MARKUS SIEBER

MEDIENARBEIT ALS EINE FORM SOZIALEN HANDELNS — ZUR ARBEIT DES VIDEOLADENS IN DER JUGENDBEWEGUNG

CH-FENSTER

Teil nehmen an / Teil sein von der Jugendbewegung, das heisst: Wachsen, depressiv Sein, Lernen, sich Verändern mit der Bewegung - Bewegung in sich Tragen, ganz persönlich. Wir vom Videoladen zusätzlich als Gruppe, und dann wieder umgekehrt: jeder Einzelne persönlich als Teil der Gruppe, Filmender. Eine doppelte (oder gespaltene) Anteilnahme, die manchmal schön ist, manchmal fast nicht zu ertragen.

Und jetzt darüberschreiben sollen - da wird's unendlich kompliziert. Ich bin tagelang blockiert gewesen, etwas in mir sträubte sich dagegen, jene Unvermitteltheit wieder aufzugeben, die ich - mit so vielen anderen zusammen - während zweier Monate gewonnen hatte, auch im Schreiben: das Gefühl, Tun und Denken seien näher zusammengerückt als je seit dem Kind-Sein. Jetzt allein am Schreibtisch, den Güterbahnhof vor Augen, Gedankengerüste montierend, um aus Gelebtem Allgemeines zu extrahieren, versuche ich, rückblickend, zu analysieren... Ich freu' mich AUF EINEN WARMEN WINTER!

An den Videoladen vorher erinnere ich mich irgendwie nur noch schwach. Jedenfalls steckten wir in einer Krise. Ein schwer begründ- und fassbares kreativitätfeindliches Klima schuf die absurde Situation, dass trotz immer grösserem Bedürfnis nach Eigenproduktionen jeder einzelne von uns acht seine Inhalte mehr und mehr ausserhalb der Gruppe zu realisieren begann, schreibend, fotografierend, sogar in Filmprojekten. So war die einzige nennenswerte Eigenproduktion seit dem Nationalratswahlen-Band vom letzten Herbst1 ein stündiger Film über Berufsverbot2. Kurse, Geräteverleih, Beratung, Schreibtischarbeit - Vorwürfe mussten wir uns keine machen, denn da wir als Dienstleistungsbetrieb noch immer voll funktionierten, wurden wir unseren formulierten Zielsetzungen weiterhin gerecht; was allerdings manchmal halt wenig mit persönlicher Befriedigung zu tun hat.

Untereinander verstärkten sich Spannungen aufgrund eines alten Gegensatzes: Die einen wollten die Gruppe übers Private, die andern über die Arbeit sich wiederfinden lassen. Und schliesslich: Auch finanziell florierte der Laden gar nicht. Grund genug also, am 7./8. Juni endlich das mehrmals verschobene gemeinsame Wochenende durchzuführen mit dem Ziel, den Laden strukturell zu verändern. (Am Arbeitswillen des Einzelnen war nichts auszusetzen, nicht mal am Einsatz. Der Wurm musste also in der Arbeitsorganisation stecken.) Aber dann kam alles anders.

Der folgende Text3 ist im Juni entstanden. Am 21.6., einem Samstag vor genau zwei Monaten, habe ich ihn Franz Hohler übergeben, in ziemlich aufgeregter Stimmung. Leute, mit denen ich oft zusammen war in den drei Wochen zuvor, waren in Präventivhaft genommen worden, die Polizei -viel Polizei! - stand in höchster Bereitschaft, denn der Stadtrat knirschte seit der Rathaus-Demo vom Mittwoch mit den Zähnen. Unter uns grosse Angst und grosse Wut. Und dann, trotzdem, die Grossdemo der Unzufriedenen.

