spielregel dieser Gesellschaft ist die zynische Lüge, die Verkleidung; diese Welt ist dem Tode geweiht; ihre Menschen werden zusammengetrieben und abgeschossen werden wie die Hasen in der fast naturalistisch ausgemalten Treibjagt. Einer bricht die Spielregel, oder sind es am Ende zwei? Jurieu, der Flieger, und Octave (von Jean Renoir dargestellt), der sich seines Bärenfells (!) entledigt und vom Zuschauer und Arrangeur zur dramatis persona wird. Die anderen sind Marionetten, Automaten wie jene, die Robert de la Chesnaye sammelt.

Jurieu wird an Octaves Statt erschossen von dem eifersüchtigen Schumacher, der Christine für Lisette halten musste. Getötet wird der Unschuldigste von allen, der Noble, der wie ein Engel vom Himmel gekommene Flieger und Held. Durchbrochen aber hat Octave das Spiel, er hat die Spielregel verletzt, indem er sich ausserhalb der ihm gezogenen Bannmeile der Marionette stellte. Und durchbrochen hat damit Jean Renoir, der «auteur-acteur-spectateur» die Spielregel der klassischen Dramaturgie, in der es dem Spielleiter und Zuschauer nicht erlaubt ist, selber leben zu wollen (Peter W. Jansen in Filmkritik 3/68).

Ich möchte Werner Jehles Analyse von La Règle du Jeu in diesem Heft nicht vorgreifen; im Übrigen sind ja auch ganz verschiedene Annäherungen an diesen wichtigsten Film Renoirs möglich. So viel war im Zusammenhang mit Renoirs Realismuspraxis nötig: Zu zeigen, dass La Règle du Jeu nicht eins jener «allgemeingültigen und zeitlosen, klassischen» Kunstwerke ist, für das man den Film nach dem Krieg oft genommen hat. Das zeitgenössische Publikumbegriff richtig. Die Uraufführung am 7. Juli 1939 wurde ein Kinoskandal. Ein Zuschauer rief, man müsse Leute, die solche Filme machen, einfach erschiessen (Avant-Scène du Cinéma, Nr. 52); im Oktober verbot die Zensur den «demoralisierenden Film»; während der deutschen Besetzung war er auf der Schwarzen Liste, und nur dem Zufall und der Genauigkeit dreier Filmfreunde ist es zu danken, dass heute La Règle du Jeu überhaupt noch existiert.

Renoir hat 1939 den kritischen Punkt seines Realismus erreicht. Mit La Règle du Jeu geriet er von der Interpretation seiner Lebensbedingungen an den Rand der Aktion. Er ging nun allerdings nicht, wie viele seiner Freunde vom Groupe Octobre in die Resistance; er emigrierte über Italien und Portugal in die Vereinigten Staaten von Amerika, nach Hollywood genauer. Sein Realismus war dort nicht gefragt.

Amerika, Amerika

Die amerikanischen Filme Renoirs sind Werke eines Autors, der seinen Zenit überschritten hatte. Viele Filme, die er machen wollte, kamen nicht zustande. Und die zustande kamen, waren marginal. Als Filmautor war für ihn nicht viel zu holen. Er, der während der Dreharbeiten zu La Règle du Jeu gesagt hatte: «Die erste Generation des Films, das waren die Produzenten; die zweite war die der Realisatoren; jetzt erscheint die dritte, jene der Autoren», er passte nicht ins Hollywood-System. (Ich muss hier gleich noch präzisieren, dass ich The Southerner, 1945, nie gesehen habe, den besten Film der amerikanischen Periode, wie viele sagen.) Die anderen Filme sind die Arbeiten eines Entwurzelten, eines Realisten in einer unbegreiflichen Umwelt. (Der Rotwein, der Brie fehlten.) Diary of a Chamber-maid (1946) ist ein Unding. Renoir lässt Frankreich im Studio nachbauen, er war nie lebensferner.

Renoir lebt heute vornehmlich in den USA. Nicht der amerikanische Film hat es ihm angetan, sondern die Amerikaner, deren Pragmatismus und Naivität Renoir schätzt. Für ihn ist die Vitalität der Amerikaner zum Erlebnis geworden, ihre Weigerung, Probleme kompromisslos zu Ende zu denken. In Amerika, das für den Europaflüchtling (Europa, das hinter ihm in Trümmer geht) wie eine Erlösung gewirkt haben muss, entwickelt Renoir seine Philosophie des Akzeptierens, der Bescheidung, eine Philosophie, die im Lichte des Vorkriegswerks nur Resignation bedeuten kann. Renoir meint, sie sei Weisheit, neue Menschlichkeit, und er beginnt zu predigen. Er wird zum Mystiker von The River.

