HANS M. EICHENLAUB

ERINNERUNG UND IMAGINATION — DIE FILME VON CARLOS SAURA

ESSAY

Carlos Saura wurde 1932 in Huesca als Kind liberaler Eltern geboren und wuchs in Madrid auf. Die stärksten Eindrücke seiner Kindheit sind vom Bürgerkrieg geprägt. Im Colegio erlebt er einen Bombenangriff, er sieht Defilees und hört Kriegslieder. Seine Eltern halten in ihrem Haus einen verwandten Pfarrer versteckt. Von ihm lernt Carlos lesen. Nach dem Colegio absolviert er ein Ingenieur-Studium und beschäftigt sich ab 1949 intensiv mit der Fotografie. Er nimmt an diversen Ausstellungen teil und bestreitet als Fotograf seinen Lebensunterhalt. Auf Anraten seines älteren Bruders Antonio (der heute in Spanien als bekannter Maler gilt) tritt er 1952 als Zwanzigjähriger in die Madrider Filmhochschule «Instituto de Investigaciones y Experiencias Cinematograficas» ein. Gleich nach seinem Diplomabschluss 1957 erteilt er für einige Jahre an derselben Schule Kurse für Regie und Drehbuch.

La tarde del domingo

1956/57. Buch: Carlos Saura nach einer Erzählung von Fernando Guillermo de Castro; Kamera: Enrique Toran; Musik: Rafae! Martinez Torres; Darsteller: Isana Medei, Julia M. Butron, Francisco Herrera, Carlos Polac, u.a. 35 mm, sw.

Sauras Abschlussfilm an der Madrider Filmhochschule. Es ging primär darum, zum ersten mal in der Geschichte der Schule mit einer 35-mm-Handkamera zu experimentieren, und ebenso wurde erstmals mit Tri-X-Material gefilmt. (Leider war eine Visionierung von La tarde del domingo nicht einmal in der Filmoteca Nacional in Madrid möglich.)

Cuenca

1958. Buch: Carlos Saura mit Kommentaren von José Ayllon und Carlos Saura, gelesen von Francisco Rabal; Kamera: Antonio Alvarez und Carlos Saura; Musik: M. Ramirez und J. Pagan; Produktion: Estudios Moro, Madrid; 45 min., c.

Cuenca entstand als eigentlicher Auftragsfilm, finanziert durch die Stadtbehörden von Cuenca. Den Auftraggebern schwebte eine Art touristischer Werbefilm vor. Saura unterbreitete ein vages Treatment und Hess sich die nötige Arbeitsfreiheit garantieren. So drehte er anstelle der vorgesehenen 15 Tage in kurzen Etappen während eines ganzen Jahres. Der so entstandene 45-minütige Dokumentarfilm löste bei den Stadtvätern schroffe Ablehnung aus. Doch sie Hessen sich zu einer wundersamen Lösung herbei: Sie sagten sich, dass, da ja der Film aus Steuergeldern finanziert werde, das Volk entscheiden solle. So fand in Cuenca eine gutbesuchte Vorstellung statt, die zeigte, dass Sauras Werk den Einwohnern gefiel, worauf sich auch die Behörde befriedigt erklärte.

Cuenca, das Porträt einer Landschaft und seiner Menschen, mit einem erklärenden, oft fast literarischen Kommentar, weist eine klare Gliederung in drei Teile auf. Der Film beginnt mit einer sachlichen geografischen Beschreibung, leitet über zu einem lyrischen Blick in die Vergangenheit und kulminiert in der Gegenwart, insbesondere in der detaillierten Schilderung des religiösen Brauchtums am Beispiel der Prozessionen in der Osterwoche, in deren Verlauf junge Männer überdimensionale Heiligenfiguren durch das ganze Dorf tragen. Die letzte Einstellung von Cuenca, der Blick über die schmale Hängebrücke, ist praktisch identisch mit der Eröffnungseinstellung von Peppermint frappe.

Los Golfos

1959. Buch: Mario Camus, Daniel Sueiro und Carlos Saura -Kamera: Juan Julio Baena; Musik: M. Ramirez und J. Pagan; Darsteller: Manuel Zarzo (Julian), Luis Marin (Ramon), Oscar Cruz (Juan), Juanjo Losada (Chato), Ramon Rubio (Paco), Rafaei Vargas (Manolo), Maria Mayer (Visi), u.a.; Produktion: Films 59-Pedro Portabella, Madrid; 88 min. sw.