«nicht festgehaltene ereignisse haben, so scheint's, nur halb stattgefunden, eine demo schafft öffentlichkeit, die berichterstattung vervielfacht diese nachträglich, in interpretierter form aber, deshalb, und vorgängig zur mobilisierung, ist es absolut notwendig, dass die bewegung auch in den medien über eine eigene infrastruktur verfügt, und sie tut's! - flugblätter haben nichts von ihrer Wichtigkeit verloren, wir haben jetzt aber auch unsere eigenen Zeitungen, unser radio, unsem film; schon ein tonband wird brisant, wenn es gewisse dinge registriert, in den letzten jähren haben wir gelernt, mit unseren medien umzugehen, seit dem 30. mai ist ernstfall, jetzt können wir das gelernte brauchen, dank der arbeit vieler werden die laufenden ereignisse total dokumentiert, solidarisch steht das mate-rial allen zur Verfügung, (nicht ganz allen, natürlich...) für mich und für viele andere hat das wort bewegung in den letzten wochen plötzlich wieder inhalt bekommen.

in den ersten zwei nachten - fr. 30. 5. und sa. 31. 5. -sowie an der ersten Vollversammlung vom so-abend mit anschliessender gewaltloser riesendemo vor die polizeikaserne haben wir vom videoladen einfach so teilgenommen, man wusste ja, dass die ethnologen mit ihrer newicon-nachtkamera immer dabei waren, wie schon an vorangehenden anlassen wie rote-fabrik-feste, die die jetzigen entwicklungen übrigens erwarten Hessen, wenn auch nicht auf so bald, an der zweiten w vom mi-abend 4.6. im volkshaus mit sigi und emilie sind wir dann eingestiegen, gerade rechtzeitig, wie sich erwies: zwei tage später, aufgrund der Vorführung ihres fifms am mi, blockierte der gilgenbeschluss die ethnologen. seither filmen wir fast pausenlos.

di. 10.6., gilgen-pressekonferenz im ed. lange kahle gänge, man könnte zu spinnen beginnen dort drin, wir kommen zu spät, kaum stehen stativ und kamera und wir dahinter, widmen sich alle fotografen der reihe nach kurz uns und nicht den herren gilgen und hilty, offenbar hält man uns für community-medien-leute. gilgen wird immer fleischloser in den letzten jahren, scheint mir.

