BRUNO JAEGGI

BRENNPUNKT: HIER UND JETZT — FRAGEN UND THEMEN DES NEUEN BULGARISCHEN FILMS

ESSAY

Oberflächlich betrachtet hat der gegenwartsbezogene Film Bulgariens eine relativ kurze Geschichte. Die 1971/72 nicht nur in Bulgarien vollzogene Umstrukturierung der Produktion und die von der Staatsleitung erlassene Forderung, die Kunst solle sich vermehrt um die aktuellen gesellschaftlichen Probleme kümmern, schien die} fruchtbare Auseinandersetzung mit der Gegenwart in die Wege zu leiten. In Wahrheit aber existierte diese Tendenz untergründig schon zuvor in erheblichem Mass. In den sechziger, zum Teil schon in den fünfziger Jahren begannen die bulgarischen Filme, die Vergangenheit als dialektischen Ansatzpunkt zu begreifen, um das heutige Bulgarien, dessen Gesellschaft und Individuum in der ganzen Problematik und nationalen Eigenständigkeit aufzufächern und zu beleuchten. Geschichte war bereits in diesen Filmen nicht mehr Vorwand zu Restauration oder heroischer Rekonstruktion.

Es schien mir daher richtig, im Kapitel «Wie aktuell ist Vergangenheit?» auf Strömungen hinzuweisen, ohne die es den heutigen gegenwartsbezogenen Film Bulgariens gar nicht geben könnte. Die Filmschaffenden standen bald einmal vor der Alternative: Entweder der Vergangenheit aktuell und neu zu begegnen — oder die Aktualität und das Neue aus der Verwurzelung in der bulgarischen Vergangenheit heraus anzupacken. Denn diese Verwurzelung erst, diese Reflexion des nationalen, sozialen und moralischen Standorts konnte zu den bedeutenden Werken der letzten Jahre führen. Es ist daher verständlich, wenn Filme wie Das Ziegenhorn, Der letzte Sommer und Ewige Zeiten durch ihre geistige Ausweitung nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich universell und zugleich präzis definiert wirken. Derartige Filme überschritten die theoretische Grenzlinie zwischen Damals und Heute, Anderswo und Hier.

Der Durchbruch

Bis zu den siebziger Jahren blieb der bulgarische Film vorwiegend vergangenen Stoffen zugewandt; zeitgenössisch orientierte Filme, wie sie das Publikum forderte, erreichten selten ein künstlerisches Niveau. Dazu brauchte es nicht nur die Abschaffung von Personenkult, übermächtiger Bürokratie und Dogmatik, sondern es brauchte auch eine neue Generation sowie die geistige und technische Reife der neuen Regisseure. Die Zuwendung zu Gegenwartsproblemen und die entsprechende Optik können nicht einfach bestellt und von einem Tag auf den andern bewerkstelligt werden

Die Neuorientierung begann entsprechend langsam. Immerhin gab es Vorläufer. So Danko Dakowski, der in den Jahren 1955 bis 1960 in die Dörfer des heutigen Bulgarien tauchte. 1962 debütierte dann ein Regisseur, der das Vertrauen in einen gegenwartsbezogenen Filmstoff besass und auch die notwendige Persönlichkeit und Ehrlichkeit verriet: Lubomir Scharlandshiew. In Chronik der Gefühle, später in Karambolage (1966) pflegte er eine psychologische Tendenz; in der dialektisch verstandenen Einzelfigur begannen sich jene Vielschichtigkeiten zu brechen, die man in vielen historischen Filmen vermisst hatte. 1967 folgte der ähnlich gelagerte Film Scharlandshiews Mandelgeruch, und im gleichen Jahr setzte sich Wladislaw Ikonomow in metaphorischer Weise mit der Bergwelt auseinander 'Stille Pfade). Inzwischen hatte sich auch der Kameramann Weula Radew als Regisseur profiliert, mit der Bearbeitung des Romans von Emilian Stanew Der Pfirsichdieb, 1964. Ich erwähne diesen Film, obwohl er in der Vergangenheit spielt: Denn seine analytische, nach innen gelagerte Kraft, die individuelle, differenzierte Optik hat sehr viel zu tun mit dem Reifeprozess des modernen bulgarischen Films.

