MARTIN SCHAUB

«IM NORDEN DER STADT SCHNEIT ES» — CLEMENS KLOPFENSTEINS GESCHICHTE DER NACHT

CH-FENSTER

Natürlich bestand der Reiz beim Machen von Geschichte der Nacht auch in der Spannung während der Zeit, als die Aufnahmen jeweils im Labor waren: War überhaupt etwas drauf auf dem Film? Waren die Entwicklungsvorschriften (Kodak 4X, auf 800 oder 1200° ASA «gestossen») einigermassen richtig gewesen? Doch Geschichte der Nacht ist nicht ein Film aus Reizen (Filmen in «unmöglichen Lichtverhältnissen»), sondern der Ausdruck einer Faszination. Sie teilt sich mühelos mit. Sie ist der «Inhalt» des Films.

Die frühen Filme der AKS-Filmgruppe (Urs Aebersold, Clemens Klopfenstein, Philip Schad) lassen bereits etwas ahnen von der Nachtfaszination Clemens Klopfensteins, der meistens für das Bild verantwortlich war. Schon 1967 kam die Nacht in den Titel einer Etüde (Lachen, Liebe, Nächte); deutlich wurde die Anziehung der Nachtschatten in Klopfensteins Schulfilm Nach Rio, einem nächtlichen Serie noir-Filmschluss von 16 Minuten Dauer, und in dem Bericht über den Tod eines Basler Tingeltangel-Lokals, Variete Clara.

Am deutlichsten näherte sich Klopfenstein dem Thema als Zeichner, Maler und Fotograf. 1975 zeigte er Arbeiten, die zwischen 1972 und 1975 in Italien entstanden waren: Federzeichnungen, Acryl-Bilder und Fotografien. Die Zeichnungen und Gemälde umkreisten drei Themen: sie zeigten bizarre, an Piranesis Kerkerbilder erinnernde Bühnenlandschaften, weite Meeresstrände (mit Landungen und Aufbrüchen) und Schattenstudien. Einige Phasenbilder mit dem Titel Der Tag ist vergangen hielten den Lauf des Tages am Gang der

Schatten auf Gebäuden fest. Die Fotografien: Nachtbilder, Innen- und Aussenaufnahmen (Strassen und monumentale Architektur) unter dem Titel Paese sera.

Von diesen Fotografien führt eine direkte Verbindung zu Geschichte der Nacht. Es gibt da auch eine zwölfteilige Serie unter dem Titel «Filmidee»; sie weist noch Reste konventionellen Erzählens auf; eine in der Nacht (und im Kino) spielende Geschichte eines «rendez-vous manqué» wurde andeutungsweise erzählt. Nun ist daraus eine Geschichte der Nacht geworden; die handelnden Personen sind verschwunden ... oder auf die «nähere Seite» der Kamera, der Leinwand getreten.

Die Schattenbilder und Töne, die Klopfenstein mit seinem Tontechniker Hugo Sigrist und wechselnden anderen Mitarbeitern in den verschiedensten Städten und Dörfern - jedoch nicht in offenen Landschaften - Europas gesammelt hat, wachsen in Geschichte der Nacht zu einem äusseren und inneren Schauplatz zusammen. Wie Leopold Bloom in Joyce’s Ulysses geht und tastet sich Klopfenstein durch nächtliche Städte, und «automatisch» entsteht eine imaginäre weitläufige namenlose Stadt «Im Norden der Stadt schneit es» - Godards Kommentarsatz aus Alphaville ist mir zum Beispiel bei dem Winterbild eines Bahnhofs und seiner Zubringerstrassen in den Sinn gekommen. Dass es der Zentral-bahnhof von Warschau «ist», spielt überhaupt keine Rolle mehr. Entfernteste Schauplätze und Töne amalgieren zu einem einzigen «Weltinnenraum», zu der Fiktion der Nacht. Die Töne lösen diesen Prozess ebenso aus wie die «weiche» Montage, die die Tag-Geographie zugunsten einer abstrakteren und sinnlicheren Ordnung aufgibt Es gibt zwar Originaltöne in Geschichte der Nacht, aber sie sind in der Minderzahl. Sie sind ebenso assoziativ montiert wie die Bilder. Es kann vorkommen, dass türkische Gesprächsfetzen über Bildern aus Belfast liegen. Das allerdings interessiert den Zuschauer gar nicht mehr; er gibt das «Heimweisen» der Bilder und Töne auf; es zählt nur die Stimmigkeit. Die «kleine Nachtmusik» auf der Tonspur definiert und unterstreicht die Bilder nur selten; sie verbindet sie zu einer Welt.

