URS EGGER

CRAZY SPANISH GIRLS — EINE, ZWEI, DREI GESCHICHTEN.

ESSAY

Das Fieber damals, als im Fernsehen ein Bericht über die Dreharbeiten von John Hustens THE MAN WHO WOULD BE KING. lief. Ich schrieb am gleichen Abend einen Brief: John Husten, Warner Brothers, Casablanca, und bewarb mich um eine Stelle als 3. Regieassistent oder Klappenjunge. Ich konnte dann die ganze Nacht nicht einschlafen. Jakob und ich dachten uns ein Drehbuch aus, es ging um Franklin, der mit seinem Lincoln durchs Seeland fuhr und Tankstellen ausraubte, bis ihm eines Tages ein Mädchen einen Strich durch die Rechnung machte und ihn in die Stadt mitnahm, eine imaginäre Radio-Station aus Biel sollte dazu ein Rolling Stones-Stück abspielen. Am andern Tag traf ich im Tram den Regisseur von Gunten und wollte von ihm zwischen Ostring und Bahnhof erfahren, wie man an das Filmförderungsgeld herankomme, um den Film über Franklin machen zu können. Er sagte, es hätte keinen Sinn, es sei zwecklos, zuerst müssten jetzt einmal die Bewährten drankommen. Das war 1974, ein Jahr später verkaufte ich mein Schlagzeug und was ich sonst noch hatte und fuhr nach Amerika.

Am Amerikanischen Filminstitut, dem Sandkasten Hollywoods: Da sahen wir jeden Tag Filme, und Ende Woche kamen die Regisseure, Produzenten, Drehbuchautoren, und wir konnten sie fragen, warum sie in diesem Moment geschnitten haben und nicht gefahren sind. Es ging um die Praxis. Was für Geschichten man da erzählte, spielte keine Rolle, wichtig war, wie man sie erzählte, Exposition, the plot thickens, climax, dénouement. Die Fantasie, die Magie, die Dollars.

Ein Agent erklärt, warum es wichtig ist, Tennis zu spielen, und wie man einen package deal macht. Mit dem Auto durch Los Angeles fahren. Angst am hellichten Tag. Du verlierst Dich in dieser endlosen Suburbia, der ewige Sonnenschein bleicht Dich aus. Du weisst nicht mehr, was innen ist und was aussen. Gertrud Stein über Kalifornien: «There is nothing there, there.» Du willst dem Mädchen etwas von Dir erzählen, um Dir zu beweisen, dass es dich gibt, das Mädchen am grünlich erleuchteten Swimming Pool, ihren Kopf vollgestopft mit Qualuudes, fragt: «Glaubst Du, ich habe das Zeug zum Star?» «Sure, baby», antwortest Du, aber sie hat sich schon wieder abgewendet.

Kino: Die Dreharbeiten im Death Valley, die Fahrt zum Bordell: Diese Momente sind Kino, was ist der lange Rest?

Gegen Abend kommen wir an und checken in Zabriskie Point ins Hotel ein. Ich lade die Magazine. Die Crew langweilt sich. Zu dritt fahren wir dann hinüber nach Nevada, durch die nächtliche Wüste. Irgendeinmal taucht die Stadt Beatty auf, ein verlorenes Nest, fünf Häuser, drei davon Spielhöllen, eine Tankstelle. Hinter der Theke läuft der Fernseher. Orson Welles zeigt Johnny Carson ein paar Zaubertricks, dann wird er von sich selber unterbrochen, in einem Werbespot preist er weissen Chablis an, «Good things take time». Ich verliere am Spieltisch ein paar Dollars, der Kameramann fragt den Barkeeper nach den Frauen. «Drei Meilen nordwestlich, Sie können es nicht verpassen.» Wir fahren, und wie wir ein Stück Weg hinter uns haben, sehen wir ein kleines Wunder: die roten Landelichter einer schmalen Flugpiste, ein grosses Mobile Home daneben. Das Flugfeld liegt still und leer da, der nächtliche Wind bläst ein paar Ballen stacheligen Gestrüpps über die Landebahn. Drinnen im Empfangszimmer hat es zwei Reihen Sofas, auf der einen sitzen wir, uns gegenüber auf der andern sitzen die Mädchen. An den Wänden grosse Ölgemälde, im Stil George Grosz’ spielen Männer um Geld, die Hüte tief ins Gesicht gezogen, die Zigaretten im Mundwinkel. Die Frauen lehnen ihnen an den Schultern, ihre grossen Brüste halb entblösst, spiegeln sie die Karten ihrer Männer mit kleinen Taschenspiegeln den Liebhabern über den Tisch. «Als ich noch in Vegas arbeitete, da habe ich auch einmal in einem Film mitgespielt», erzählt eines der Mädchen. In einem Film von Sam Peckinpah habe sie gespielt, er habe immer mit der Pistole herumgeschossen, mit scharfer Munition, um die Komparserie in Bewegung zu bringen. The Wild Bunch. Wir fragen sie, was sie denn gespielt habe. Sie lacht. «A hooker, of course».

