CORINNE SCHEITERT

FLIESSBANDKINO FÜR JEDERMANN — DER INTERNATIONALE FILM

ESSAY

So wie das «global village» gibt es auch den «globalen Film», der im Hinblick auf riesige Absatzmärkte gezielt «international» konzipiert wird. Diese marktstrategisch ausgeklügelten Fliessbandprodukte sind Aktionsstreifen mit diversen Stars und möglichst exotischen Schauplätzen, die auch für einen «halben Analphabeten in Uruguay» (so die Definition in einem Artikel der New York Times) attraktiv sein sollen.

Eine Produktionsfirma, die solcherart weltweit zu beglücken ausgezogen ist, ist die ITC Entertainment, eine Zweigfirma der ACC (Associated Communications Corporation), als dessen Oberhaupt Sir Lew Grade (in gewissen Kreisen auch Sir Low Grade [= tiefrangig] genannt) amtiert. Ähnlich wie die Warner Communications in den USA umfasst diese britische Gesellschaft praktisch alle Medien wie Film, Theater, Musik, Schallplatten, Bücher und besitzt auch Lichtspielhäuser. Kürzlich hat sie zusammen mit EMI die AFD (Associated Film Distribution Inc.) gegründet, eine Filmverleihgesellschaft ausschliesslich für die Vereinigten Staaten und Kanada - ein weiteres Indiz dafür, dass hier eine Mammutoperation im Gang ist.

Vergangene Präsentationen der ITC: The Voyage of the Damned, The Cassandra Crossing, The Boys from Brazil. Künftige: The Muppet Movie, Firepower, Escape to Athena und Raise the Titanic ... die Titel allein künden schon an, dass hier «blockbusters» drohen oder wenigstens damit spekuliert wird.

Sir Lew Grade schreibt denn auch in einer Werbebroschüre für Verleiher: «... auch bin ich in der Lage, das Versprechen zu wiederholen, das ich letztes Jahr in Cannes gab, nämlich das Versprechen einer laufenden Produktion von ausgezeichneten Kassenerfolgen.» Lord Grade «verspricht» den Verleihern Kassenerfolge und wir, das Publikum, helfen ihm dabei.

Treuherzig wird weiterhin in der Broschüre verraten, was mittlerweile jedes Kind weiss: «Heutzutage genügt es nicht, nur einen Film zu machen. Er muss auch entsprechend verpackt und vermarktet werden, um den Ansprüchen eines weltweiten Publikums zu genügen.» Aussergewöhnlich an dieser Erklärung ist eigentlich nur, dass das Publikum scheinbar überhaupt keine Ansprüche mehr auf das Produkt, sondern nur noch auf dessen Verpackung erhebt.

Einer für alle: The Boys from Brazil

The Boys from Brazil unter der Regie von Franklin J.Schaffner ist der Definition nach ein internationaler Film. Drei Stars (Gregory Peck, Laurence Olivier, James Mason), viele Schauplätze (Wien, London, Pennsylvania USA und Paraguay, letzterer in Portugal nachkonstruiert), eine spannende Story mit aktuellen Bezügen basierend auf dem gleichnamigen Bestseller von Ira Levin und authentischen (Josef Mengele) und halbauthentischen (Ezra Liebermann alias Simon Wiesenthal) Figuren.

Dass der Film kein «ausgezeichneter Kassenerfolg», sondern nur ein mittelmässiger wurde, tut in diesem Zusammenhang nichts zur Sache. Die Gründe dafür lassen sich auch leicht finden: Die Story ist zu kompliziert, zu literarisch; die dramatischen Höhepunkte wurden von Schaffner ohne Sinn für Spannung und Timing inszeniert. Boys from Brazil ist zwischen zwei Kinostühle gefallen: Zu anspruchsvoll für einen richtigen Reisser, zu reisserisch für einen guten Kinofilm. Aber der Anspruch, die Ingredienzen und Voraussetzungen für einen Kassenschlager sind da.

Das Produkt ist insofern eine perfekte Fliessbandarbeit, als es aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt scheint und nirgends die Handschrift eines Regisseurs, Kameramanns oder Drehbuchautors erkennen lässt. (Dies erstaunt vor allem beim Kameramann Henri Decae, von dem man sonst sicher sagen kann, dass er einen Stil hat.) Wahrscheinlich müssen bei solchen Filmen die Ausführenden Lord Grade versprechen, dass sie jede Kunst und Phantasie fahren lassen.

Das Hilton-Syndrom

Dekor und Ausstattung sind die eigentlichen Stars dieses Films. Von den insgesamt 12 Millionen Dollars Produktionskosten gingen allein 2 Millionen für die wenigen Szenen in Portugal drauf, wohin u. a. für 50 000 Dollar tropische Pflanzen importiert wurden.