Der Ton lässt sich am ehesten vergleichen mit den Geräusch-Collagen von Luc Ferrari. Fugenlos gehen die «dokumentarischen» Töne in die Musik der «Third Ear Band» über, in die Fiktion sozusagen. Der Ton zeichnet suggestiv den Weg vom Wirklichkeitsabbild in die «Unwirklichkeit» (oder den Weg von aussen nach innen) vor.

Nie ist im Film der Mann hinter der Kamera so gegenwärtig wie bei Nachtbildern. Nur Nachtbilder «machen sich nicht selber». Klopfenstein unterstreicht seine Anwesenheit zu verschiedenen Nachtstunden an unzähligen Schauplätzen der Nacht durch leichte, unwillkürliche, «anthropomorphe» Kamerabewegungen. Er hält seine «Bolex» frei in der Hand; sie ist sein Auge, keine Maschine. Jedes Bild wird so eine Begegnung (der dritten Art) mit Dingen und Menschen, die sich nur nachts allein, rein, das heisst ohne beengenden, bestimmenden Funktionszusammenhang, «frei» zeigen. Man spürt die Atembewegungen des Beobachters, sein Frösteln; manchmal meint man sogar ein wenig Angst vor dem Unheimlichen oder doch mindestens ein kurzes Zaudern mitzufühlen.

In dem in kurzer Zeit zu einem kleinen Bestseller avancierten Buch Die MIGROS-Erpressung, einem scheinbar leicht und sorglos produzierten (Film-) Roman von Clemens Klopfenstein und Markus Nester, kommt der eine der Erpresser und fiktiven Autoren, Ge., eben aus Italien zurück; der andere, Markus, hat die Schweiz nie verlassen. Ge. will im Grunde nichts anderes als wieder nach Italien zurück; Markus wird die Schweiz voraussichtlich nie verlassen. Ge. erleidet die Aggressionen eines wohlorganisierten, aufs Funktionieren getrimmten Systems extrem; Markus macht es sich zunutze, sieht genau seine Verwundbarkeit: alles ist in der Schweiz voraussehbar und berechenbar. Die Schweiz ist ein Tag-Land. Ge. sehnt sich nach einer Stadt, in der er nicht einmal mehr die Anschriften und Zeitungen lesen kann, nach der Fremde. Clemens Klopfenstein ist da unschwer zu erkennen. Ihm erscheint die Schweiz gerade noch zu den Nachtstunden als zur Welt gehörig, dann nämlich, wenn die verwalteten Stadtlandschaften auch hier Weite und Fremdheit zurückgewinnen. Nur aus der nächtlichen Schweiz ist ein schmerzloser Ausbruch möglich in die nordischen hellen Nächte und die südlichen schwarzen.

Klopfenstein hat seine Faszination, die Beschreibung des Zentrums seines Innenraums mit der grösstmöglichen Mobilität erreicht. In diesem Innenraum und in der Projektion dieses Innenraums fliessen die entferntesten Dinge ineinander. Womit wir zu dem Gang von Mr. Bloom durch Dublin zurückgekehrt sind, während dem alles, die ganze Erinnerung der Menschheit, Mythen, Geschichte, Gegenwart, im Brennpunkt eines einzigen Intellekts und einer einzigen Sensibilität sich bündelt.

Der Autor (der Zuschauer) ist während 60 Minuten in Irland und England, in Schweden, Polen, der Tschechoslowakei, der Türkei, Griechenland, Jugoslawien und Basel - aber er ist auch immer bei sich selber. Eine Art magische Verinnerlichung findet statt, wenn der Zuschauer wirklich zu hören und zu schauen beginnt. Assoziativ montierte und gemischte Töne und Bilder, die - schon auch wegen ihres schwebenden Korns - in keinem Moment zur Ruhe kommen, lösen eine Bewegung - nach innen und nach aussen - aus, eine erhöhte Sensibilität. Man spürt sich durch Klopfensteins Geschichte der Nacht intensiver; man verliert sich in Erinnerungen und Vorstellungen und findet sich als Subjekt, als Autor dieser Erinnerungen und Vorstellungen.

Wie sehr man eine Stunde lang in Bewegung war, schliesslich - im vorletzten Bild - mit einem Vogelschwarm über der Stadt, spürt man im letzten Bild: wo Film plötzlich zu Fotografie wird. Das Korn des Schlussbildes steht still - ein fast schmerzlicher Moment.

Geschichte der Nacht. B, K, P: Clemens Klopfenstein; Ton Hugo Sigrist; Schnitt: Jean Pierre Grumbach, H. Sigrist; Musik: Third Ear Band, Ussak Mevlevi Ayini; weitere Mitarb.: Verena Brunner, Serena Kiefer 16 mm, sw, 63 Minuten

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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