mo. 9.6. nach dem uni-aktionstag vor der nzz, dritte, kürzeste, aber sehr harte strassenschlacht. die polizei hatte zu neuen und seither beibehaltenen kampfformen gegriffen, sie fuhr in sehr viel grösserer zahl ein als bisher, verstärkt durch kapo-einheiten, und ging erstmals offensiv vor, die demonstranten von anfang an einkesselnd; unter diesen ausserdem ganze heere von spitzeln und Provokateuren, «polizeiguerilleros» übelster sorte. - wir sind zu viert am bellevue, filmen vor dem «terrasse», wie kleine jungen dauernd die Oberlippe ableckend wegen dem nasenfliessen, keuchend, mit stechenden und tränenden äugen, zwei einsatzwagen brausen an, 50 schmier springen in kampfformation (sternförmig) raus, schon wieder tränengas, gummigeschosse. die demonstranten sind geflüchtet, wir also allein, filmen weiter, in unguter ruhe inmitten von freunden und heifern, plötzlich einer unterm heim hervor: «so, haut ab da!» er kommt auf uns zu, knallt den schild gegen die kamera. (normalerweise versuchen sie einem damit lediglich die sieht zu verdecken.) ich falle fast, dann zünden zwei mit lampen auf die kamera. (in dieser nacht trug die polizei erstmals eine anzahl stark gebündelter handscheinwerfer mit sich, um fotografen und filmer an der arbeit zu hindern.) eine normale Videokamera wäre jetzt schrottreif, unsere newicon hält's zum glück aus. dann greift der von vorhin nochmals an, neben ihm ein zweiter, gewehr im anschlag, finger am abzug, zwei meter vor uns, sie rufen, (wir natürlich auch, aber unsere Pressekarten interessieren sie nicht.) auf eine garbe gummigeschosse können wir verzichten, ziehen uns etwas zurück, all das ist jetzt auf film (und auf foto: einem fotografen, der zufällig die ganze szene festgehalten hat, versuchte ein spitzel daraufhin den apparat zu entreissen. der fotograf kam los, konnte sich dann aber aus einer langen Verfolgung durch vier weitere zivile nur mit einem taxi retten, auf dem bellevue sieht man immer wieder herausgerissene filme.) kurz nachher, am selben ort, kommt seelenruhig und unbehelligt ein filmer zwischen den polizeireihen auf uns zu- und an uns vorbeispaziert... öffentlichkeit/gegenöffentlichkeit. hinter der kamera reagiert man auf solche Situationen entweder mit angst oder mit der geilheit auf genau solche szenen/ bilder. auf bilder, wo die vermuteltheit der kamera-sicht direkter betroffenheit platz macht, (am besten klappt das natürlich eben dann, wenn die kamera - oder der mensch hinter ihr -direkt attackiert wird.) eine kamera vor dem köpf zu haben gibt oft Sicherheit - die Umgebung wird zuerst durch eine kathodenstrahlröhre geschleust und auf den Suchermonitor projiziert, bevor sie zu mir gelangt, und meine anwesenheit hat so ihre berechtigung. genau diese vermitteltheit wird mir aber in den letzten wochen oft zum problem. am stativ stehend, zoom und schwenk ausbalancierend, inmitten von direkt agierendem volk, künstlich herausgerissen aus einer bewe-gung und einer sache, die die meine ist - was man dann manchmal auch an einer gewissen mühe bemerkt, mitzurufen/klatschen - das deprimiert, schalte ich aber die Selbstkontrolle aus und lebe mit, so verliere ich auch die kontrolle übers medium, ‹verwackelte kamera und dauerndes gezoome nützen der bewegung auch nichts›, muss man sich dann bei der durchsieht des materials sagen.

vor drei wochen kannten uns viele der jungen noch nicht, wir wurden oft aufgehalten, mussten diskutieren, verloren wertvolle zeit, begreiflich diese aggressionen, denn die foto-grafen der schmier sind allgegenwärtig, und wie 1968 soll bereits eine zweite Verhaftungswelle aufgrund von fotos stattgefunden haben, jetzt ist der videoladen eigentlich allen ein begriff und man kennt uns vom sehen, immer wieder werden wir auf spitzel aufmerksam gemacht, die wir dann aufnehmen, umgekehrt sind wir eines nachts filmend in einen häufen von etwa zehn zivilen geraten und nur deshalb nicht verprügelt worden, weil demonstranten in der nähe waren.

das fernsehen hat's manchmal schwer, an einer w haben sie ihr 16mm-equipment zu dritt gleich neben uns plaziert, der grosse bruder im schütz des kleinen, wen wundert's, dass sie nicht sehr beliebt sind? - am 9. 6., gleich nach beginn des fights, wagten sich drei junge mit einem transparent bis nahe vor die polizei. ein rückwärts vor ihnen herschnürender tv-kameramann hatte da doch tatsächlich die frechheit, ihnen anweisungen zwecks telegenität seines Schusses zurufen zu wollen.

ästhetik und politik: a) das filmische ausdrucksmittel für diese bewegung ist der weite winkel. erstens entspricht das weit-winkelobjektiv mit seiner breite und seiner dynamik in der tiefe der bewegung schon rein optisch, zweitens erlaubt es aufgrund der grossen tiefenschärfe ein mobiles filmen, und drittens sind gesichter im weitwinkel selten identifizierbar. b) der Standpunkt einer aufnähme ist bereits eine stellungs-nahme zur sache. deshalb filmen wir äusserst selten von sehen der polizei in richtung der demonstranten.

das aufnahmematerial haben wir in Sicherheit gebracht. Paranoia? vielleicht, aber wahrscheinlich nicht, es sollen drei arten von filmen daraus entstehen, in Zusammenarbeit mit anderen gruppen: kurzfristige und relativ anspruchslose als katalysatoren für die bewegung selbst / mittelfristige und bereits auf zusammenhänge mit Wohnungsnot, beschissenen ar-beitsverhältnissen usw. hinweisende für den einsatz gegen aussen (Öffentlichkeitsarbeit) in der ganzen Schweiz / und dann irgendwann ein langer, als dokumentation und analyse. aber das hat noch zeit.»