Los Golfos spielt in einem der ärmlichen Aussenquartiere von Madrid. Im Mittelpunkt stehen Jugendliche, die, ohne Arbeit, sich mit gelegentlichen Diebstählen durchs Leben schlagen. Sie hängen grossen Träumen nach, sie sprechen viel von Amerika, doch die Realität sieht anders aus. Juan möchte Torrero werden. Ein schneller Erfolg in der Arena würde den Weg nach oben öffnen, würde gesellschaftliche Anerkennung bringen. Doch auch dazu braucht es ein Grundkapital, für das Training, das Kostüm und den Manager. Juans Kollegen beschliessen, ihm zu helfen. Sie intensivieren ihre Raubzüge, werden frecher, und schlagen notfalls auch mal zu, etwa als sich ihnen ein Taxifahrer in den Weg stellt. Juans Debüt in der Arena kommt zustande. Gemeinsam wird Juans Tracht ausgelesen. Die Freunde hängen in der Stadt die Plakate auf, die die Corrida vom Sonntag ankündigen. Dabei wird Paco vom Taxichauffeur erkannt. In einer halsbrecherischen Flucht, verschwindet Paco in einen Kanalisationsschacht. Am Abend warten die Freunde auf Paco. Sie suchen und finden ihn, tot, am Flussufer. Am nächsten Tag steht Juan in der Arena. Sein Debüt misslingt kläglich, er wird ausgebuht und ausgepfiffen. Als Los Golfos 1960 in Cannes im Wettbewerb auffiel, fehlte es nicht an Klassifizierungsversuchen. Zwischen italienischem Neorealismus und Nouvelle Vague wurde er eingeordnet und eine nahe Verwandtschaft zu Bunuels Los olvidados wurde ihm attestiert. Doch davon mag Saura wenig wissen. Los olvidados kannte er gar nicht, von der Nouvelle Vague wusste er praktisch nichts. Vom Neorealismus war er zwar begeistert, und doch hat er sich immer dagegen gewehrt, Los Golfos als neorealistischen Film zu bezeichnen. Was Saura anstrebte, war, zusammen mit einigen Freunden und mit minimalsten Mitteln einen Spielfilm zu machen, der sich eines dokumentarischen Stils bediente. So war es damals im spanischen Film alles andere als üblich, mit der Handkamera auf die Strasse zu gehen und an Originalschauplätzen zu drehen. Die Unerfahrenheit im Bereich des Drehbuchs sowie die knappen Mittel zwangen über weite Strecken zur Improvisation. Das erstaunt vielleicht, denn heute lehnt Saura jede Improvisation strikte ab.

Llanto por un bandido

1963. Buch: Mario Camus und Carlos Saura; Kamera: Juan Julio Baena; Musik: Carlo Rustichelli und Volkslieder interpretiert von Rafael Romero; Darsteller: Francisco Rabal (José Maria «BI Tempranillo»), Lea Massari (Maria Jeronima), Philippe Leroy (Pedro Sanchez), Lino Ventura («El Lotus»), Manuel Zarzo («El Sotillo»), Silvia Solar (Marquesa de los Cerros), Fernando Sanchez Polack (Antonio), Antonio Prieto («El Lero»), u.a. unter spezieller Mitwirkung von Luis Bunuel als Henker; Produktion: Agata Films, Madrid, Atlantica Cinematografica, Rom, Mediterranen Cinema, Paris; 101 Min. c. Verleih: vorübergehend, d.h. von April bis Oktober 1969 bei Rialto Film, Zürich.

Ein Porträt des legendären Banditen José Maria, genannt El Tempranillo, und gleichzeitig ein Einblick in das spanische Räuber- und Banditenunwesen des letzten Jahrhunderts. Entgegen der volkstümlichen Legende, die El Tempranillo als eine Art spanischen Rinaldo Rinaldini sieht, zeichnet ihn Saura als rücksichtslos und machtbesessen.