Ein paar Stunden später sind wir wieder zurück und drehen eine einzige Einstellung, eine lange Kamerafahrt aus dem fahrenden Auto. Die Sonne geht im Death Valley auf.

Die Angst vor dem ersten Drehtag, die sich auflöst, als ein Beleuchter fragt, ob er hier ein Kabel legen könne, oder ob es im Bild sei.

Als wir in Chinatown drehen wollen, in einer Bar, der Yemee Lu Bar, wo es die Yemee Blue Drinks gibt, winkt der Besitzer ab. Vor der Tür haben sie die Schluss-Sequenz von Chinatown gedreht, wo einer seiner Detektiv-Gehilfen Jack Nicholson am Arm nimmt, ihn von der toten Faye Dunaway wegführt mit den Worten «Come on, Jake, it’s Chinatown», und die Kamera dann hochfährt, während die Schluss-Musik einsetzt. Der Chinese schüttelt den Kopf, als ich ihn noch einmal um seine Bar bitte. It’s Chinatown.

Die Rückkehr in die Schweiz, die - banale Sache - Unmöglichkeit, wieder sesshaft zu werden in der Heimat. In dieser Heimat bläst ein kalter Wind, da bist Du alleine, in einer Schlangengrube, Kommissionen Oberlehrer Pfarrer Kritiker, der ganze Dreck. Hier ein Bückling, da eine gute Note, und die Fantasie verflüchtigt sich; Todsünden als Folge eines mutlosen Handkusses, auf den keine Frau mit einem Herz im Leib hereinfallen würde, was für ein Klima! In Zürich haben mich die Swissairbusse immer beruhigt, die sind jetzt auch weg. Da kann man traurig werden. Mit all dem hast Du am besten gar nichts zu tun, da hältst Du Dich fern, sagst Du Dir, und sitzst trotzdem am gleichen Tisch, putzst die gleichen Klinken.

Manchmal in den Wagen steigen und ins «World» fahren, ganz oben am Hollywood Boulevard. In der Lobby das übliche Gedränge zu den Popcornständen, bevor Du reingehst, dreht Dir einer am Eingang noch eine Haschzigarette an, drei Filme für 1 Dollar fünfzig, die Leute kommen und gehen, es sind meist schwarze und arme Leute. Es wird gar nie hell, auf der Leinwand ist immer etwas los. Wenn der Killer sein Messer nimmt, schreit der Saal auf, der Held entkommt dem Tod, die Zuschauer klatschen. Wenn es langweilig ist, hört man kleine Kinder schreien. Das ist schön und lebendig und auch traurig. The Omen Part II, Sequels, Remakes, kaputtes Kino, Filme, die sie sonst niemandem mehr anhängen können, a lot of nickels and dimes.

In Indien damals die Fledermäuse, die durch den Saal flattern, während sich die Lippen der Liebenden unablässig näherkommen und näherkommen, es ist eine verbotene Liebe, vielleicht die letzte Woche abgedrehte Hindi-Version eines westlichen Kassenknüllers, A Love Story in Modern Bombay. Die Lippen umkreisen sich minutenlang, es ist nicht zum Aushalten, durchs Fenster die schlecht gemalte Lüge eines Bombays, das es nicht gibt, die grossartigste Skyline, was macht’s aus, die Musik schwillt an, die Lippen öffnen sich, die Frau schliesst die Augen, jetzt! jetzt!, aber das Telephon läutet und macht alles zunichte.

Wenn die Zufälle sich verdichten, wenn Du Dich in der überfüllten Wirtschaft auf den einzigen freien Platz setzst, ein leerer Stuhl neben Dir mit einer Jacke über der Lehne, wenn sich dann das Mädchen, dem die Jacke gehört, neben Dich setzt und dasselbe Mädchen ist, das Dich am Morgen im Café so fest angeschaut hat, dass Du Dich hinter der Zeitung verstecken musstest vor Aufregung, dann ist das Kino. Eine Stunde später besteigt ihr einen Zug und fährt weit, weit weg.

Ein andermal bist Du um zwei Uhr morgens in Bern in der Perry Bar und streitest dich mit dem Kellner um ein letztes Bier: Endstation Sehnsucht, kein Kino.