Das Merkwürdige an diesen «internationalen» Schauplätzen, ob nun original oder nachkonstruiert, ist, dass sie so typisch sind, dass sie schon wieder befremden. Sie sind halt typisch auf amerikanische Art, wie die Hilton Hotels, die in den verschiedenen Ländern die jeweilige Folklore in die Ausstattung nur gerade so weit integrieren, dass sie für einen Fremden, sprich amerikanischen Touristen, noch tragbar ist.

Paraguay alias Portugal präsentiert sich als das Südamerika der Matineefilme. Wichtig ist jedoch nicht, dass dieser Ort mit der Wirklichkeit übereinstimmt, sondern dass er sich mit den Vorstellungen des allgemeinen Publikums deckt. Die Künstlichkeit hat auch ihren Preis: Als Mengeles Villa in Brand gesetzt wird, fliegen keine exotischen Vögel aus den Büschen auf, sieht man keine Indios aus dem Lager davonrennen. Dafür gibt es, um die teure Rekonstruktion auszunützen, einen pompösen, völlig überflüssigen Kameraschwenk von einem Strassencafé mit Namen «Old-Heidelberg» vorbei an einer Stierkampfarena, wo gerade ein Kampf ausgetragen wird, den Strassen entlang zu einem Flugplatz, ohne dass sich dort irgendetwas von Bedeutung abspielen würde.

Die Ankündigung von Standard-Schauplätzen erfolgt durch die üblichen Reizbilder: Für Wien gibt es eine Strassenbahn mit Walzermusik, bei London fährt erst ein Doppeldeckerbus vorbei und gibt den Blick auf einen echt britisch angezogenen Gentleman frei. Das Typische wird zum Stereotyp und mündet in Idiotie: In Deutschland, wo durchweg Lodentrachten getragen werden, muss das Opfer noch echt bajuwarisch rülpsen, pissen und einer Serviertochter an den Busen langen, bevor es sterben darf.

Was nicht heissen will, dass Ausstattung, Dekor und Requisiten nicht äusserst akkurat und geschmackvoll sind - aber sie sind so steril wie die filmische Methode, mit der einem die grosse weite Welt um die Ohren geschlagen wird.

Peinlich werden solche Filme immer dann, wenn die Macher vom Schema abweichen und sich etwas «Cineastisches» leisten wollen. Da ist etwa die Traumsequenz, die Mengeles Wahnsinn illustrieren soll: Während der desperate Mengele mit der Taschenlampe die Wände seines Labors abtastet, jagen sich in raschen Schnitten Rückblenden und Halluzinationsbilder; ein Nationalsozialismus-Potpourri mit KZ-Operationstisch, Hakenkreuzen, bayrischen Souvenirs und Klein-Hitlers gebärenden Frauen.

Experimentierfeld für Schauspieler

Franklin J. Schaffner ist ein uninspirierter, unsinnlicher Regisseur, der mit immer grösseren Budgets zunehmend fad geworden ist. Bezeichnenderweise hat er sich vor allem mit Theaterinszenierungen und Kinoadaptionen von Broadway-Erfolgen einen Namen gemacht. Aber er hat immerhin eine gute Hand mit Schauspielern, oder besser, er lässt sie machen. (Schaffner in einem Interview: «Die Hauptaufgabe des Regisseurs ist, eine Atmosphäre zu schaffen, die so beruhigend ist, dass sich die Schauspieler ... ganz auf ihre Kunst konzentrieren und somit ihr Bestes und Aussergewöhnlichstes geben können. Ein Regisseur muss nur den Weg dazu ebnen.»)

Hier geschehen denn auch kleine Wunder, wie sie in diesen vorfabrizierten, auf Stars ausgerichteten Filmen nicht selten sind. Ein guter Schauspieler kann ungestört mit seiner Kunst und Verwandlungsfähigkeit experimentieren, kann (muss) gegen die Mediokrität anspielen und dank ihr die Aufmerksamkeit ganz auf sich ziehen. Hier - in diesem kunstleeren Raum - zeigt sich klar der Unterschied zwischen einem bloss zuverlässigen und einem erfindungsreichen Darsteller.

