BERNHARD GIGER

DIE SCHWEIZ VOM FLIESSBAND — BILDER AUS DEM EIGENEN LAND IM FERNSEHEN DRS

ESSAY

Ein Bild aus der Schweiz: Peter Müller am Lauberhorn, in der letzten S-Kurve vor dem Ziel. Hier hat er am vorderen Tag den Sieg an einen Kanadier verschenkt, jetzt fahrt er so, als ob es für ihn nur noch zwei Möglichkeiten geben würde - stürzen oder siegen. Er stürzt nicht, das heisst, seit vielen Jahren gewinnt erstmals wieder ein Schweizer die Lauberhornabfahrt. Ein anderes Bild: der ehemalige Rennfahrer Bernhard Russi in seiner Diskothek in Andermatt. Er verteilt Autogramme und lacht das Lachen, mit dem Auto- und andere Firmen ihren Umsatz steigern.

Zwei Bilder, die eigentlich zusammengehören, aber nicht zusammenkommen können. Hierfür gibt es ein paar vorerst einleuchtende Gründe: die Zeit - einige Wochen -, die zwischen der Ausstrahlung der beiden Bilder liegt, die verschiedenen Sendegefässe - Direktübertragung vom Lauberhom und Vorabendsendung Blickpunkt. Zudem sind jene, die für die Bilder aus Wengen verantwortlich sind, Sportjournalisten, und als solche auch irgendwie Entertainer, jene hingegen, die Bernhard Russi im Andermatter Downhill beobachten, Journalisten, die sich mit Alltäglichem aus der Schweiz beschäftigen - mit den Skistars als kommerzielle Anreisser zum Beispiel. Entscheidend jedoch ist, dass diese Trennung von Bildern im Fernsehen geradezu selbstverständlich geworden ist, weil das Fernsehen, so wie es heute funktioniert, Zusammenhänge gar nicht herstellen kann.

Jede Sendung hat ihren festen Platz in einem der wie Zellen voneinander abgeschlossenen Gefässe, ihr Spielraum ist von vornherein bestimmt - das CH-Magazin geht nicht nach Wengen, und Kurt Felix stellt die versteckte Kamera nicht im Nationalratssaal auf. Die Sendegefässe garantieren zwar eine Vielfalt im Programmangebot, verunmöglichen andererseits aber Querverbindungen.

Eine unbewegliche Programmstruktur, ein Zeitplan, der für Spontaneität und Improvisation keinen Raum lässt, Sendungen, die in Zellen passen müssen, isolierte Bilder und schliesslich Produktionsbedingungen, die Entdeckungen - Seitensprünge - während der Realisation nicht zulassen: das Fernsehen ist eine Fabrik. Die Eigenproduktionen von Fernsehen DRS - unser täglich Brot - eine schweizerische Selbstdarstellung vom Fliessband.

Das Bild der Schweiz im Hauptprogramm entspricht dem Bild, das sich die Mehrheit der Zuschauer von der Schweiz macht. Es ist ein vielfarbiges Bild, auf dem auch die dunklen Töne nicht fehlen, aber es ist ein Bild, das vorgibt, aussergewöhnlich, noch mehr, einmalig zu sein: in der Schweiz ist alles anders, Vergleiche mit dem Ausland sind hinkende Vergleiche. Die Schweiz ist eine Insel.

In den Unterhaltungssendungen - den Sendungen, und das sind die meisten, die einfach nur darauf aus sind, dem Zuschauer die Zeit zu vertreiben - wird zwar Volkstümliches mit Internationalem vermischt, doch das Volkstümliche bleibt immer prägend, während das Internationale mehr dekorativ ist. Diese Volkstümlichkeit aber hat kaum mehr etwas zu tun mit dem gewöhnlichen schweizerischen Alltag, sondern vielmehr mit den schweizerischen Vorstellungen über die Vorstellungen, die man sich im Ausland über die Schweiz macht: mit dem Bild etwa des sympathischen Hinterwäldlers, der seine Weltfremdheit mit Bauernschläue überspielt.