Ein paar Monate später kam aus London eine Antwort auf meinen Brief an John Huston. Seine langjährige Mitarbeiterin Gladys Hill schrieb, der Film sei längst abgedreht gewesen, als mein Brief sie endlich in London erreichte. Sie richtete mir Grüsse aus von Mr. Huston und wünschte mir alles Gute. Ich freute mich über die Nachricht und sie kam mir wieder in den Sinn, als ich eines Morgens in Los Angeles in die Schule kam.

Das Institut war in einer grossen palastähnlichen Villa in Beverly Hills untergebracht. Der Ölmilliardär Doheny, der aus Texas kam und das Anwesen bebaute, wurde von seinem Butler in einem Anfall von Eifersucht erschossen - die beiden hatten ein Verhältnis - und da Doheny keine Erben hatte, fiel der Besitz an die Stadt. In den ersten Jahren, als Paul Schrader und Terry Malick dort zur Schule gingen, soll der Lehrplan vor allem aus Cocktailparties mit George Cukor bestanden haben. Noch heute drückt Dir dort am ersten Tag Charlton Heston mit festem Druck die Hand und fordert mit klarem Blick die Neulinge auf, die Hohe Kunst des Amerikanischen Kinos voranzutreiben. Dass an diesem Institut für Experimente kein Platz ist, steht auf einem anderen Blatt, Paramount und MGM, Warner Brothers und Universal regieren immer noch die Stadt.

An diesem Morgen versperren grosse Materialwagen der MGM die Einfahrt, Generatoren werden angeworfen, Kabel verlegt und hinter den Fenstern der Eingangshalle ist ein grosser Rücksetzer angebracht, eine Ansicht von New York. Ein Regisseur probt mit den Schauspielern eine Szene. Einer der Schauspieler ist John Huston. Gladys Hill ist auch da, sie erinnert sich an meinen Brief, wir machen aus, uns am nächsten Tag zu treffen.

Draussen richten die Beleuchter 10000-Watt-Lichter gegen die Rückseite von New York, ein paar Grips schwitzen in der kalifornischen Sonne und schaufeln unermüdlich Kunststoff-Schnee auf eine grosse Schneemaschine; im Central Park wird es Winter.

Ich liebe die Techniker, die alten Hasen. Der alte Hintergrundmaler in den Bavaria-Studios, der mit raschem Strich uns einen Park hinpinselt und die Wirkung der Distanzen kennt. Als ich ihn über die UFA ausfragen will, die alten Zeiten, da will er nichts davon wissen, er brummt etwas in sich hinein ob all den Fragen, er hat keine Zeit, muss hinüber in die Halle 7, für «Lilli Marleen» noch einen Himmel malen.

Wenn Du in Amerika oder in England auf einem Drehplatz einen dieser Union-Boys nach dem Film fragst, für den er gerade die Schienen legt, so antwortet er Dir oft, «it’s a comedy, George Kennedy is in it», und dann schaut er auf die Uhr. Vielleicht hat er recht, it’s just another movie, am Montag fangt er einen neuen an. In der Schweiz haben alle das Drehbuch gelesen, sie wissen, was sie tun, die Techniker hier, und hoffentlich macht jeder auch einmal einen Film.

Fernsehen ist schön, wenn man nachts in irgendeinem Hotelzimmer sitzt, und man nach einigem Umschalten bei einem Kanal bleibt, und der Film könnte nicht besser sein. Im Hotel «Amir Kabir» in Teheran, nebenan summt jemand eine Mantra, auf der Treppe trommeln sie, in der Ecke läuft der Femseher. Du rückst näher, drehst den Ton auf, die Bilder gefallen Dir, Du siehst zum ersten Mal Casablanca, über einen amerikanischen Soldatensender. Der Abdruck (Eindruck, das Gefühl) dieser Filme. Nach dem Leben schnüffeln und es im Kino wiederfinden.

The late show in Fort Lee, New Jersey, Kanal 11. Inhaltsangabe von Casbah (1948, Universal): Am Schluss rennt er aufs Flugfeld, die DC 3 mit seiner Geliebten an Bord rollt zum Start an, kommt in immer grösser werdendem Tempo auf ihn zu, er zögert, dann wirft er sich ihr entgegen, hebt seine Arme hoch in einem verzweifelten Versuch, die Maschine vom Starten abzuhalten. Im Gegenschnitt sieht man jetzt die Polizisten in schweren Regenmänteln die Abschrankung zum Rollfeld beiseitestossen, einer der Zivilen hebt den Arm, die Hand zuvorderst am Arm hält einen Revolver. Der Revolver feuert. Hinterrücks angeschossen, taumelt er, in diesem Moment hebt die DC 3 ab und braust über seinen Kopf. Er fällt, zieht noch die Waffe und nimmt einen Polizisten mit. Die Maschine gewinnt an Höhe, Ivonne deCarlo weiss von nichts, sie schaut nicht zum Fenster hinaus, sie glaubt ihn seit lange tot.

