HANS M. EICHENLAUB

ERNST S. ODER DIE LACKMUSPROBE — DIE ERSCHIESSUNG DES LANDESVERRÄTERS ERNST S. VON RICHARD DINDO UND NIKIAUS MEIENBERG

CH-FENSTER

Ernst S. ist kein Kuriosum. Er ist auch keine Antiquität. Er ist die Lackmusprobe: er zwingt die Gesellschaft, Farbe zu bekennen. Er macht Strukturen sichtbar.

(Niklaus Meienberg: Reportagen aus der Schweiz, S. 192).

In der Nacht auf den 10. November 1942 wurde Ernst S. als 23-jähriger Soldat irgendwo bei St. Gallen in einem Wald erschossen. Er war der erste von 17 Landesverrätern, die bis Kriegsende exekutiert worden sind. Ernst S. war ohne Zweifel ein Landesverräter. In landläufigen Kategorien gedacht, genügt diese Feststellung, um zur Tagesordnung überzugehen. Sie genügte etwas über 30 Jahre lang. Bis Niklaus Meienberg sich dieser Geschichte annahm und sich nicht damit begnügte zu fragen, was ist und was war, sondern weshalb etwas so ist und warum etwas so geworden ist. Bei dieser Art der Fragestellung traten dann Umstände zu Tage, die, wäre der Angeklagte ein anderer gewesen, vielleicht als mildernd hätten ins Gewicht fallen können.

Wer und wie war dieser Ernst S., der den Nazis einige Granaten und ungenaue Skizzen übergeben hat?

«... Wegen Landesverrat. Das ist ja gar nicht möglich, so lange er bei uns verkehrt hat, hat er sich gar nie mit Politik befasst, das ist mir unerklärlich.» (Otto S., der Bruder von Ernst.) «... Er war alleweil ein so labiler, man musste ihm nachschauen...» (Vormund Spreiter). «Er hatte einen günstigen Start in dem Sinne, dass gerade so Vorweihnachtszeit war, Adventszeit, und wir eben Weihnachtsspiele einübten, sangen und musizierten, und sich entpuppte, dass er Trompete spielen konnte, und das hat ihm selbstverständlich sofort eine gute Aufnahme bei den andern und einen guten Start gegeben, so dass er bei uns im Hause keine grossen Schwierigkeiten bereitete, viele Sympathien genoss, bei jung und alt, das muss man also sagen.» (Anstaltsleiter Widmer.) «Betreffs dem Ernst kann ich nur sagen, dass er politisch ein Stubenhocker war, dass er gar keinen Kontakt hatte zu Arbeiterschichten, die sich wehrten für ihren Lohn usw. und St. Gallen war schon immer eine rückständige Stadt in Sachen Arbeiterbewegung.» (Emil S., Bruder.) «... Er hat halt kolossal viel gegeben auf sein Äusseres, er war immer sauber angezogen, immer.» (Frau Lüthi, Ernsts Schlummermutter.) «Er war ein ganz ordentlicher Bursche, hat keinem Menschen etwas zuleid getan. Wir hatten ihn gern, alle hatten ihn gern. Wir konnten es gar nicht glauben, als es hiess, er soll spioniert haben.» (Frau Lüthi.) «Das war ein ruhiger Bürger, ausser seinem Singen hat er keinen Lärm gemacht. Er hat an seine Stimme geglaubt, dass er damit einmal etwas erreicht.» (Frau Lüthi.) «... Er hatte keine Probleme, wenn er ein paar Flaschen Bier auf dem Tisch sah und einige Kollegen um sich hatte, war er ein lustiger Kerl....» (Wörnhard, Dienstkamerad von Ernst S.) «Ich kann mir vorstellen, dass Ernst überhaupt keinen Kontakt erhalten hat mit fortschrittlichen Leuten und dass er dadurch, aus mangelndem Kontakt, Kontakt erhielt mit der andern, mit der schlechten Seite und dadurch eben leider Gottes in diese Geschichte hineinrutschte, was er mit dem Leben bezahlen musste, der arme Teufel.» (Emil S., Bruder.) «Meistens waren das eben Leute, die irgendwie in ihrem Verhältnis zur Heimat gestört waren, also mehr so Randfiguren vom Schweizertum.» (E. Bonjour, Historiker.) «Auf Grund der Vorgeschichte erscheint es als sehr wahrscheinlich, dass sich S. tatsächlich zunächst nur auf das deutsche Konsulat begeben hat, um sich zu geordneter Arbeit in Deutschland und zu einem sesshaften Leben zwingen zu lassen. Explorand sagt, es sei ihm nie darum gegangen, das Land zu verraten.» (Otto S. zitiert aus den Akten.) «Dazu kann man nur sagen, das ist wie immer so, der Kleine hängt eher als der Grosse, was man ja auch im Zivilleben konstatiert.» (E. Bonjour.)