Wie der Schluss obigen Artikels zeigt, waren wir Ende Juni noch ziemlich optimistisch, was unseren künftigen Ausstoss an Filmen anbelangte. Leider sahen wir uns aber bald ausser-stande, unsere Ansprüche zu erfüllen. Das dauernde Filmen auf der Gasse und die sonstigen Ladenaktivitäten frassen so viel Zeit und Energie, dass nicht einmal mehr die stetige Protokollierung der Bänder möglich war, geschweige denn ihre weitere Auswertung. Das mit Leuten aus der Bewegung und anderen Filmgruppen in mehreren Sitzungen bereits in Angriff genommene, für den Einsatz gegen Aussen gedachte mittelfristige Projekt scheint im Moment eingeschlafen zu sein. Neben einem Tape über Pressebehinderung durch die Zürcher Polizei (siehe weiter unten) haben wir somit leider erst einen einzigen Film über die Jugendbewegung vorzuweisen.

Jugendrevolte 1980 - ein Zwischenbericht. Geplant war eine simple Chronologie von ca. einer Viertelstunde, die dann so im 2-Wochen-Rhythmus ergänzt worden wäre. Natürlich hatten wir nie die Absicht, damit sachlich oder objektiv zu sein, ich bring' das Wort schon fast nicht mehr aufs Blatt, sondern: einseitig, subjektiv, tendenziös, agitatorisch. Wir wollten die Bewegung pushen helfen, indem wir ihr einen Zerrspiegel vorhielten, einen freundlichen. Thomas und ich übernahmen die Montage, da wir im Moment am meisten Zeit hatten. Nun, es war unheimlich viel passiert in den drei Wochen seit dem Chlapf am Opernhaus; dass eine Viertelstunde nicht reichen würde, merkten wir bald. Tag für Tag, gut eine Woche lang, trafen wir uns um neun Uhr morgens mit verquollenen Augen und schnitten dann mit viel Kaffee und Hagenbuttentee durch bis Mittemacht, oft länger.

Am Mi. 25. Juni: Endspurt. Um 20.00 ist unser Film für die W angesetzt. Um 20.10 letzter Schnitt, sofort wird der Film ins Volkshaus gefahren, wo H. P. Leuthold schon lange mit seinem Tele-beam wartet. Thomas und ich leeren eine Flasche Weissen, geben die Ansage durch und sitzen dann besoffen und überglücklich neben dem Gerät, dauernd das Tracking nachregelnd, da das Schnittgerät unstabil war - unsere Halbzolltechnik reicht einfach nicht für Grossprojektion. Riesenerfolg, trotz der Länge (55 Minuten) und den Längen. Nach der Vorführung schon die ersten Kopien für Lausanne und Genf, wo Meetings stattfanden, in den nächsten Tagen und Wochen viele weitere, auch nach Deutschland, Frankreich, Italien. Diese grosse Nachfrage kam auch für uns völlig überraschend, denn der Film war als absoluter Gebrauchsfilm konzipiert, als Diskussionsgrundlage für eine bestimmte W; einem weiteren Einsatz, zumal im Ausland, konnte er zwangsläufig nicht genügen.