Mit diesen bemerkenswerten Filmen setzte sich die Individualisierung der Konflikte durch: nicht im Sinne des alten Hollywood etwa, nicht als Flucht ins Private. Aber hier zeigte man endlich nicht den grossen, trüben Fluss, sondern die Bäche, die ihn erst schaffen und am Leben erhalten. Hier kam das allegorische Individuum zum Zuge, das die persönlichen Ideen des Autors konkretisiert und moralische, soziale Fragen aufwirft. Hier wurde vorbereitet, was heute die gesellschaftliche Relevanz ausmacht von Regisseuren wie Zacha-riew, Schopow, Stoianow, Terziew, Andreikow und Christow.

Die Anforderungen, die ein Gegenwartsfilm stellt, erfüllte Methodi Andonow 1968 in bestechender Weise. Geburtshelfer zu Das Zimmer in weiss war wieder einmal Bogomil Rainow, der auch zum nächsten Film Andonows ein eigenes Buch drehgerecht umformte (Nichts Schöneres als schlechtes Wetter, 1970). Als Moralist erwies sich Borislaw Scharaliew in Per unentbehrliche Sünder, 1970, in einem Film, der wiederum den Einzelnen aufwertete und wichtige gesellschaftliche Fragen kritisch anriss.

Den wohl endgültigen, international beachteten Durchbruch des modernen Gegenwartsfilms schuf 1972 erneut ein Debüt: Liebe von Ludmil Staikow. Hier setzte sich mit unverwässerter Persönlichkeit eine Regiebegabung mit der Privatwelt, mit der Vielfalt des Menschen auseinander. Das Psychologische und Intime wurde zum Brennpunkt auch gesellschaftlicher Fragen. Auch Liebe setzt die moralische Tendenz fort: Die Kamera beobachtet das leere Ritual einer verbürgerlicht gebliebenen Gesellschaft, die im alltäglichen Komfort zu ersticken droht. Das offene Ende, die Reflexion über die Notwendigkeit, an sich und das Leben höhere Ansprüche zu stellen, die ungewisse Erwartung des Unbekannten sowie die Eigensensibilität von Autor und Figuren: All das, was uns heute Stoianow, Christow, Terziew und andere zeigen, liegt hier bereits überzeugend vor. Staikow darf als einer der Wegbereiter jenes modernen bulgarischen Kinos gelten das im Publikum mündige Zuschauer sieht. Ihnen wird die Möglichkeit gegeben, sich selbst in den Film miteinzubringen, ohne die notwendige Distanz und Reflexion aufzulösen.

Wichtige Debüts

Mit Staikow kamen auch andere bahnbrechende Debütanten auf: Szenaristen — Georgi Mischew — und Regisseure wie Eduard Zachariew, Georgi Dulgerow, Iwan Nitschew, Todor Andreikow, Nikolas Russew und andere. Gegenübei dem Impetus dieser «neuen Welle» hatten es Leute wie Milen Nikolow (Der Sommer von Sankt Martin) und Borialaw Scharaliew (Erwartung) — beide 1972 — sowie Todor Stoianow (Gegenwart, 1974) schwer. So setzte 1972 Iwai Terziew in Männer ohne Arbeit zu einem eigentlichen zweiten Debüt an, nachdem er mit seiner Rainow-Adaption Herr Niemand 1968 einen Fehlstart verzeichnet hatte. Sein dritter Film, Starkes Wasser (1975) variierte und vertiefte die zuvor aufgeworfenen Ideen, den frischen, ironisch-kritischen Ton.