Als das Telegramm nach den täglichen Briefen eintraf, urgent, sie will Dich zurückhaben, da hattest Du keine Zeile gearbeitet. Du hast nur an sie gedacht, das Telegramm macht es Dir leicht, Du verkaufst am selben Tag Dein Auto und nimmst die nächste Maschine nach Europa, die Lichter von Paris, die Maschine setzt im Grauen eines Zürcher Morgens auf, Du nimmst den ersten Zug nach Bern, das erste Taxi zu ihrem Haus. Du schaust durch ihr Fenster, siehst sie mit einem Macker liegen. Du zerschlägst kein Fenster, Du verprügelst den Typen nicht, wie es ihm gehört, im Fallen nimmst Du keinen Bullen mit, nein. Du stehst da mit einem dümmlichen Gesicht und klopfst artig an, und später besorgst Du Dir eine Packung Temesta.

Um die Kino-Aushänge herumstreichen, das wunderbare Gefühl. Für welchen Film soll man sich entscheiden, im Saal sitzen, die Vorfilme, die Erwartung. Die Lichter, die ausgehen, der Traum, der beginnt.

Nach dem Film, wenn Du durch die Strassen gehst, besetzt von den Bildern. Eine gefährliche Sache. Die Gefahr, die wir verspürten, wenn wir in der Pause ins «Capitol» hineinschlichen, uns unter die Zuschauer mischten, am Platzanweiser vorbei in den Saal hineinschlenderten, und die Gefahr, der Steve McQueen dann auf der Leinwand ausgesetzt war.

Später bin ich dann öfters in Landkinos hineingegangen, die jungen Liebespärchen, die an den Händen schwitzen, wenn sie im Dunkeln näher rutschen. Erwin Keusch hat das in seinem Film Brot des Bäckers schön beschrieben.

Im «Corso» sahen wir die Godard-Filme, und Goto, L’ile d’amour. Jetzt zeigen sie dort Sexfilme.

In der Nacht wachliegen, eine Aufregung überkommt Dich, Du kannst nicht schlafen.

Ich traf John Huston in den Metro Studios in Culver City, wo er vor vielen Jahren einmal Asphalt Jungle gedreht hat. Er erzählt von dem einen Film, den er unbedingt machen will, seit 20 Jahren, eine Hemingway-Geschichte, die kurz nach dem Krieg in Venedig spielt, wo sich ein alter Soldat in ein junges Mädchen verliebt. Nachts will der Soldat von ihr träumen, aber die Bilder des Krieges verfolgen ihn. Der Regie-Assistent kommt in die Garderobe und sagt: «Sir, it’s time to climb the mountain!». Der alte Herr entschuldigt sich. Er steigt eine Leiter hoch, hängt sich an eine grosse Amerika-Flagge, die von einem nachgebauten Balkon des Plaza-Hotels in Manhattan herunterhängt. Die Rückprojektion wirft die Tiefe in den Raum, der alte Mann hängt jetzt 20 Stockwerke über der 5th Avenue, unten bewegt sich der Verkehr winzig klein. Als ich vor Aufregung nicht mehr weiter weiss mit meinem Interview und ihm das sage, meint er: «Sure Son, come back tomorrow».

Sein Film über den alten Soldaten ist wieder verschoben worden, und mir bietet ein englischer Produzent einen Porno an, CRAZY SPANISH GIRLS heisst er, den will er für 100 Tausend downtown drehen, im Geschäftszentrum von Los Angeles, das sich nachts in Mexico City verwandelt. Ich fahre zurück nach Europa.

Jeden Abend nach der Arbeit durchs Gelände gehen, durch die Berliner Strasse, die Bergman für «Das Schlangenei» bauen liess, wo Fassbinder Despair drehte und jetzt jeden Montag der Franz Biberkopf auf sein Schicksal trifft.

Am letzten Drehtag weg vom Abschiedsessen, vom Weissbier und dem gebratenen Schwein; die Strasse liegt still da im Mondlicht. Ich habe keine Angst, nur eine Sehnsucht.

Bern, November 1980, Urs Egger

Urs Egger
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(Stand: 2020)
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