Es fällt, ohne tiefere Kenntnis der spanischen Geschichte des letzten Jahrhunderts, schwer, sich in diesen Film hineinzufühlen. Zusätzlich wird einem der Zugang erschwert durch das offensichtliche Scheitern des Filmes, und zwar auf mehrere Ebenen. Der Sprung vom kleinen Schwarzweiss-Film zur internationalen Cinemascope-Koproduktion mit grossen Stars war für Saura zu ambitioniert. Schon die Drehbucharbeit muss den Kern des Scheiterns in sich getragen haben. Denn heute beklagt sich Saura, dass der federführende spanische Produktionspartner Dibildos stark auf das Buch Einfluss nahm, lm Produktionsstadium fehlten dann die zur Story adäquaten Mittel. Für die grosse Schlachtszene waren nicht genügend Pferde da, und Saura fühlte sich mit nur einer Kamera und lediglich fünf Meter Travelling-Schienen mehr als überfordert. Schliesslich tat die Zensur noch das ihre, um den Film vollends unzugänglich zu machen!

La Caza

1965. Buch: Angelino Föns und Carlos Saura; Kamera: Luis Cuadrado, Teodoro Escamilla; Musik: Luis de Pablo; Darsteller: Ismael Merlo (Jose), Alfredo Mayo (Paco), José Maria Prada (Luis), Em Mio Gutierrez Caba (Enrique), Fernando Sanchez Poiack (Juan), Violeta Garcia (Carmen); Produktion: Elias Querejeta, Madrid; 93 min. sw.

José und Luis haben Paco und den jungen Enrique zu einer Jagdpartie eingeladen. Die vier sitzen schwitzend unter einer Zeltplane in der flimmernden Hitze einer kargen, wüstenähnlichen, noch immer Spuren des Bürgerkrieges aufweisenden Landschaft und warten auf die günstigste Zeit, die Jagd auf Kaninchen zu beginnen. Schon hier kommt es zu Zänkereien, die jedoch durch die Vorfreude auf die Jagd in Grenzen gehalten werden. Immer deutlicher treten Gegensätze zu Tage. Unzufriedenheit im Privaten wie im Geschäftlichen und Neid artikulieren sich, auch Aggressionen werden sichtbar. Nach der Jagd, während die Beute auf dem Feuer brutzelt, eskaliert die bedrohliche Situation. Ein Wort gibt das andere, die noch warmen Flinten liegen in Griffweite, schliesslich knallen sich die drei älteren Freunde gegenseitig ab, genau so grausam, wie sie zuvor gemeinsam Hasen niedergestreckt haben. Nur Enrique — Symbol einer neuen Generation — kommt davon, pie Schlusseinstellung zeigt ihn auf der Flucht.

Man kann La Caza als Modell eskalierender Aggression, als gelungene Demonstration von Gewaltmechanismen verstehen und den geschickten dramaturgischen Aufbau, die atemberaubende Kameraarbeit und die atmosphärische Dichte der schwarzweissen Bilder bewundern. In der Tat ist La Caza wohl neben El Jardin de las delicias das gelungenste Saura-Werk, da es sich durch eine ungeheure Beherrschtheit der Mittel und durch eine faszinierende Klarheit der Aussage auszeichnet. Denn man kam La Caza mit Fug und Recht als politische Parabel lesen, die aufzeigt, wie sehr der Bürgerkrieg noch allgegenwärtig ist, wie sehr er für eine ganze Generation von Menschen zum Konfliktstoff werden kann. Letztlich sind Sauras Figuren (mit Ausnahme von Enrique) Besessene ihrer Erinnerungen, von denen sie immer wieder eingeholt werden, die immer wieder die Gegenwart mitbestimmen.

Peppermint frappé

1967. Buch: Rafael Azcona, Angelino Föns und Carlos Saura; Kamera: Luis Cuadrado, Teodoro Escamilla; Musik: Luis de Pablo; Darsteller: Geraldine Chaplin (Ana und Elena), Josri Luis Lopez Vazquez (Julian), Alfredo Mayo (Pablo), Ana Maria Custodio (Mutter Julians), Emiliano Redondo (Arturo), Fernando Sanchez Polack (Patiant), Janine Cordeil (Professorin); Produktion: Elias Querejeta, Madrid; 92 min., c.