Mit diesem letzten der dem Film entnommenen Statements über Ernst S. hat Prof. Edgar Bonjour, der Erste Historiker der Nation, Meienberg und Dindo das Leitmotiv zu ihrem Film geliefert: Die Kleinen hängt man und die Grossen lässt man laufen. Der Lebensweg dieses Kleinen war gleichsam vorgezeichnet: in ärmliche Verhältnisse hineingeboren — früh die Mutter verloren — verwahrlost — mit 14 Jahren in die Fabrik gesteckt — ausgerissen — herumvagabundiert — ins Heim versorgt — sprunghaft die Stelle gewechselt — Bohemienleben — Verhaftung — Psychiater — Todesurteil.

Versuch der Rekonstruktion einer vergangenen Zeit

Indem Dindo und Meienberg Verwandte und Bekannte von Ernst S. sowie Leute, die damals amtlich mit ihm zu tun hatten, über Ernst erzählen lassen, entwickelt sich parallel zum Bild dieses ärmlich aufgewachsenen Jugendlichen, der, obwohl bar jeden politischen Bewusstseins, den Nazis in die Hände arbeitete, auch ein Bild jener Zeit. Und zwar nicht das Bild, das für uns die Historiker aus Verträgen und Dokumenten zusammengetragen haben, sondern gleichsam eine inoffizielle, aber glaubwürdigere Version, zusammengesetzt aus den Schilderungen von doch mehrheitlich Leuten, die damals untendurch mussten. So entsteht eine Art Geschichtsschreibung aus der Sicht der Arbeiterschicht. Die gut ausgelesenen und raffiniert eingeflochtenen zeitgenössischen Wochenschaubeiträge (eindrückliche Relikte der offiziellen Schweiz von damals) kontrastieren seltsam dazu. Für mich, der diese Jahre nur vom Hörensagen und aus Büchern kennt (alle unter 30-jährigen befinden sich mittlerweile in dieser Situation) macht Die Erschiessung... ein wenig bekanntes Kapitel jüngster Geschichte bewusst, und ausserdem erkenne ich jene Zeit aus einem neuen Gesichtswinkel. Die Stacheln des wehrhaften Igels, die bis anhin die Sicht verdeckten, werden etwas beiseitegeschoben.

Vom Buch zum Film

Es versteht sich von selbst, dass es nicht leicht war, Meienbergs Reportage ins Bildmedium zu transportieren. Wollte man ohne Staffage und Kulissen auskommen, musste fast zwangsläufig eine Spannung zwischen Bildebene und Tonebene entstehen. Ganz einfach deshalb, weil häufig das gezeigte Bild den Ton, das heisst die Statements nicht unmittelbar zu illustrieren vermag. Ich glaubte, mindestens am Anfang des Films, so etwas wie einen «Bildnotstand» der Autoren zu spüren. Dindo begegnet dem mit einer ausgeklügelten Montage, indem er die Bildebene gegenüber dem Ton leicht vorzieht, das heisst der Zuschauer sieht Bilder, die sich erst nach einigen Momenten durch den Kommentar oder durch Statements der Interviewpartner erklären. Dadurch wird ein neues Spannungsmoment eingebracht. Rein vom inhaltlichen Rahmen her geht der Film etwas weiter als das Buch. Es sind neue Personen dazugekommen, anderseits mussten Meienberg und Dindo feststellen, dass eine ganze Reihe von wichtigen Leuten sich einer Stellungnahme enthalten haben, zum einen heute noch Werktätige, die nicht ihre Stelle riskieren wollten, zum andern damalige Schlüsselfiguren wie beispielsweise der Auditor mit dem vielsagenden Hinweis «Lasst die Toten ruhen». Eine wichtige Qualität hat der Film Meienbergs Buch voraus: Beim Lesen kann ich mich der Realität leicht entziehen, ich kann unbequeme Stellen schnell überfliegen. Im Kino geht das nicht. Der Film packt und reisst mit.

Im Vergleich zu «Naive Maler in der Ostschweiz» und «Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg» hat sich in Dindos Interview-Praxis etwas verändert. Während er sich selbst bis anhin sorgsam zurückhielt, den Fragensteller nicht zeigte, ihn fast verleugnete, um eine Art Objektivität vorzugeben, tritt er (und Meienberg) in Die Erschiessung... selbst in Erscheinung. Dindo sagt dazu in einem Interview in «film 2»: «Beim letzten Film habe ich mich zu stark draussen gehalten. Aus Sympathie, aus «unaussprechbarer» Sympathie für die Spanienkämpfer, wollte ich selber nicht, auf keine Art und Weise, im Film präsent sein. Das hat dann, neben anderem, zu dem geführt, was ich heute seinen Objektivismus nenne, d. h. scheinbar objektiv, in Wirklichkeit aber objektivistisch. Die Selbstkritik war: Man muss sich mehr persönlich manifestieren, auf dem Niveau seiner Subjektivität. Ich glaubte, dass Film ein Medium sei, bei dem man sich in einem gewissen Sinne verstecken könne, gleichzeitig anwesend sein und abwesend bleiben können. Hier gibt es im Film über Ernst S. eine kleine Korrektur, die aber vielleicht auch nur eine Scheinkorrektur ist, indem wir zwar im Film präsent sind, uns dann aber doch wieder nicht eigentlich darstellen und in Frage stellen. Aber da gibt es objektive Limiten des Dokumentarfilms, die wahrscheinlich nur durch den Spielfilm überwunden werden können.»