Männer ohne Arbeit ist ein lyrisch-humorvoller Film über die Immobilität und das Warten. Männer verharren eine Woche lang, ohne zu arbeiten, weil einerseits das Material, anderseits das Geld fehlt. Doch man vertröstet sich: Denn Bulgarien ist — wie auch Zachariew schmunzelnd meint — ein «reiches Land» und kann es sich — wie in Terziews Starkes Wasser — offensichtlich leisten, die Arbeiter zu bezahlen, ohne dass sie wirklich arbeiten. Mit eleganter Leichtigkeit beobachtet Terziew das Verhalten der Untätigen und die Konsequenz der Langeweile: die Aggressivität. Am Schluss greift man allgemein zur Schaufel und macht dem Bürgermeister auch ohne das gewünschte Material einen schönen Platz — auf den er so lange hat warten müssen. Nur ist der Platz jetzt halt aus Kies, nicht aus Asphalt. Aber was soll's: Solidarität und Fest sind gewährleistet, und wo's um die Berappung geht, greift man zur Kollekte.

Wie Iwan Terziew brauchte auch Iwan Andonow einen zweiten Start. Sein Debüt Eine schwierige Liebe (1974) überzeugte gar nicht. Mit Der Reigen der Nymphen (1976) gelang ihm — nicht zuletzt dank Georgi Mischew — eine korrosive Kritik an Verbürgerlichung, Moral und Materialismus sowie an einer in Bulgarien offenbar (immer noch) verbreiteten Konsumationswut. Stark beteiligt war der Szenarist Georgi Mischew auch am Erfolg eines weiteren Debütanten — Eduard Zachariews. Setzte sich dieser ironisch-distanzierte Beobachter 1973 mit der Bürokratie und der provinziellen Gleichgültigkeit auseinander (Die Volkszählung der Wildkaninchen), so geisselte er in Zone der Villen (1974) mit sarkastischem Ingrimm und dunklem Humor die Villenbesitzer, ein neues, innerlich steriles Konsum-Bürgertum.

Nach den ersten Langspielfilmen von Georgi Dulgerow und Iwan Nitschew, die sich — letzterer nur bedingt — der Vergangenheit zuwandten, und während 1974 Christo Christow das Buch Chaitows Baum ohne Wurzeln bearbeitete und Assen Schopow dasselbe Thema — die Migration — von einer andern, bisher unübertroffenen Seite anging (Ewige Zeiten, 1974), schritt der bedeutende Filmkritiker und heutige Direktor der bulgarischen Cinémathèque, Todor Andreikow, zu seinem Debüt: Sein Sonntagsmatch ist zweifellos der Film, der — auch formal — am offensten und direktesten in den (provinziellen) Alltag der heutigen bulgarischen Jugend taucht. Er erweist sich darin als Pointillist, der mit unaufdringlicher Schärfe das Detail erfasst und das Verhalten des Menschen soziologisch und moralisch durchleuchtet. Sein eigenwillig-moderner Film zählt zu jenen bulgarischen Werken, die sich nicht auf Anhieb voll öffnen, die dem Zuschauer viel Freiheit zur Entdeckung gewähren. Nikolas Rudarows Debüt Den Apfel aufessen (1976) verspricht ebenfalls einiges, obwohl die Regie mit dem sympathischen, aber etwas weichen Drehbuch der Erinnerung-Szenaristin Swoboda Batschwarowa nicht ganz zurechtkommt. Es ist dies die Geschichte eines königlichen Ex-Offiziers, der einst eine Partisanenkämpferin erschossen hat, ohne der Tat überführt worden zu sein. Am Schluss stellt sich der Offizier, nüchtern, emotionslos, dem Untersuchungsrichter. Was hier zählt, ist das behutsame Porträt eines Mannes, dem die Chance gegeben wird seine eigene Vergangenheit zu bewältigen. Geschickt wirkt das verflochtene Verhältnis zwischen Offizier und Untersuchungsrichter, die Darstellung auch der Angst, die man 1944 überwunden geglaubt hat. Daraus ergibt sich eine Optik, die dem Offizier mit dem notwendigen kritischen Verständnis begegnet.