«Dies ist mein vierter Film und mein zweites Sujet, das die spanische Bourgeoisie behandelt, der ich selbst zwar angehöre, mit der ich mich aber nicht identifiziere. In der spanischen Mittelklasse, besonders in der Provinz, erzeugt der Gegensatz zwischen modernem Leben und alter Tradition — vor allem der religiösen Tradition — häufig unangepasste und gespaltene Individuen. Mein Film erzählt die Geschichte eines solchen Menschen». So äusserte sich Saura 1968 bei der Berliner Filmfestspielen über Peppermint frappé. Dieser unangepasste Mensch ist ein frustrierter von seiner Erziehung und seiner Umwelt geprägter Arzt, der — obwohl im reifen Mannesalter und noch immer Junggeselle — einer Traumvision der idealen Frau nachhängt, die er visualisiert, indem er, schon fast manisch, Illustrierten zerschneidet und so das Idealbild zusammensetzt. Eines Tages begegnet er Elena, der Gattin eines Freundes, die genau seinen Vorstellungen entspricht. Darüber hinaus erinnert sie ihn an ein Mädchen, das er bei einer religiösen Festlichkeit als Trommlerin in Galanda gesehen zu haben glaubt, ein Bild, das sich ihm damals tief eingeprägt hatte. Nun setzt der Arzt alles daran, seine Sprechstundenhilfe Ana, die der Frau seines Freundes etwa ähnlich sieht, soweit zu beeinflussen und in Benehmen und Garderobe umzuformen, bis sie seinem Ideal nahekommt. Nachdem ihm dies weitgehend gelungen ist — nicht zuletzt, weil Ana ihn verehrt — bringt er seinen Freund und Elena um, indem er ihnen Gift ins Peppermint frappé mischt. Denn nun braucht er das Vorbild nicht mehr.

Auslösendes Moment zu Peppermint frappé war für Saura ein Besuch in Calanda, bei Luis Bunuel, wo dieser jeweils die Osterwoche zu verbringen pflegte. In Calanda ist es Braucht, am Karfreitag während 24 Stunden aus Leibeskräften zu trommeln, und da hat Saura ein Mädchen gesehen, das mit blutigen Händen unaufhörlich die Trommel rührte. Es ist das Bild, das José im Film vor seinem inneren Auge sieht, nur hat es Saura von Calanda nach Cuenca verlegt, auf die Hängebrücke. Überhaupt hat es mit Bunuel im Zusammenhang mit diesem Film so seine Bewandtnis. Bei den Aufnahmen zu Llanto... versprach Saura Bunuel, ihm seinen nächsten Film zu widmen. Da ihm jedoch La Caza zu wenig würdig erschien, unterliess er es, sehr zum Bedauern von Bunuel, dem La Caza ausserordentlich gut gefiel. Saura wiederholte sein Versprechen und machte es mit Peppermint frappé wahr. Doch er Hess es nicht bei der Widmung bewenden, der ganze Film atmet den Geist Bunuels, und es gibt auch ein sehr schönes Filmzitat: In Grossaufnahme nähert sich eine Klinge einem Auge — man denkt sofort an Le Chien Andalou.

Stress es tres, tres

1968. Buch: Angelino Fons und Carlos Saura; Kamera: Luis Cuadrado, Teodoro Escamilla; Musik: Jaime Perez; Darsteller: Geraldine Chaplin (Teresa), Juan Luis Galiardo (Antonio), Fernando Cebrian (Fernando), Porfiria Sanchis (Tante), Fernando Sanchez Polack (Wächter), Humberto Semper (Kind); Produktion: Elias Querejeta, Madrid; 97 min., sw.

Teresa und ihr Mann Fernando fahren mit Antonio hinaus aufs Land. Aus dem Autoradio hört man alarmierende Facts über Umweltverschmutzung, Bevölkerungswachstum und Hunger. Nach einem Fahrtunterbruch, bei dem es zu spielerischen Neckereien gekommen ist, die ahnen lassen, dass es zwischen Teresa und Fernando nicht sehr gut geht, passieren die drei einen schweren Autounfall, bei dem sie Erste Hilfe leisten. In Fernandos Elternhaus angekommen, geht die schwelende Auseinandersetzung zwischen den Ehepartnern weiter, wobei Antonio als Katalysator wirkt. Das übliche Dreieck beginnt sich abzuzeichnen. Tags darauf fahren die drei ans Meer. Hier kommt es, wiederum auf spielerischer Basis, zu einer Art Rivalenkämpfen. Teresa fühlt sich umschwärmt. Sie geht mit Antonio baden. Fernando beobachtet die beiden mit dem Feldstecher, bevor er auch ins Wasser steigt. Später werden Tauchgeräte ausgepackt. Teresa und Antonio gehen tauchen. Wiederum greift Fernando zum Feldstecher und entdeckt die beiden in einer kleinen Bucht, sich umarmend. Da macht er die Harpune bereit. In einer dramatischen Vision tötet er Antonio. Dann entlädt er die Harpune, und alle drei fahren zurück.