Im «Zwischenbericht» haben wir versucht, über die reine Chronologie hinaus die wichtigsten Themen der Bewegung aufzugreifen und in ihrer Entwicklung zu zeigen, insbesondere: Gewalt/Militanz, Rote Fabrik/Limmatstrasse, Struktur?, Verhältnis zur SP, usw. Hierzu bedienten wir uns der Voten an den verschiedenen VV's und brachten dabei unseren eigenen Standpunkt ins Spiel. Beispielsweise fanden und finden wir es wichtig, dass trotz Limmatstrasse die Forderung nach Teilen der Roten Fabrik weiter verfochten wird, deshalb haben wir dieses Thema gegen Schluss selektiv überbetont. Und da an jener W über den SP-Vorschlag bezüglich Trägerschaft fürs AJZ Limmatstrasse entschieden werden sollte, haben wir dieses Thema gegen Schluss mit einigen Voten zu umreissen versucht.

Für den Kommentar hat uns Urs Graf einen Tipp gegeben, der sich sehr bewährt hat. Ganz zu Beginn der Montage sind wir vor einer Tasse Kaffee und einem Mikrofon zusammengesessen und haben etwa eine halbe Stunde lang über die Ereignisse geplaudert. Einzelne Dialogpassagen ergaben dann den - akustisch manchmal leider schwer verständlichen -Kommentar, in Mundart und samt Blödeleien, Lachen, Rülpsen. In der Bildgestaltung verfuhren wir konventioneller. Das macht uns allgemein immer mehr stutzig: Wir sind zwar daran, neue Produktions- und Distributionsformen zu entwickeln, um damit neue Inhalte zu vermitteln, ästhetisch sind unsere Tapes aber noch ganz TV-haft, einfach mit mehr drop-outs. Leider fehlt diesbezüglich bisher der Erfahrungsaustausch mit anderen Gruppen ganz. Wir hoffen auf das für den Herbst angesetzte Video-Treffen in Basel.

Das Engagement jedes Einzelnen aus unserer Gruppe an der Jugendbewegung, seine Beteiligung beim Filmen und jetzt die Häufigkeit seiner Besuche im AJZ stimmen genau überein - was eigentlich einleuchtet und unserem Arbeitsklima - glaub' ich - ein gutes Zeugnis abgibt. Über indirekte Beteiligung sollte man vielleicht länger sprechen. Die wichtige Arbeit mit einer Mietergruppe etwa wäre im Juni schlicht zusammengebrochen, wenn nicht zwei sie stillschweigend übernommen hätten. Solche Beispiele gäbe es noch andere; der Ladenalltag, keine dankbare Arbeit, ist während zwei Monaten ungleich verteilt gewesen.

Daraus entstand übrigens eine Diskussion, die - soll man's hoffen oder nicht? - in absehbarer Zeit wieder aktuell werden wird. Die Frage nämlich, wieweit die Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem Kollektiv direkte Partizipation an der Bewegung erlaubt, auch an ihren sogenannt «illegalen» Aktionen. Schon seit einiger Zeit ist uns bewusst, dass wir wohl beim kleinsten Vorwand mit der Schliessung des Ladens rechnen müssen. Parteilichkeit ist ein Prinzip unseres Schaffens und hat ihren Preis. Die Immunität der Presse hat für uns nie gegolten. (Das hat einer meiner Kollegen auch an der Journalisten-W (SJU, SSM, VSRFM) vom 21.7. ausgeführt, als über die polizeilich-brachialen wie die stadträtlich-(medien)politischen Angriffe gegen Presse, Radio und Fernsehen vor, an und nach den Unruhen vom 12. 7. debattiert wurde. Zu diesem Anlass hatten übrigens einige von uns das 15-minütige Band Pressebehinderung durch die Zürcher Polizei montiert, das eine Vielzahl verschiedener und z. T. schwerer Ausschreitungen der Polizei gegen Medienschaffende belegt.) Wir kamen überein, dass das Kamerateam sich jeweils so neutral wie irgend möglich verhalten solle, was einem manchmal schon schwer genug fällt. Ansonsten aber muss halt - im Bewusstsein des Risikos und seiner Verantwortung - jeder selber wissen, wie weit er gehen will.