Zachariew und Schopow

Obwohl Zachariews und Schopows Debüt 1974, resp. 1975 am Internationalen Filmfestival von Locarno erfolgreich gezeigt und darauf durch Cinélibre in der Schweiz vertrieben worden ist, muss innerhalb des Gesamtkontextes auf diese wichtigen Filme eingegangen werden.

Zum einen deshalb, weil gerade Die Volkszählung der Wildkaninchen eine grosse Möglichkeit des bulgarischen Kinos aufzeigt, das Nationale zum allgemein Zutreffenden und «kleine» Filme zu grossen Dimensionen zu erheben. Der wenig aufwendige, dramaturgisch betont zurückhaltende Film kann ein Ansporn für nachkommende Debütanten sein, den Rahmen zu wählen, in dem sie die formalen und technischen Mittel beherrschen und voll ausnutzen können. Mit unprätentiöser Frische verbindet Zachariew das laute Lachen mit dem komplizenhaften, doppelbödigen Lächeln; seine oft bissigen Metaphern decken eine brüchige Oberfläche auf, unter der Zachariew Bürokratie und Hypokrisie, menschliche Schwächen, Mücken und Widersprüche einmal geisselt, dann ironisiert. Er weiss das — scheinbar — Unerhebliche zu fassen und auszuloten, und er setzt den in der bulgarischen Literatur auffallenden Zug zu Kritik, Sarkasmus und lebensvoller Satire in einem Film um, dem man etliche Einflüsse auf kommende bulgarische Filme wünschen möchte.

Ohne Ironie geht es auch in Schopows schönem, eindringlichem Ewigen Zeiten nicht; doch das sensible Licht, der Ernst des Tons wiegen vor. Zugleich kann der Zuschauer auch bei Schopow einen Zug entdecken, der dem osteuropäischen Film besonders zur Ehre gereicht: die liebevolle, nuancierte Art, mit der die Figuren gezeichnet werden, der Wille, selbst dort aufzufächern, Sympathie und Verständnis 2U wecken, wo man eine Figur kritisiert, wo man ihr Verhalten in Frage stellt.

Tatsächlich öffnet sich in Schopows Debüt vollends die Schere zwischen Menschen, die zuvor noch dieselben Wurzeln hatten und gemeinsam für den Sozialismus gekämpft haben. Niemand hört mehr den drei Männern zu, die im verlassenen Dorf bleiben und den ihnen fragwürdig erscheinenden Fortschritt negieren. Aber der Zuschauer hört: Dass Fortschritt und Technik, die am Menschen vorbeizielen, unhaltbar sind; dass es die Wahrheit für alle nicht gibt; dass ein Mensch eben bereits ein Mensch ist und dass nicht die Zahl Gewicht und Wert der Menge ausmacht. Der Film, der das Verhältnis zwischen dem Eigengewicht einer Epoche und der Verantwortlichkeit des Einzelnen diskutiert, gliedert sich in jene starke Tendenz ein, welche die Interdependenz von Gesellschaft und Individuum auszuloten versucht. Darin hat der Film von Assen Schopow etliche Gemeinsamkeiten mit Iwan Terziews Starkes Wasser und Christo Christows Der Zyklop, wobei er mit seinem Temperament, seinem oft fast bohrenden, aber nie zu schweren Ernst näher bei letzterem steht.