Stress es tres, tres scheint mir einer der schwächere» Filme von Saura zu sein. Ihm fehlen die thematische Ein, deutigkeit, die formale Klarheit und die Konsequenz von La Caza ebenso wie die Kraft der Imagination der Bildet von Peppermint frappe. Er steuert mit allen dramaturgischen Mitteln auf einen Höhepunkt zu (vergleichbar mit La Caza), doch kurz vor dem Ausbruch der offenen Gewalt zwischen den beiden Männern flüchtet sich Saura in die Vision und lässt den Film offen enden.

La Madriguera

1969. Buch: Rafael Azcona, Geraldine Chaplin, Carlos Saura Kamera: Luis Cuadrado, Teodoro Escamilla; Musik: Luis de Pablo; Darsteller: Geraldine Chaplin (Teresa), Per Oscarsson (Pedro), Emiliano Redondo (Antonio), Tere del Rio (Carmen), Julia Pena (Agueda), Maria Elena Flores (Rosa), Gloria Berrocal (Tante); Produktion; Elias Querejeta, Madrid; 98 min., c.

Pedro ist ein gutsituierter Ingenieur, seit einigen Jahren mit Teresa verheiratet. Sie bewohnen ein grosses, modernes Haus. Eines Tages bringt ein Möbelwagen die Möbel aus Teresa Elternhaus, die im Keller eingelagert werden. Die alten Stücke evozieren in ihr Erinnerungen an damals, an ihre Kindheit, ihren Vater, das Kollegium. Pedro entdeckt Teresa schlafwandelnd im Keller, im Zwiegespräch mit ihrem Vater. Pedro ist beunruhigt. Anderntags spielt Teresa die Schlafwandlerin. Und damit beginnt eine Folge von Spielen, an denen Pedro anfangs zwar Gefallen findet, die ihm jedoch bald einmal lästig werden. Die beiden spielen beispielsweise «Kochen», «Vater und Tochter», «Verlobung», «Geburt», «Geliebte und Geliebter», «Selbstmord», «Unfall». Schliesslich werden die Grenzen zwischen Spiel und Ernst verwischt. Sie spielen «Trennung», und als Pedro mit dem Koffer in der Hand das Haus verlässt, schiesst Teresa mit einer Pistole auf ihn und geht ins Haus zurück. Da ertönt ein zweiter Schuss, und das Bild gefriert. Die Realität hat das Spiel eingeholt.

Szenen einer Ehe auf Spanisch, mit allen Saura-Ingredienzen, die seine späteren Filme auszeichnen: Erinnerungen an die Kindheit, Träume und Visionen, sowie als wichtiges Element das Überspielen (im wörtlichsten Sinne) der Realität, bis sie dann am Schluss doch noch einbricht. Ferner das Haus als «huis clos», als Ort des Eingeschlossenseins, das Muster auch von Ana y los lobos und von Cria cuervos.

El Jardin de las delicias

1970. Buch: Rafael Azcona und Carlos Saura; Kamera: Luis Ouadrado, Teodoro Escamilla; Musik: Luis de Pablo; Darsteller: José Luis Lopez Vazquez (Antonio), Francisco Pierra (Don Pedro), Luchy Soto (Luchy), Lina Canalejas (Tante), Julia Pena (Julia), Alberto Alonso (Tony), Mayrata O’Wisiedo (Krankenschwester), Charo Soriano (Schauspielerin), Esperanza Roy (Nicole), und viele andere, darunter Luis de Pablo als Organist und Geraldine Chaplin. Produktion: Elias Querejeta, Madrid; 95 min., c.