Das Bild der Schweiz in den Unterhaltungssendungen verdeckt die heutige schweizerische Wirklichkeit, täuscht Heimat vor, wo doch längst keine mehr ist. Wie kaputt diese ist, spürte ich selten so stark wie in den Samstagabend-Shows von Kurt Felix und Max Sieber. Mit kalter Routine und grossem Aufwand wird da Dorftheater gemacht, das internationalen Standards nachrennt und doch vorgibt, dem Volk auf den Mund und in das Herz zu schauen. Das ist es nun wirklich: Ausverkauf der Heimat.

Weil in der Schweiz heute offenbar kaum mehr etwas da ist, woran man sich noch halten könnte, weil man sich scheut vor der Suche nach einer neuen Heimat, nach einem Ort, wo man sich zuhause fühlt und einen die Unruhe nicht gleich wieder wegtreibt, weil die Angst vor der falschen Bewegung noch stark und die langsame Erstarrung im Wohlstand noch nicht unerträglich ist, hält sich die Mehrheit der Fernsehzuschauer, häufig zwar lustlos, an das Bild, das ihnen das Fernsehen von der Schweiz anbietet - das falsche Heimatbild, das Bild von der Insel wird so zum Leitbild. Das Fernsehen zur Werbeagentur für die schweizerische Eigenart.

Möglichkeiten, dieses Bild im Fernsehen selber zu korrigieren, gibt es, auf den ersten Blick wenigstens, mancherlei. Sie bieten sich an bei den politischen Magazinen CH und Rundschau, bei Vorabendsendungen wie Blickpunkt und Kassensturz, bei der Tagesschau und bei den Produktionen der Abteilung Dramatik. Obschon sie, wiederum auf den ersten Blick, oft genutzt werden, bleiben sie meistens ohne Wirkung. Auch die lebendigste Telearena (über Homosexualität), auch das bissigste CH-Magazin (über diskriminierte Kommunisten), und auch die ergreifendste Rundschau (über die Hungersnot in Kambodscha) vermögen die Sehgewohnheiten der Fernsehzuschauer nicht zu brechen - die schwule Sau sitzt noch immer jeden Tag im Stammlokal, Kommunisten sind noch immer vom Ausland bezahlte Lügner, und Kambodscha liegt noch immer am Ende der Welt.

Hinter dem Leitbild Schweiz verbergen sich zwei der schlimmsten schweizerischen Eigenschaften: Stolz und die Unfähigkeit zur Selbstkritik. Das Bild der Schweiz im Fernsehen - das Bild einer Ersatz-Welt - bestätigt die letzten von der Wirklichkeit noch nicht ausgelaugten nationalen Träume und verdrängt die unbequeme Frage nach der Schweiz heute die quälende Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens. Diese Fragen provozieren - dafür braucht es zwingende, unwiderlegbare Bilder. Im Fernsehen aber, auch in Sendungen, wo man sie eigentlich erwarten würde, sind Bilder dieser Art nur ganz selten zu sehen.

Es ist - im Blickpunkt und ganz besonders in der Tagesschau - geradezu ein Stil des Fernsehens geworden, dass Bilder nicht ohne Worte auskommen. Oft sind sie nichtssagend und austauschbar, so dass der Kommentar zur Hauptsache und die Bilder zur Illustration werden. Die einzigen paar Bilder, die in der Tagesschau hängen bleiben, sind die plakativen, die sensationellen: ein toter Freiheitskämpfer in San Salvador, ein von den Roten Brigaden erschossener Professor der Römer Universität. Ähnliche Bilder aus der Schweiz gibt es nicht, man ist hier noch nicht zum offenen Kampf übergegangen - gäbe es nicht dann und wann im Jura ein paar Fanatiker und in der Bewegung gegen Atomkraftwerke ein paar Feuerwerkler, würde die Schweiz wohl endgültig zum langweiligsten Tagesschau-Thema absinken.

Ganz anders beim Blickpunkt. Da ist die Schweiz das einzige Thema, da wird Tag für Tag zehn Minuten lang schweizerischer Alltag beobachtet. Godard sagte einmal, dass er Direktor der französischen Wochenschau werden möchte -ich glaube, mit einer Sendung wie dem Blickpunkt wäre er auch zufrieden gewesen. Keine andere Sendung im Programm des Fernsehens DRS kann so direkt an der Korrektur des Fernsehbildes der Schweiz arbeiten wie der Blickpunkt. Während das CH-Magazin an innenpolitische Ereignisse und Entwicklungen gebunden ist, kann sich der Blickpunkt mit ganz Privatem beschäftigen, mit den kleinen Problemen, die eigentlich kaum der Rede wert sind. Im Blickpunkt ist das Fernsehen dem Leben in der Schweiz am nächsten.