Gregory Peck als der irrsinnige KZ-Arzt Dr. Mengele, der zur Aufrechterhaltung der arischen Rasse und insbesondere zur Fortpflanzung seines Führeridols kleine Hitlers durch das Cloning-Verfahren erzeugt(die mononukleare Reproduktion, ein wissenschaftliches Schreckgespenst, mag manchen Zuschauer etwas irritiert haben), freut sich ganz naiv, einmal gegen seinen Typ den Bösewicht spielen zu dürfen und liefert bloss einen sattsam bekannten hollywoodschen Nazi-Aufwasch mit fanatischem Blick, strammen preussischen Bewegungen und einem miserablen deutschen Akzent. Laurence Olivier hingegen als Ezra Lieberman, der alte, müde Jäger, der dem teuflischen Plan fast wider Willen auf die Spur kommt, findet wie immer die Kraft, etwas zu tun, was er noch nie getan hat. Nachdem er gerade noch in The Marathon Man virtuos einen Nazi gespielt hat, gibt er nun eine perfekte, an Albert Basserman orientierte Kopie des freundlich-schlauen, tief humanen, aber doch schon etwas schrulligen und querulanten Wiener Juden, eine Rolle, die er bis hin zur Falsetto-Stimme und den fahrigen Bewegungen vollkommen beherrscht. Da gibt es eine Szene im Gefängnis, wo er einer ehemaligen KZ-Wärterin gegenübergestellt wird und mühsam seinen physischen Ekel unterdrücken muss. Als sie ihn beschimpft, da verändert sich plötzlich seine Haltung, da wird seine zittrige, leidenschaftslose Stimme plötzlich stark und drohend, als er sagt: «I shall leave here - but you are not going anywhere!» Olivier kann einen Satz so sagen, dass er einem Schauer über den Rücken jagt.

Das Aufregende hier ist nicht die Figur des Ezra Lieberman, sondern Laurence Olivier, der einen Juden spielt.

Eine andere Variante, wie man sich aus der Affäre ziehen kann, demonstriert James Mason, der mit viel Humor seine Verachtung für die Rolle zeigt. Er lässt den Zuschauer spüren - ohnehin ein Film, bei dem die Stars Preisschilder tragen sollten -, dass er genau weiss, auf was er sich da (für Geld) eingelassen hat und aus seiner dummen kleinen Rolle das Beste macht. Und wie er das macht! Er spielt einen aristokratischen SS-Offizier, der sich angewidert mit dem fanatischen Mengele herumschlagen muss. Mason gibt der Figur einen effeminierten Touch (die Kostümierung mit Safarijacke, Goldkette, Seidenfoulard und Gucci-Tasche ist allein schon urkomisch), und wenn er dem aufgeregten Mengele zuhört, dirigiert er mit weicher Hand zu Wagnermusik. Mason macht das gerade so subtil, dass Eingeweihte den Gag merken, Uneingeweihte ihn aber noch ernst nehmen können.

Ideologie als Ware

Der Nationalsozialismus ist ja schon längst eine Ware, ein leicht konsumierbares Produkt, eine Comicstrip-Mythologie geworden. Es ist daher immer wieder amüsant (oder deprimierend, je nachdem) zu beobachten, wie Klischees perpetuiert und das Phänomen auf seine Postkarten-Elemente reduziert werden.

Die forschen Neo-Nazis in Paraguay haben alle harte, wie holzgeschnitzte Dressman-Gesichter und tragen Namen wie Kleist (!), Hessen und Schwimmer. Der Jargon ist diesen Fanatikern natürlich immer zuvorderst, und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit reden sie vom Vierten Reich und vom Ungeziefer (die Juden). Die ehemalige KZ-Wärterin weint selbstverständlich nur um ihren toten Hund, einen Dobermann mit Namen «Schatzie».

Mengele sagt einmal im Film: «Sie zeigen jetzt wieder Filme über Hitler am Fernsehen, und die Leute sind fasziniert.» Ein wahres, prophetisches Wort! Denn genau mit dieser Faszination wird, wie schon in «Holocaust», auch in The Boys from Brazil spekuliert.

Die letzten, unsterblichen Zeilen aus dem jüngsten ITC-Prospekt: «Wir dürfen das ‹Image› eines Films nicht vergessen ... Jede Anstrengung wird unternommen, um sicherzustellen, dass sich die Trailers, Plakate und Aushängefotos von alleine verkaufen. Aber die Werbegeschmäcker sind auf der ganzen Welt verschieden, und darum offeriert ITC verschiedene, auswechselbare Werbekampagnen. Ein in London, Frankreich oder Italien zurückgewiesener Poster kann in einem anderen Land mühelos Kinoplätze verkaufen.» Eben, zum Beispiel in Uruguay!

The Boys from Brazil. Präsentiert von Sir Lew Grade/Eine Producer Circle-Production; Produzenten: Martin Richards, Stanley O’Toole; Ausführender Produzent: Robert Fryer; R: Franklin J. Schaffner; B: Kenneth Ross und Heywood Gould, nach dem gleichnamigen Roman von Im Levin; K: Henri Decae; M: Jerry Goldsmith; Schnitt: Bob Swink; Bauten: Gil Parrondo; D: Gregory Peck, Laurence Olivier, James Mason, Lilli Palmer, Uta Hagen, Bruno Ganz u. a.

De Luxe/Technicolor, 124 Minuten; Verleih für die Schweiz: Starfilm GmbH, Zürich.

Corinne Scheitert
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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