Und die bisherigen

Gegenüber diesen jungen Kräften haben die bereits vor den siebziger Jahren debütierten Regisseure einen eher schweren Stand. So ist es um Weula Radew relativ still geworden, obwohl sein Film aus dem spanischen Bürgerkrieg, Verdammte Seelen (1974), nach Dimitr Dimows Roman entstanden, zu ge. fallen weiss: in der Abkehr vom «positiven» Helden, durch Eindringlichkeit und Objektivierung. Ludmil Staikows bereits vorgestellte Ergänzung zum Gesetz... erfüllt die durch Liebe geweckten Hoffnungen kaum. Und andere Namen sind fast ganz verschollen. Dagegen ist Georgi Stoianow mit Die Grille im Ohr (1975) ein wichtiger Film gelungen.

Rangel Waltschanow seinerseits hat zwar keinen Film mehr mit dem Stellenwert von Die kleine Insel anzubieten; sein Untersuchungsrichter und der Wald (1975) gefällt aber doch als eindringliche Studie über das Verhältnis zwischen Rechtsvertreter und Rechtsbrecherin. Dieser Autorenfilm gibt sich als psychologischer Thriller, hinter dem sich gesellschaftspolitische Fragen öffnen. Ein Mädchen, das die Arbeit in der Fabrik aufgegeben hat, krank und isoliert ist, bringt einen Mann um, nachdem dieser ihr ein Zuhause angeboten und sie, den Mächtigen spielend, zur Gefangenen gemacht hat. Das verschwiegen-verletzte Mädchen stört den Untersuchungsrichter aus der Routine auf; er muss den Fall ganz von der Persönlichkeit, von der individuellen Problematik der Verhörten her aufrollen. Dadurch gibt es, ganz leise, innere Berührungspunkte; zugleich wird die illusionslose, entfremdete Situation des Mädchens deutlich. Der Film ist eine Wahrheitssuche jenseits sturer Regeln.

Waltschanow ruft — abgesehen von der Aufwertung des Einzelnen — etwas in Erinnerung, das im osteuropäischen Film nicht immer ohne Verkrampfung und hypokriten Puritanismus verdrängt wird: nämlich, dass ein nackter Frauenkörper alles andere als etwas Anstössiges und Unreales ist. Waltschanows Porträt einer unschuldigen Schuldigen verheimlicht ebenfalls nicht, dass es halt auch im Sozialismus (neue alte) Formen von Prostitution, Pornographie, Frauenverachtung sowie aufgeschmissene, entwurzelte, herumirrende Menschen gibt.

Selbst ein so begabter und profilierter Autor wie Christo Christow läuft Gefahr, vom modernen Kino überrannt zu werden. Jedenfalls sündigt sein Der Zyklop (1976) durch ästhetisierend-formalistische Recherchen, durch artifizielle Arrangements und Metaphern, durch eine Ambition, die mitunter den Zugang zur gewichtigen Reflexion des Werkes erheblich erschwert. Vielleicht kommt Christow just das, was am Anfang (Ikonostase, Der letzte Sommer) seine Originalität ausgemacht hat, in die Quere: Der ehemalige Arzt, der als Maler, Dekorateur (auch für Zyklop) und Theaterregisseur von sich reden gemacht hat, läuft Gefahr, das Kreative der Malerei und die Darstellerführung des Theaters zu wenig reflektiert auf die Kinoleinwand zu übertragen.

Der Zyklop

Trotz angebrachter Reserven verlangt Christo Christows letzter Film einige Aufmerksamkeit. Denn Christow erhöht die moralische Auseinandersetzung zur Ethik (wie Stoianow); wie Die Grille im Ohr steht auch hier der Mensch vor der individuell, existentiell und gesellschaftlich entscheidenden Wahl.

Christows Allegorie inspiriert sich erneut an einem literarischen Werk: diesmal am aktuellen, in Bulgarien offenbar überaus umstrittenen Buch von Gentscho Stoew. In Der Zyklop wird alles zur Metapher. So die zentrale Figur, ein wissenschaftlich-technischer Spezialist, der völlig andere Aufgaben zu erfüllen hat — als Kommandant eines modernen U-Boots. Seine Arbeit ist in sich absurd: Er übt (so Gentscho Stoew) «die ein ganzes Leben dauernde Hauptprobe eines Stückes, dessen Premiere nie stattfinden wird». Da zählt die Pflicht — doch wem gegenüber? Gegenüber der Menschheit — oder der Menschlichkeit? Gegenüber der Nation — oder deren Lebewesen?