Dieses Autonomieprinzip gilt auch auf einer anderen Ebene, nämlich für uns Filmende gegenüber der Bewegung. Tatsächlich ist nie versucht worden, unser Schaffen zu kontrollieren oder die Aufnahmen in Anspruch zu nehmen, und sei's auch nur aus Sicherheitserwägungen heraus - absolut berechtigten übrigens, wie Erfahrungen deutscher Videogruppen zeigen. Was umgekehrt unsere Verantwortung gegenüber der Bewegung betrifft, so haben wir dafür drei Prinzipien.

Erstens: Wir versuchen, nie jemanden bei einer «illegalen» Handlung so zu filmen, dass er zu erkennen ist (Aufnahmen aus grosser Distanz, mit Weitwinkel, von hinten oder mit «abgeschnittenem» Kopf). Falls dies trotzdem geschehen sollte, wird die entsprechende Passage nie in einen Film aufgenommen werden. Zweitens: All unser Filmmaterial ist jederzeit einsehbar, ebenso sämtliche TV-Sendungen zum Thema (die «Telebühne» und die «Müllers» sind Dauerrenner). Hierzu eine Bemerkung am Rande: Dass über jedes manifeste Rühren der Bewegung sich jeweils Dutzende von Fotografen und Filmern hermachen, deren Bildbeute dann nirgends wiederauftaucht, ausgenommen die paar Pressefotos und TV-Streifen in allermeist bewegungsfeindlicher Sinngebung, empfinde ich als Bilderraub. Drittens: Alle unsere montierten Filme werden zuerst im Kontext der Bewegung aufgeführt, wobei wir für sie «geradestehen», indem wir uns als ihre Macher vorstellen. Falls die Bewegung einen Film mehrheitlich ablehnen sollte, würden wir ihn nicht weiterverbreiten.

Nach der Eröffnung des AJZ an der Limmatstrasse am 28. 6. - wie anders als mit einem FEST? - änderte sich vieles, auf allen Ebenen. Die Energien mussten neu kanalisiert werden, was nicht allen gleich gut und ohne Down gelang. Inzwischen ist die Überschwenglichkeit und das stolze Pathos vorbei, geblieben ist viel Selbstbewusstsein, eine neue Sicherheit. Untereinander, aber auch beim Gang durch Zürich, die Stadt, von der man sich jetzt vorstellen kann, dass sie einmal die unsere sein könnte. Ich gehe eigentlich jede Nacht auf einen Sprung ins AJZ, manchmal nur für fünf Minuten, dann wieder bleibe ich Stunden hängen. Man kennt sich, fühlt sich gut. Und noch immer auch ein bisschen ungläubig.

Seltsam, aber mit der Kamera sind wir erst zweimal kurz im AJZ gewesen. Irgendwie schaffen wir's einfach nicht, obschon uns absolut bewusst ist und wir immer wieder davon sprechen, wie wichtig gerade das wäre: Alltag, Aufbau, Freiraum zu dokumentieren, samt den darin auftretenden Schwierigkeiten. Was uns hemmt, ist nicht klar: die Unlust, Plausch mediatisiert mitzumachen, statt direkt; sich eine Funktion zu zuschreiben / mit Zweck zu handeln, wo man das eben gerade nicht nötig hätte; unsere Waffe, die Kamera, in Händen zu behalten, wenn man doch endlich nicht mehr zu kämpfen brauchte... Jedenfalls macht sich da auf fatale Weise unsere Nicht-Professionalität bemerkbar, jene eingangs beschriebene Gespaltenheit auch.

