RICHARD DINDO

DIE LUST AN DER FIKTION

ESSAY

Mehr als die müssige Frage, ob nun der neue Film von Patricia Moraz «gelungener» oder «weniger gelungen» ist als Les indiens sont encore loin, interessiert mich das labile Gleichgewicht der Fiktion in Le chemin perdu, das Abgleiten der Stimmung, das spürbare Ungleichgewicht in Erfindung und Durchführung der Fiktion.

Die Fiktion in Le chemin perdu hat mit dem Imaginären der Kinder Cecile und Pierre zu tun. Bei ihnen ist die Filmemacherin «en pleine fiction». Eigentlich wird die Geschichte des Films von Cecile erzählt. Die Dinge sind also mit ihren Augen gesehen. Im Prinzip. Doch der Autorin gelingt es nicht immer, die Welt der Kinder mit jener der Eltern zu verbinden. Der Blick auf diese Welt wechselt: einmal ist sie mit den Augen der Kinder, ein andermal mit kühlem, distanziertem Blick von aussen gesehen. Manchmal erscheinen die Dinge wie in einem Traum, dann wieder fast naturalistisch. Dann bleiben die Eltern Schauspieler, die Eltern spielen in einer Fiktion, die an ihnen vorbeizieht, in die sie nicht integriert sind. Nun ist natürlich das auch ganz klar ein «Inhalt» des Films: die Kinder leben nicht in der Welt der Eltern und umgekehrt. Weil dieser Inhalt aber zum Teil mit den Augen Ceciles gesehen ist und zum Teil mit den Augen der Filmemacherin, schwankt der ganze Film in störender Weise zwischen der Fiktion (der Kinder) und der Realität (der Eltern). Die Wechsel aber scheinen keinem Gesetz zu gehorchen.

Für Robert Bresson sind, wie man weiss, fast alle Spielfilme «abgefilmtes Theater». Diese Formulierung ruft auch der Frage, woher die Fiktion im Film letzten Endes kommt. Aber diese Frage wird in Le chemin perdu zu wenig klargestellt. Man sieht nur, dass der Film an gewissen Stellen schwächer wird, «abgefilmtes Theater» eben, und dass er immer wieder eintaucht in die «pleine fiction». In den schwächeren Szenen stehen Darsteller im Raum wie auf einer Bühne, in den starken stehen die Kinder sich selbst oder der Erwachsenenwelt gegenüber, sind sie verstrickt in ihre eigene Welt der Fiktion und des Imaginären.

Während man im Dokumentarfilm meistens vor der Frage steht, wer da eigentlich redet, geht es im Spielfilm eher darum, zu spüren und zu merken, von welchem Standpunkt aus die Dinge gesehen sind. Eine klare Antwort auf diese Frage entscheidet oft darüber, ob ein Film stimmt oder nicht, ob er konsequent und kohärent ist und damit über sich hinaus für den Zuschauer bedeutungsvoll.

Le chemin perdu: P: Abilene (F), Cactus-Film (CH), F3 (Belgien), MK2 (F), Saga-Production (CH), R: Patricia Moraz, B: P. Moraz und Serge Schonkine, K: Sacha Vierny, T: Riccardo Castro, L: Beni Lehmann, M: Patrick Moraz, S: Thierry Devocles, D: Ciarisse Barrere, Charles Dudoignon, Charles Vanel, Delphine Seyrig, Mogali Noel, Vania Vüers, Christine Pascal, Verleih: Cactus-Film (Schweiz), MK2 (Frankreich). 35 mm, Farbe, 107 Minuten.

Richard Dindo
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(Stand: 2020)
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