Christow inszeniert die filmdramaturgisch stets unterbrochene U-Boot-Fahrt als gigantisches Symbol: als Reise zur Selbstfindung, ins Bewusstsein eines Mannes in all seinen Fazetten, letztlich ins Unterbewusste. Aufgestört, vielleicht gar verletzt, beginnt der Kommandant die verschiedenen Fragmente zusammenzubringen, zu prüfen, zu vergleichen. Seine Reise führt ihn zum Globalen: zu Piaton, Einstein; und wo er im Kino sieht, wie Japan vom Ozean gleichsam verschlungen wird, werden die allegorischen Bezugspunkte seines Koordinatennetzes fühlbarer. Er trägt nicht nur die Verantwortung gegenüber der «Menschheit» — sondern, und primär, gegenüber den und dem Menschen. Das eine bedingt das andere. Und hier hat er, der Kommandant, versagt: als Vater, als Ehemann, als Freund und Kollege. Er droht zum Zyklopen zu werden, in dessen Schatten seine Familie — soweit sie noch existiert — und seine Freunde fast nur eine «quantite negligeable» bedeuten. Christow lässt das Soziale in den philosophischen und psychologischen Teil seiner Fabel fliessen: «Was zählt, ist eine Welt mit ungelösten Problemen — und nicht gelöste Probleme ohne Welt!»

Im noblen Ernst dieses komplexen Films werden andere Themen — der Pazifismus etwa — fast als grundlegende Selbstverständlichkeit integriert; die dialektische Verbindung von Dokumentarem und Fiktion, Realität und Vorstellung, Gegenwart und Vergangenheit, Schwarzweiss und Farbe zeugt von einem Formwillen, von einer mitunter an Zanussis lluminacia erinnernden Suche. Dieses stilistische Potential zeigt an, dass man diesen grossen Namen des bulgarischen Films trotz der Wachtablösung durch neue Autoren nicht aus der Sicht verlieren darf!