Altersträume

Ein Jahr lang hielt sich Renoir in Indien auf, um eine eher zweifelhafte literarische Vorlage in einen Film umzumünzen, der ein Vermächtnis sein sollte. Er wandte in Indien kein Auge von seinen Aprioris ab; die indische Realität interessierte ihn nicht; sie störte, lenkte bloss ab von einer Botschaft, die mit aller Deutlichkeit formuliert werden musste. The River erzählt die Geschichte einer englischen Kolonialistenfamilie, die sich zu bescheiden lernt. Alle lernen es, die Eltern so gut wie das Mädchen Harriet, vor allem aber der junge Amerikaner John, ein Kriegsversehrter am Rande der Verzweiflung. Melanie, die junge Inderin, wird ihm beibringen, dass er auf seine sterile Revolte zu verzichten hat, dass er die grosse universelle Liebe akzeptieren darf und die natürlichen Rhythmen; in der Bewunderung des Lebens soll er den Tod vergessen. Noch eine Lektion muss der Revoltierte annehmen, jene des weisen Mr. John: Man muss sich von den modernen Sorgen befreien und das Wesentliche suchen, sich dem sozialen Leben (in der Familie, im Volk) hingeben, der ewigen Liebe und dem ewigen Leben, der Natur; Kontemplation ist die Aufgabe des Menschen.

Wer die Kraft der Auflehnung in Renoirs Filmen der dreissiger Jahre kennt, begreift die fast fanatisch vorgetragene Lehre der Bescheidung, diese Einladung zu einer Art «unio mystica», kaum mehr. Renoir fordert jetzt nicht mehr soziale Gerechtigkeit und Frieden auf der Basis dieser Gerechtigkeit; er zeigt den Menschen auf der Suche nach Gnade. Nach dem grossen Sterben des Zweiten Weltkriegs predigt er das — notfalls geistlose — physische Leben. Die ruhigen Vitalen haben jetzt unbesehen den besseren Teil, die Unterlegenen tun gut daran, zu akzeptieren, damit sie in die Gnade der an sich gütigen Natur aufgenommen werden gönnen. Nicht mehr die Wirklichkeit ist der Gegenstand seiner Kunst, sondern die Wahrheit. Er zieht nicht mehr Schlüsse aus der Wirklichkeit — er beschwört die Wirklichkeit, sich den ewigen Lehren anzupassen. Die früher geübte Beziehungskunst kann beim Predigen nur stören.

Renoir gleicht ein wenig dem Karl Rossmann in Kafkas Amerika-Roman, der sich im x-ten Stockwerk eines New Yorker Wolkenkratzers ans Klavier setzt, um mit seiner Musik den Verkehr in den Strassenschluchten zu lenken.

In gewissen Filmen des alten Renoir ist die Abkehr vom Realismus fast total, in anderen bleibt er auf halbem Wege zwischen Realismus und mystischem Idealismus stehen.

Renoir ist ein «Weiser» geworden, und in seiner Arbeit manchmal sehr nachlässig. Ich begreife sehr wohl all jene französischen Kritiker, die sich von Le Déjeuner sur l’Herbe (1959), von Le Testament du Docteur Cordelier (ebenfalls 1959) beleidigen Hessen, die Elena et les Hommes (1956) hassten. Denn die Botschaften dieser Filme sind tatsächlich reaktionär. Im Dejeuner kommt ein Wissenschafter auf die Natur in Form eines verführerischen, rundlich-molligen Mädchens; in Elena wird «nachgewiesen», dass in Frankreich die Liebe allemal stärker ist als die Politik; im Cordelier schliesslich soll der Zuschauer lernen, dass man nie dem Schöpfer in den Arm fallen darf.

Ich begreife die harten Kritiker — beispielsweise Marcel Martin, der nach Elena schrieb: «Die Wahrheit ist, dass Renoir die Menschen nicht mehr liebt» — besser als die Leute der «Cahiers du Cinéma» (inklusive der luzide Andre Bazin), die bedenkenlos die «Himmelfahrt» des Patrons mitmachten und selbst in Filmen, die mit der linken Hand gefertigt waren, die Handschrift des Meisters bewunderten.