Und die Lackmusprobe? Heute?

Die Geschichte des Ernst S. ist ja nicht einfach eine historische Begebenheit. Sie reicht über diesen Fall hinaus, in unsere Zeit hinein. Würde unsere Gesellschaft heute die Lackmusprobe bestehen? Ich zweifle daran. Wenn man sieht, wie ausserhalb gängiger Normen liegende Menschen auch heute noch von der Gesellschaft skrupellos marginalisiert werden. Die Delikte haben geändert, die Strafen haben geändert, das Phänomen und die Strukturen sind dieselben.

PS. Ich weiss, es ist billig, in einem Film etwas zu vermissen, man soll den Film nehmen, wie er ist, was man vermisst, ergibt vielleicht einen anderen Film. Gleichwohl: Mir fehlen Informationen über jene, im Film zum Teil namentlich erwähnten Herren, die sich damals «auf höherer Ebene» in Richtung Landesverrat betätigt haben. Die Anspielungen haben mich neugierig gemacht.

Dindos Film ist ein wichtiger Film, meiner Meinung nach der wichtigste, der 1975 in der Schweiz entstanden ist. Er müsste einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Es gibt Kinobesitzer, die den Film übernehmen. Im Sinne einer besseren «Konsumierbarkeit» (nicht in der negativen Bedeutung des Wortes) wäre es wünschbar, dass er etwa zehn Minuten kürzer wäre. Einen 100-Minuten-Film von Sergio Leone zu bewältigen ist ein Kinderspiel. Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. hingegen stellt Ansprüche an den Zuschauer. Dieser Film erfordert ein aktives Mitgehen und Mitdenken. Deshalb sollte man den Zuschauer nicht überfordern.

Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. Schweiz 1975/76. Produktion: Richard Dindo, Filmkollektiv AG, Zürich; Realisation: Richard Dindo; Kommentar: Nikiaus Meienberg; Kamera: Rob Gnant, Robert Boner; Regieassistenz: Toni Stricker; Ton: Benni Lehmann; Schnitt: Georg Janett. 16 mm., 100 Min. Verleih: Fiimcooperative Zürich, Filmpool, Zürich.

ERNST S. — OU LE TEST DU PAPIER INDICATEUR

«Ernst S. n’est pas une curiosité. Il n’est pas non plus une antiquité. Il est le test du papier indicateur (Lackmus): Il oblige la société à afficher ses couleurs. Il rend visibles des structures» (Niklaus Meienberg: Reportagen aus der Schweiz; édition française en préparation aux éditions Zoé à Genève, printemps 1977). Le personnage d’Ernst S., exécuté dans la nuit du 10 novembre 1942 comme le premier de 17 traîtres à la patrie, est situé par une série de citations. Se basant sur un chapitre du livre de Niklaus Meienberg, mais le dépassant en plusieurs points, Richard Dindo a essayé de dessiner le tableau d’Ernst S. placé dans son temps, en donnant la parole aux parents, connaissances et à d’autres personnes ayant eu à faire avec lui de par leurs fonctions. Cela donne une sorte d’historiographie sous l’optique de la couche ouvrière, avec laquelle les documents du service des actualités de l’époque — introduits par-ci paNà — forment un curieux contraste. L’historien Bonjour a lui-même donné la phrase-clé qui traverse le film comme un Leitmotiv d’un bout à l’autre: On pend les petits, on laisse courir les grands.

Le film a sur le livre un avantage important: le lecteur peut facilement se soustraire à la réalité, il peut sauter les passages désagréables. Au cinéma, cela n’est pas possible. Le film accroche et entraîne.

Notre société actuelle passerai-t-elle avec succès le test du papier indicateur? A peine, car il suffit de regarder autour de soi pour voir à quel point, encore de nos jours, des êtres humains, déviant de la droite ligne de la normale, sont marginalisés par la société.

P. S. Faisant partie de la génération n’ayant pas vécu la guerre, Hans M. Eichenlaub — dont la curiosité a été excité par le film — aurait aimé avoir de plus amples informations sur les personnes «haut-placées» partiellement nommées dans le film par rapport à leurs activités traîtresses.

Hans Eichenlaub considère ce film comme le plus important de ta production de 1975, mais souhaiterait le voir raccourci de dix minutes, ce qui rendrait sa «consommation» plus aisée pour le grand public. (AEP)

Hans M. Eichenlaub
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(Stand: 2020)
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