Im Mittelpunkt steht Antonio, ein Millionär und Industrieller, der als Folge eines Autounfalles an den Rollstuhl gebunden ist und sein Sprach- und Erinnerungsvermögen verloren hat. Seine Familie setzt alles daran, ihm wieder zu seinem Gedächtnis zu verhelfen, weniger aus reiner Menschenliebe, als vielmehr um an die Millionen auf seinem Schweizer Nummernkonto heranzukommen, die nötig wären, um den Betrieb zu sanieren. Sie versuchen es mit einer Art Schocktherapie, aber auch indem sie ihm Szenen aus seinem Leben vorspielen, Szenen aus seiner Kindheit, die Feier der ersten Kommunion, aus seiner Jugendzeit, aus dem Bürgerkrieg usw. Die Bemühungen scheinen Erfolg zu haben, langsam findet Antonio zu seiner Sprache zurück, und auch die Erinnerungen scheinen sich zu reaktivieren, doch die Kontozahlen gibt er nicht preis. Suiza, dinero, Suiza, dinero wird ihm immer wieder bedeutet, doch er bleibt stumm. «Mit meinem Körper können sie alles machen, mit meinem Kopf nicht», sagt Antonio, und der Zuschauer vermeint ein Augenzwinkern zu spüren. Am Schluss lässt Saura die ganze Familie in Rollstühlen durch den Park fahren, zweifellos ein Zeichen des Sieges Antonios, der sich widersetzt hat, vielleicht auch ein Bild allgemeiner Ohnmacht Hier demaskiert Saura auf fulminante Weise das spanische Bürgertum in dessen lange dauernden Agonie, wobei er sich schon fast genial der makabren Parabel bedient. Mit dem vom bekannten Bild von Hieronymus Bosch entlehnten Titel (das Bild zeigt eine skurrile Fabelwelt) verdoppelt Saura die Attacke auf das Bürgertum gleichsam.

Ana y los lobos

1972. Buch: Rafael Azcona und Carlos Saura; Kamera: Luis Cuadrado, Teodoro Escamilla; Musik: Luis de Pablo; Darsteller Geraldine Chaplin (Ana), Fernando Fernan Gomez (Fernando), José Maria Prada (José), José Vivo (Juan), Rafaela Aparicio (Mutter), Charo Soriano (Luchy), Marisa Porcel (Haushälterin), Anny Quintas (Haushälterin) und Sara GH, Nuria Lage, Maria José Puerta (Kinder); Produktion: Elias Querejeta, Madrid; 100 min., c.

Ana kommt als junge Engländerin nach Spanien, um als Kindermädchen in einer grossbürgerlichen kastilischen Familie zu arbeiten. Im einsam gelegenen Landhaus leben unter der Fuchtel einer fetten, gelähmten, alles dominierenden Mutter drei Männer, ihre Söhne: Juan, ein geiler Schürzenjäger, Jose, ein Militarist und Uniformenfetischist, und Fernando, ein frommer Asket, dessen Frömmigkeit sich bald einmal als verlogene Tarnung erweist. Ana fühlt sich bald einmal in einer Atmosphäre der permanenten Bedrohung, denn die drei stellen ihr, jeder auf seine Weise, ständig nach. Als sie schliesslich nach einigen überstandenen Torturen aus dem verwunschenen Haus flüchten will, wird sie von den dreien brutal ermordet, wobei es Saura der Interpretation des Zuschauers überlässt, ob es sich dabei um eine reale Szene oder um eine Art kollektive Traumvision handelt.

Frustrationen, Schlacken einer fatalen Erziehung und der Stillstand einer bürgerlichen Gesellschaft in einem stillstehenden politischen System sind hier die Ursachen einer gewalttätigen Entladung, die Saura beharrlich, fast sezierend, ausleuchtet. Ana y los lobos ist wohl die klarste, am leichteste lesbare Verklausulierung der Kritik am Franquismus. Saura inkarniert in den drei Söhnen offensichtlich drei gesellschaftliche Tabus der franquistischen Ära: die Sexualität, die Religion und das Militär, beziehungsweise die Politik. Kein Wunder, dass der Film auf verschiedenen Ebenen seiner Entstehung immer wieder mit der Zensur in Konflikt kam.

La prima Angelica

1973. Buch: Rafael Azcona und Carlos Saura; Kamera: Luis Cuadrado, Teodoro Escamilla; Musik: diverse Volkslieder; Darsteller: José Luis Lopez Vazquez (Luis), Lina Canalejas (Angelica), Maria Clara Fernandez de Loayza (Angelica als Kind), Fernando Delgado (Anselmo), Julietta Serrano (Nonne), Lola Cardona (Tante Pilar, jung), Josefina Diaz (Tante Pilar, alt), José Luis Heredia (Felipe Sagun) u.a.; Produktion: Elias Querejeta, Madrid; 105 min., c.