Doch nicht das wechselnde Verhältnis oder die unantastbare Hingabe von Kritikern zu Renoir soll ja hier beschrieben werden, sondern Renoirs Entfernung vom Realismus. Renoir verschwindet im Alter in jener animistischen Märchenwelt, aus der er anfangs der zwanziger Jahre gekommen war.

Sein Werk beschreibt eine Kurve: Lang ist der Anstieg zum realistischen Kunstwerk, die Eliminierung der A-Prioris braucht Zeit und Arbeit. Mit La Bête humaine und La Règle du Jeu erreicht er die Höhepunkte einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. In der Emigration vollzieht sich eine denkwürdige Wende. In The Southerner (den ich nicht kenne) scheint Renoir erstmals die Botschaft der Bescheidung anzutönen; allerdings handle es sich da um eine Bescheidung in Bitterkeit. Mit The River beginnen — und zwar auf einer Höhe, die Renoir später nie mehr erreichen sollte — die Beschwörungen der Wirklichkeit, sich doch am Wesentlichen (und das heisst am Ewigen) zu orientieren, beginnt also die Serie der idealistischen Filme.

Was diesen Filmen fehlt, ist eine gewisse Selbstironie. Sie taucht erst auf in Renoirs allerletztem Film, Le Roi d’Yvetot, der letzten Episode von Le petit Théâtre de Jean Renoir. Am Schluss von Le Roi d’Yvetot, wenn der alte Hahnrei einlenkt und nicht mehr auf Rache oder Vergeltung sinnt, wenn er lacht, fällt eine ganze Dorfgemeinschaft in sein Lachen ein. Das kleine letzte Werklein Jean Renoirs bezeichnet den Punkt, an dem ein «Weiser» wirklich weise geworden ist, ein sympathischer Alter, der seine Schwäche, das Predigen nämlich, zu guter Letzt auch noch überwunden hat.

APPROCHE ET ELOIGNEMENT: RENOIR REALISTE

Le réalisme n’est pas une technique cinématographique mais une philosophie ou une position. Le réalisme entraine des formes esthétiques, des techniques. Il faut définir le réalisme comme opposant de l’idéalisme. Tandis que l’idéalisme parle des possibilités, de la liberté des hommes, le réalisme met en évidence les conditions et les contraintes. Renoir, est-il un réaliste?

Ses premières oeuvres sont des rêves. Renoir semble justement apprécier la possibilité du cinéma de négliger le raisonnement causaliste; le cinéma est pour lui le royaume des fantasmes, de la fantaisie déchaînée. On remarque pourtant déjà des séquences naturalistes, particulièrement dans Nana où Renoir se distancie de l’expressionisme allemand qui néglige le contexte social et politique. La période réaliste de Renoir commence avec La Chienne, le film sonore et la volonté de démontrer la nécessité du drame. Renoir ne décrit pas les jeux de hasard mais bien la machinerie des conditionnements.

On ne peut pas distinguer l’apport de Renoir dans Le Crime de M. Lange, La Vie est à nous et La Marseillaise, mais on voit que la pensée de la gauche française du Front Populaire a approfondi le réalisme naïf et anarchique du Renoir de Boudu sauvé des Eaux. Il rend transparent le drame extrême de Toni et définit finalement son réalisme déterministe dans La Bête humaine.

Dans La Grande Illusion et surtout dans La Règle du Jeu, Renoir fait le bilan: la société européenne est une société de classe, et cette société est moribonde. Il arrive au point où il doit se décider pour la résistance ou pour l’émigration. Il choisit l’émigration.

A Hollywood, son style et sa position réalistes ne sont pas demandés. Pendant la guerre en Europe, Renoir développe une philosophie presque stoïciste qu’il exprimera dans The River. il révoque sa propre révolte et prêche un humanisme mystique à la mesure de ia Nature.

Son oeuvre française des années cinquante ne retrouve plus la pureté solennelle de The River; ses messages sont franchement rétrogrades... jusqu’au dernier film, Le Roi d’Yvetot, où Renoir trouve finalement une sagesse aimable, une ironie vis-à-vis de soi-même, (msch)

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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