Andere Grundlagen

Seit dem 10. Kongress der bulgarischen KP und Shiwkows Ruf nach zeitgenössischen Themen wiegen im profilierten bulgarischen Film aktuelle Stoffe vor. Die Kritik erfolgt, nachdem gewählt, sie tastet nach notwendigen Veränderungen, nachdem die Grundlage analysiert worden ist. Die führenden Autoren haben erkannt, dass sich in den «kleinen» Dingen und im Individuum das Ganze und Grosse viel schärfer bricht als in globalen Themen; im Einzelnen ist das Humane, Soziale und Moralische nicht vom Ideologischen zu trennen. Im Gegensatz zu vielen Vertretern des jugoslawischen und tschechoslowakischen Kinos der sechziger Jahre gibt es im jungen bulgarischen Film kein selbstgefälliges Überborden, keinen spekulativen Spott oder elitären Zynismus. Auch die Hochstapelei liegt den Bulgaren nicht. Die tiefe Verwurzelung in ihrem Land, im nationalen Schicksal und die Ehrlichkeit, die Opportunismus verbietet, verweigern sowohl polierte Mythen wie verantwortungslosen Realitätsschwund. Nicht zuletzt deshalb ist dem neuen bulgarischen Film ein wirklich nationales und wirklich international betreffendes Profil gelungen. Offensichtlich wird das auch von den bulgarischen Kinogängern honoriert. Während der schweizerische TV-Sklave sich kaum noch ins Kino bewegt, sehen sich tagtäglich fast 400 000 Bulgaren die Kinofilme an, in einer Nation, die nur unwesentlich grösser ist als die Schweiz! Zwischen 1969 und 1976 hat sich damit die jährliche Besucherzahl fast — versiebenzehnfacht, obwohl auch das bulgarische Fernsehen vermehrt Filme zeigt. Es gibt schon zu denken, dass dieser kaum fassbare Anstieg des Kinointeresses völlig parallel verläuft zum anwachsenden bulgarischen Interesse für andere Kunst- und Kulturformen wie Theater, Malerei und Musik. Da gibt es keine Trennung von Gesellschaft und Publikum ins finanzkräftige, herausgeputzte Bildungsbürgertum für teuren Theater- und Konzertzwang einerseits und in gewöhnlich-sterbliche Zuschauer fürs Kino anderseits, von dem eben diese Bürger bei uns so viel verstehen wie Analphabeten von Shakespeare und Taube von Bach und Brahms. Natürlich leisten in Bulgarien die Jugendlichen bereits ab 14 Jahren einen grossen Anteil zu diesen phänomenalen Zahlen — bei uns verbauen sture Polizeimassstäbe, aber auch Sex and Crime der Kinos eine analoge Öffnung. Doch auch das: Ein Film wie Andonows Das Ziegenhorn bringt in Bulgarien immer noch achtmal mehr Zuschauer ins Kino als bei uns der Kinotöter Emmannuelle, zehnmal mehr als Exorcist, aber auch 27mal mehr als so hervorragende Werke wie The Go-Between und La Salamandre! Truffauts La Nuit américaine kommt bei uns gar auf dünne 2,5 Prozent der bulgarischen Ziegenhorn-Zahlen. Und das ist zweifellos nicht nur durch die allerdings überaus bedenkenswerte Tatsache zu erklären, dass man in Sofia für ein Päckchen einheimischer Zigaretten viermal ins Kino kann, wo es sich bei uns gerade umgekehrt verhält. Dieses aktive Interesse des bulgarischen Kinopublikums ist ein weiterer Aspekt der gegenwärtigen Filmszene — ein Grund auch für Zuversicht (und schweizerischerseits; zur Beschämung).

(Vergleiche dazu auch das Kapitel «Ausgewählte Filme».)

POINT DE MIRE: ICI ET MAINTENANT

A travers de nombreux exemples, Bruno Jaeggi décrit l'évolution qu'ont suivi les films à sujet contemporain. Au cours des années 60, les réussites dans ce domaine restaient exceptionnelles; la plupart des ceuvres étaient marquées par une projection trop sommaire d'idées générales dans la vie privée des héros. Ce n'était qu'au début des années 70 que les cinéastes bulgares ont appris à réévaluer l'individu sans toutefois tomber dans le piège hollywoodien des histoires privées coupées de tout contexte social. En 1972, le film Affection de Loudmil Staïkov a prouvé que les cinéastes bulgares avaient définitivement appris à maitriser cette tâche. C'était l'ceuvre d'un débutant comme le sont beaucoup d'autres films cités dans ce chapitre.

Dans le cinéma bulgare actuel, la distinction entre les sujets historiques et les sujets contemporains est en train de s'estomper dans la mesure où l'Histoire est vue dans une optique contemporaine et le présent est compris en tant que fruit des évolutians passées. Le spectateur — enfin traité en adulte — est de plus en plus invité à tirer ses propres conclusions. Afin de créer la distance indispensable à cette attitude, les auteurs décrivent les problèmes souvent avec une forte dose d'humour et d'ironie.

La sincérité et la franohise dans le traitement des problèmes actuels ont valu au cinéma bulgare une clientèle fidèle. Nombreux sont ceux parmi les presque 400 000 spectateurs quotidiens qui choisissent un film bulgare. Ainsi La Corne de Chevre a été vue par vingt-sept fois plus de spectateurs en Bulgarie que La Salamandre en Suisse. (meg)

Bruno Jaeggi
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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