Nicht nur zeitliche und psychische Überbelastung war der Grund für unseren geringen Ausstoss an Filmen, und damit unsere weitgehende politische Wirkungslosigkeit trotz aller Arbeit - mindestens ebenso schuld sind finanzielle Probleme. Ist die Arbeitsbelastung durch den Videoladen schon im Normalbetrieb gross genug, wuchs sie sich in den Monaten Juni und Juli für manche zeitweise zum Ganztagsjob aus. Da wir aber bis anhin noch nicht imstande sind, Löhne auszuzahlen, befand sich bald mehr als einer in echten existentiellen Nöten.

Nicht weniger bedenklich sieht die Lage für den Laden aus. Im Vergleich zu 1979 ist unser Bruttogewinn im ersten Halbjahr 1980 um ca. 25% zurückgegangen, und das bei einer Umsatzsteigerung von etwa 30%! Die Einnahmen durch Kurse sind in dieser Zeit beispielsweise auf fast einen Drittel zusammengeschrumpft. Diese Zahlen beziehen sich auf die Zeit bis Ende Juni. Würde man den zweiten Bewegungsmonat Juli miteinbeziehen, sähe die Situation noch extremer aus. Tatsächlich haben wir allein an Bandmaterialien ungefähr 50 Stunden oder 3500 Franken in die Bewegung investiert, von den verlorengegangenen Gerätemieten - weitere Tausende von Franken - oder gar der Arbeitszeit nicht zu sprechen. (Der auf die Bewegung lokalisierbare Rückfluss - aus Bewegungskasse, Bänderverleih und dank immer willkommenen, aber raren Spenden - betrug dagegen lediglich etwa 2500 Franken. Das heisst: In der Zeit der Bewegung haben wir jene Situation in extremis nochmals gelebt, die wir am verhinderten Wochenende vom 778. Juni hätten ändern wollen: Selbstausbeutung bis zum Geht-nicht-mehr, mit dem Unterschied, dass wir hier voll engagiert waren.

Andrerseits brachte uns die Bewegung nicht zuletzt deshalb so in finanzielle Bedrängnis, weil der Laden aufgrund struktureller Mängel eben zu wenig materielle Stabilität aufweist. Am 13.8. haben wir deshalb an einer Marathon-Sitzung mit seltener Einigkeit endlich jene Massnahmen beschlossen, die uns mittelfristig eine Berufsperspektive bieten sollen, ohne dass wir deshalb von unserem politischen Kurs abweichen müssen. In die Jugendbewegung 1981 werden wir genauso viel investieren wie in die heurige.

Video ist ein Massenmedium. Im Rahmen der Jugendbewegung setzen wir es erstmals auch im Dienste einer Masse ein. Die Art des Einsatzes könnte man «intervenierendes Filmen» nennen, unsere Filme «Interventionsfilme»: Durch das mediale Eingreifen (Aufgreifen) in (von) gesellschaftliche(n) Prozesse(n) wollen wir Wirklichkeit verändern. Gemäss unserem Selbstverständnis stellt dies jedoch nur einen ersten Schritt dar: Mit transparentem Arbeiten und Medienkursen -auf bald planen wir gezielte für Leute aus der Bewegung -versuchen wir unsere Spezialistenrolle zu brechen.

Medienarbeit kann erst dann ihre volle politische Wirksamkeit erreichen, wenn sie nicht mehr auf einer Extra-Ebene, von Fall zu Fall, sondern in konkreten Zusammenhängen von Beteiligten (Betroffenen) selbst betrieben wird - als eine Form sozialen Handelns unter vielen.

Wahlen 79, um einen Werkstatt-Bericht erweitert unter dem Titel Video uf de Gass, an den letzten Solothurner Filmtagen gezeigt.

Berufsverbot - Redeverbot - Denkverbot, v. a. für den Einsatz an der Universität hergestellt.

Publiziert im Buch «Die Zürcher Unruhe» (hrg. von der Gruppe Ölten im orte-Verlag), sowie - leicht gekürzt - im Zoom-Filmberater 13/80.

Markus Sieber, Videoladen Zürich, 20.-26.8.1980.

Markus Sieber
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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