DAVID STREIFF

BEGLEITER UND FREUND: DIE KAMERA

ESSAY

Ritorno a casa beginnt mit einer sehr langen fixen Einstellung, dem Blick auf die Papierfabrik im Solothurnischen, in der die Mutter des Filmemachers Nino Jacusso einen grossen Teil ihres Lebens gearbeitet hat. Wer den ersten Teil des zweiteiligen Films Emigrazione kennt (er wurde vor einem Jahr uraufgeführt), erinnert sich an dieses Bild. Aber auch wer erst jetzt zu Jacussos Zuschauem stösst, muss spüren: diese graue, rauchende Fabrik ist der «point de depart» - für die Familie Jacusso, für den Film. Die nächsten Bilder: Bewegung, Züge, Menschen, ein Zwischenhalt, eine Busfahrt in eine zunehmend karger werdende Landschaft. Dann folgt der Titel: Ritorno a casa. Bevor der Film beginnt, ist die Familie Jacusso, sind wir am Ziel angekommen.

Die Eltern sind Fremde geworden im eigenen Land. Ganz eingliedern werden sie sich nie mehr können. Dennoch ist ihnen Aquaviva Collecroce, dieses kroatische Kaff in einer der ärmsten Gegenden Süditaliens (zwischen Campobasso und Adria) sichtlich vertraut und ohne Rätsel.

Anders geht es dem Sohn: er dringt mittels der ihm vertrauten Sprache in eine Welt ein, die ein Teil von ihm und ihm dennoch fremd ist. Da kommt kein Ethnologe, kein Reporter zu Besuch, sondern ein Mitbürger und Freund, der irgendwie dazu gehört, aber auch noch Augen hat zum Staunen. Und Jacusso gelingt es, seine Kamera wie einen Begleiter und Freund einzuführen, so dass die Zuschauer spontan zu Freunden seiner Freunde werden, zu Gesprächspartnern und stummen Zeugen von Gesprächen, in welchen der Filmemacher die Rolle des behutsamen Dolmetschers übernommen hat. «Freund und Begleiter»: das heisst, dass die Kamera weder weggeleugnet wird, noch sich als Eindringling gebärdet. In ganz natürlicher Weise akzeptieren und wissen die Leute, dass hier einer einen Film mit ihnen macht. Ausserordentlichen Anteil an diesem Ergebnis hat Elio Bisignani, der Kameramann, dessen Bilder genau jene Mischung von Neugier und Zurückhaltung, Distanz und Zärtlichkeit haben, die für Jacussos Vorgehen charakteristisch ist.

Ich kenne kaum einen Dokumentarfilm, wo die Kamera sich mit so viel Geduld und Einfühlung vom Geschehen leiten, aber niemals verwirren lässt. Am herausstechendsten sind vier «plan-séquences»: zwei Gespräche über die Emigration (speziell das lange Tischgespräch), eine Begräbnis-Prozession und ein Sonntagsspaziergang des Autors mit der Dorfjugend, die als ungeschnittene Einstellungen von jeweils rund sechs Minuten Dauer in den Film Eingang gefunden haben.

Der geduldigen und spontanen Kamera entspricht die offene Form des Films: kein starres Ordnungsprinzip, keine «Kapitelüberschriften»: in einem ersten Teil erscheint das Dorf als geographischer und historischer Raum, in einem zweiten als sozialer und politischer, in einem dritten scheinen die privaten Konsequenzen auf: Emigration als individuell empfundenes Leid. Von den Alten, die zurückblieben, geht Jacusso hinüber zu den Jungen, die sich zum Bleiben eingerichtet haben... und am Schluss zum Kind, das davon träumt, eine Mechanikerlehre zu machen und dann wegzuziehen: Emigration als ewiger Kreislauf.

Aquaviva ist ein Zipfel jener archaischen Mittelmeerwelt, aus der die meisten im Norden lebenden Emigranten stammen: in diesem Sinn muss der Film die Schweizer inhaltlich interessieren. Doch er muss uns darüber hinaus in formaler Hinsicht beschäftigen, als eigenständige und nicht «unitalienische» Weiterführung der Tugenden, die speziell den Deutschschweizer Dokumentarfilm der letzten Jahre ausgezeichnet haben: Hier ist wieder einer, der auf eine persönliche Weise zuhören und zuschauen kann, und nicht wie ein TV-Reporter Menschen und Dinge wie Schlachtvieh vor die Kamera und auf den Bildschirm zerrt. Zu einem Zeitpunkt, da dieser Voyeurismus sich bereits ins freie Filmschaffen (z. B. in Markus Fischers «Finsternis») einschleicht, sollte ein Film wie Ritorno a casa zwangsverordnet werden, damit die Leute wieder sehen lernen. Weniger fragwürdig freilich wär’s, man ginge ihn sich freiwillig anschauen.

Ritorno a casa: P: Filmkollektiv Zürich und N. Jacusso; R. B: Nino Jacusso; K: Elio Bisignani; M: Benedetto Jeger; S: N. Jacusso und Francesco Rickenbach; T: Feiice Singer; D: Menschen aus Aquaviva Collecroce; Verleih: Filmcoope-rative Zürich. 16 mm, schwarz-weiss, 101 Minuten.

David Streiff
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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