Die Beisetzung seiner Mutter im Familiengrab in Segovia führt den rund 50-jährigen Luis zurück in die Gegend seiner Kindheit. Im Hause seiner Grosseltern, in dem er als kleiner Junge und als Kind republikanischer Eltern in franquistischer Umgebung aufwuchs, trifft er auf seine Cousine Angelica, mit der ihn damals, 1936, eine zarte Zuneigung verband. Das Wiedersehen mit der fernen Verwandtschaft lässt Erinnerungen aufsteigen, Kindheitserlebnisse werden wach, die Bürgerkriegs-Situation wird wieder gegenwärtig.

Saura wendet in La prima Angelica einen eigenwilligen Erzählstil an. Die Figur des Luis wirkt als Spiegel. An ihm brechen sich Vergangenheit und Gegenwart. Sämtliche Figuren kommen zweifach vor, real als Erwachsene, sowie in der Erinnerung als Kinder, während Luis selbst als Erwachsener durch seine Erinnerungen geht. Damit erreicht Saura eine starke Distanzierung, er unterläuft gewissermassen die Fiktion. Im Übrigen zeichnet sich mit La prima Angelica in Sauras Schaffen so etwas wie eine Wende ab. Die Tendenz heisst vereinfachend gesagt weg von den symbolischen, eher «lauten» Filmen hin zu intimeren, eher introvertierten Werken.

La prima Angelica ist eine zarte Reise zurück in die Vergangenheit, in die Kindheit, in den Bürgerkrieg, bei der ein Mann in den selbstzufriedenen Wohlstandsbürgern von heute die faschistischen Schreckfiguren seiner Kindheit mit ihren militärischen, religiösen, patriarchalischen Obsessionen entdeckt. Obwohl Sauras bis dahin stillster Film, wurde er politisch das grösste Skandalon, denn hier wurde der Bürgerkrieg zum ersten mal aus der Sicht der Unterlegenen gezeigt, Rechtsextreme Trupps demolierten damals die Kinos. Der Film wurde zu einem der wichtigsten künstlerischen Signale dafür, dass die Periode des Franquismus dem Ende zuging. (Die Zeit, 3.12.76)

Cria cuervos

1976. Buch: Carlos Saura; Kamera: Teo Escamilla; Musik: Federico Mompour; Darsteller: Ana Torrent (Ana), Geraldine Chaplin (Anas Mutter; Ana, erwachsen), Monica Randall (Tante Paulina), Florinda Chico (Haushälterin Rosa), Mirta Miller, Josefina Diaz, Hector Alterio (Anas Vater), u.a.; Produktion: Elias Querejeta, Madrid; 110 min., c, Verleih: Citel Films, Genf.

Cria cuervos erzählt die Geschichte einer Familie in einem abgekapselten, in sich geschlossenen Raum. Alles spielt sich im Innern eines herrschaftlichen Hauses in Madrid oder aber in dessen Park, hinter hohen Mauern ab. Nur selten gibt ein Blick durch ein Fenster die Aussicht auf den akustisch immer präsenten Verkehr einer belebten grossen Strasse frei. Was in diesem Haus vor sich geht, erfährt der Zuschauer aus der Sicht eines Kindes, der neunjährigen Ana. Nun lässt Saura die Geschichte nicht einfach linear ablaufen. Er zieht eigentlich drei Generationen in einer Person zusammen. Da macht sich Ana als dreissigjährige Frau ihre Gedanken über ihre Kindheit. Da erscheint aber auch Anas Mutter, über deren Tod die Neunjährige nicht hinwegkommen kann. Im Mittelpunkt aber steht das Kind Ana (unwahrscheinlich präzis und eindrücklich gespielt von Ana Torrent), ein überaus sensibles Mädchen, das in seinem Elternhaus Dinge sieht und hört, die es nicht begreift und Vorgänge wahrnimmt, die es beunruhigen. Ana erhält unerlaubt Einblick in eine Welt der Erwachsenen, die ihr fremd ist. Der Vater hasst seine Frau, er liebt eine andere. Nach dem Tod der Mutter, für den Ana den Vater verantwortlich glaubt, fühlt sie sich von niemandem mehr verstanden. Während die ältere und die jüngere Schwester unbeschwert miteinander spielen und herumtollen, zieht Ana sich mehr und mehr zurück in die Isolation, in eine Traumwelt, in der sich Traum und Wirklichkeit vermischen. In den dunklen, kalten Räumen dieses Hauses ist der Tod fast allgegenwärtig. Ana bildet sich gar ein, sie habe die Macht, Menschen sterben zu lassen, mit Hilfe eines geheimnisvollen Pulvers. Der Tod des Vaters bestärkt sie in diesem Glauben.