Offenbar aber doch noch zu weit weg. Zu spüren jedenfalls ist von dem Leben in der Schweiz nur sehr wenig. Viel stärker spürt man die Lustlosigkeit - oder ist es die Routine -, mit der da Bilder gesucht und genommen werden. Man kann zwar vom Fernsehen - in seiner heutigen Form - nicht verlangen, was man von einem Dokumentaristen verlangt, die Produktionsbedingungen lassen ausführliche Recherchen und die sorgfältige Ausarbeitung einer Einstellung nicht zu. Andererseits ist das Fernsehen heute, was die Arbeit ausserhalb des Studios an Originalschauplätzen angeht, auch nicht mehr so schwerfällig wie früher. Aber eine leichtere Kamera genügt halt noch nicht, um bessere Bilder zu machen, man muss diese besseren Bilder auch noch machen wollen. Das schmerzt manchmal schon fast, wenn man sieht, wie im Blickpunkt neben starken Bildern vorbeigefilmt wird, wie man sich zufrieden gibt mit ein paar allgemein verständlichen optischen Zeichen, wie man sich auf den Kommentar verlässt, der später über die Bilder gelegt wird.

Es ist auffallend, dass die Bilder jener Filmemacher, die nicht nur für das Fernsehen arbeiten, häufig stärker sind als die der Fernsehmitarbeiter. Es gibt zwar Ausnahmen, etwa die Dokumentarfilme Alois von Tobias Wyss und Wenn es unmöglich erscheint, ein Leben zu leben von Marion Bomschier und Urs Brombacher. Die meisten innerhalb des Fernsehens realisierten Sendungen aber zeugen von den Zwängen, die jede unübliche Arbeitsweise verhindern: das Fernsehen kann auch wenn es einzelne Mitarbeiter immer wieder versuchen sich selber, die eigene Arbeit, die eigenen Bilder, nicht korrigieren. Es ist gefangen in den selber entwickelten Produktionsformen.

Neben dem Zwang, Fliessbandarbeit zu leisten, gibt es aber noch einen anderen, die Freiheit und die Phantasie der Fernsehmitarbeiter oft noch viel stärker einengenden Zwang. Das Fernsehen wird überwacht, es ist einer alles anderen als konstruktiven Kritik von Leuten ausgesetzt, denen es nicht um die Bilderarbeit geht, um den Versuch, mit Bildern Denkprozesse auszulösen, sondern ganz einfach um die Erhaltung dessen, was sie schweizerisch nennen. Die manchmal nur noch hysterischen Reaktionen auf Sendungen wie CH-Magazin, Kassensturz und Blickpunkt - Reaktionen nicht auf die Sendungen an und für sich, sondern auf die von diesen Sendungen behandelten Themen - wirken auf die Dauer lähmend; es gibt heute, und das sind keine Ausnahmen, Sendungen, in denen die Folgen dieser Kritik deutlich zu erkennen sind, Sendungen, denen jede Bemühung, sinnvoll zu sein, fehlt, die nur noch Ausdruck sind einer ängstlichen Zurückhaltung.

Das Leitbild der Schweiz im Fernsehen entspricht dem geistigen Klima in diesem Land. Wer dagegen angeht, wer dieses Bild korrigieren will, handelt unschweizerisch - Bilder gegen das Leitbild Schweiz sind subversiv.

Die Fabrik Fernsehen ist der denkbar ungünstigste Ort, um solche Bilder herzustellen. So wird jeder Versuch, sie dennoch herzustellen, zum kleinen Ereignis. Dies wiederum führt, sowohl bei denen, die dafür verantwortlich sind, wie bei denen, die sich negativ angesprochen fühlen, zu einer falschen Wertung, zu einer Überschätzung der paar Fernsehbilder, in denen schweizerische Wirklichkeit zu spüren ist. Dadurch aber verändert sich nichts, die Fliessbandbilder der Schweiz sind stark genug, um ein paar subversive Bilder zu verkraften. Die kleinen Ereignisse werden in den sonst eintönigen, jede Phantasie abtötenden Fernsehalltag integriert: das Fernsehen als strenger Hüter der Ruhe im eigenen Land.

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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