Saura hat diese Geschichte in düsteren Bildern inszeniert. Über allem liegt der Gesichtsausdruck der kleinen Ana. Ihre grossen dunklen Augen, deren Blick ins Leere zu gehen scheint; das oft sprachlose Gesicht, das sich nach innen wendet, prägen sich dem Zuschauer tief ein. Saura zeichnet ein pessimistisches Bild einer Kindheit und einer Familie. Für ihn ist die Kindheit nicht jener paradiesische Zustand, wie ihn sich Erwachsene sonst gerne vorstellen.

Elisa, vida mia

1977. Buch: Carlos Saura; Kamera: Teo Escamilla; Musik: Darsteller: Fernando Rey (Luis), Geraldine Chaplin (Elisa), Norman Briski (Antonio), Isabel Mestres (Isabel), Joaquin Hinojosa (Julian), Francisco Guijar (Arzt); Produktion: Elias Querejeta, Madrid; 125 min., c, Verleih: Citel Films Genf.

Auf einer schmalen, staubigen Strasse irgendwo im kastilischen Hochland fährt ein Auto durch die einsame Landschaft. Vor einem alleinstehenden kleinen Haus wird gestoppt, und es steigen ein Mann (Antonio), zwei Frauen (Elisa und Isabel) und Kinder aus. Ihr Besuch gilt einem alten Mann, Luis, dem Vater der beiden Frauen. Am Abend fährt der Wagen weg aber eine Frau, Elisa, bleibt zurück. Sie ist hierhergekommen, um sich über sich und ihre kriselnde Ehe klar zu wer. den. Sie weiss kaum, was sie hier erwartet, denn sie hat ihren Vater seit Kindsbeinen, seit rund 20 Jahren, nicht mehr gesehen, weil er damals von Frau und Kindern weggegangen ist. Seit einiger Zeit lebt er nun in diesem eher ärmlich wirkenden Haus, allein, damit beschäftigt, in aller Ruhe zu denken und zu schreiben. Mit der Ankunft der Tochter beginnt für beide eine Phase des Sichkennenlernens. Vater und Tochter treten aus ihrer Einsamkeit heraus, finden sich, indem sie auf langen Spaziergängen und in abendlichen Gesprächen Bilder der Erinnerung wachrufen. Szenen aus Elisas Kindheit werden lebendig. Was sie damals nicht begreifen konnte — das jähe Weggehen des Vaters — beginnt sie jetzt zu erahnen und zu verstehen. Die Erinnerungen spiegeln und brechen sich mit Bildern aus Träumen, mit Visionen. Die verschiedenen Ebenen durchdringen sich kunstvoll zu einem Ganzen, in dem der Zuschauer diese Ebenen nicht immer mehr bündig auseinander zu halten vermag, in dem er ein Quentchen Geheimnis akzeptieren muss.

Saura taucht mit seinen aus weitgehend dunklen Farbtönen komponierten Bildern in ein Universum der Gefühle ein. Und mit dem immer wieder irritierenden Erzählfluss setzt er Impulse und Assoziationsketten frei, die von Betrachter zu Betrachter unterschiedlich verlaufen dürften.

Los ojos vendados

1978. Buch: Carlos Saura; Kamera: Teo Escamilla; Darsteller: Géraldine Chaplin (Emilia), José Luis Gomez (Luis), Xabier Elorriaga (Manuel), Andre Faicon (Anwalt), Lola Cardona (Tante), Manuel Guitian (Onkel), Carmen Maura (Krankenschwester); Produktion: Elias Querejeta, Madrid; 98 min., c, Verleih: Citel Films, Genf.

Hans M. Eichenlaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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