BERNHARD GIGER

DIE STADT, DIE MAN AUCH VERLASSEN KANN — NEW YORK: STRASSENSZENEN UND KINOSZENEN

ESSAY

Die Angst, das ist das Schlimmste. Wer sich von der Angst verfolgen lässt, wird nicht überleben, wird sterben, sterben vielleicht in einem Hotel an der 47. Strasse, in einem Hotel, dessen rote Neonschrift vierundzwanzig Stunden lang sirrt, St. Francis, St. Francis. Ein Zimmer kostet um die zehn Dollar, draussen vor der Tür warten finstre Typen, in ihren Gesichtern kannst Du lesen, wie wenig Du ihnen wert bist, für ein paar Dollar schicken sie Dich auf die letzte Reise. Die Rolladen hinter den schmutzigen Fenstern gehen nie hoch, nichts regt sich, niemand macht hier die Zimmer, niemand öffnet die Fenster, um ein bisschen frische Luft hereinzulassen, frische Luft ist hier nicht gefragt.

Oder wird liegengeblieben auf der Strasse, irgendwo Downtown, liegengeblieben wie diese dreckigen, regungslosen Dinger, bei denen Du nicht mehr sehen kannst, ob sie schwarz, weiss oder braun sind, bei denen sich niemand fragt, ob sie noch leben. Der Tod des Anderen ist nicht Deine Sache. Deine Sache ist es, hier durchzukommen.

Die Stadt zersetzt nach und nach den Körper und auch den Geist. Eine Bekannte sagt, hier hast Du immer irgend so ein kleines Leiden, Halsschmerzen oder einen Ausschlag an der Hand.

Mit den kleinen Leiden fangt es an, mit dem komischen Stechen im Rücken, weswegen man doch nicht zum Arzt geht. Und mit der Nervosität geht es weiter, mit der Nervosität, die alle Menschenbilder dieser Stadt kennzeichnet. In einer Bar unterhalten sich zwei junge Frauen sehr ernsthaft über das Theater und überhaupt die Kunst. Ihre Gesichter sind ruhig, ihre Worte überlegt, unaufhörlich aber wippt die eine Frau mit ihrem Fuss, so schnell, dass man den Fuss gar nicht mehr richtig sieht: eine verwischte Bewegung.

Nach der Nervosität, da kommt das Alleinsein. Auf der Strasse drängen sich die ständig Eilenden aneinander vorbei ohne jedes Gefühl füreinander, man mustert sich kurz, achtet aber stets darauf, dass kein Bück von dem Anderen als ein Angebot aufgefasst werden könnte. Jeder ist auf der Strasse für sich, ist ein Selbstverteidiger. Traue keinem, der Dir entgegenkommt.

Aber da kommt plötzlich, im Kino, das zur Gegenwelt wird, einer daher, ein Polizist, dem Du trauen kannst, der dafür sorgt, dass Du ohne Angst durch die Strassen gehen kannst.

Samstagabend, ein Kinopalast am Broadway. Fünf Dollar der Platz. Am Eingang stehen zwei Polizisten und spielen mit ihren Schlagstöcken. Im Saal sitzen vor allem Schwarze, Jugendliche, die nachher vielleicht noch in eine Disco gehen. Wie überall in diesen Kinos wird auch hier viel geraucht, der süsse Duft des Marijuanas gehört zu den Kinopalästen am Broadway. Gezeigt wird Nighthawks, der neue Film mit Sylvester Stallone. Er spielt einen Supercop, der einen international gesuchten deutschen Terroristen durch New York jagt und schliesslich mit einem sauberen Kopfschuss kaputtmacht. (Das Trivialkino hat eine neue Figur, einen neuen Bösewicht: den deutschen Terroristen. Nach dem undurchsichtigen Chinesen und dem feurigen, aber hinterlistigen Italiener nur der eiskalte Deutsche.)

Der Film hat, wie es sich für einen Thriller gehört, der die Spannung halten will, zwischendurch auch ruhige Stellen, Szenen, in denen «nichts passiert». Diese interessieren die Zuschauer nicht, dann kümmern sich die Buben lieber um die Mädchen nebenan. Umso heftiger reagieren sie bei Direktbegegnungen zwischen dem Guten und dem Bösen. Sie fluchen über den Terroristen und geben Sylvester Stallone gute Ratschläge von der Sorte «Kill this motherfucker». Wenn der Mann unter ihnen wäre, würden sie ihn wohl zerreissen, sie sehnen sich richtig danach, dass Stallone sich für all das rächen kann, was dieses deutsche Schwein den Menschen Schlechtes angetan hat. Entsprechend ist das Gebrüll, wenn der Terrorist tot umfällt.

Es ist schon schön, mit einem Film ein grosses Publikum erreichen zu können. Wenn aber der Preis dafür ein Film wie Nighthawks ist - und die gibt es ja zu Hunderten -, dann wird die Frage, ob sich ein Regisseur auf dieses Geschäft einlassen soll oder nicht, zu einer politischen: Nighthawks ist ein Propagandafilm. Nicht der geringste Zweifel an dem System, das da von einem Terroristen angegriffen wird, ist darin zu finden. Der Film zeigt nur, wie das System auf eine solche Herausforderung reagiert, er zeigt, dass es funktioniert. Der Terrorist selber wird als Irrer dargestellt, sein Handeln ist nie begründet und deshalb nur wahnsinnig. Nicht einmal verzweifelt darf dieses Monster sein. Was hingegen nicht fehlt, ist der Hinweis - einer der wenigen zu seinem «Hintergrund» -, dass der Killer in Moskau ausgebildet wurde.

Weil der Terrorist Menschen wie Dich und mich als Geiseln nimmt und durch Bombenanschläge umbringt, darf Sylvester Stallone ihn erschiessen. Er schiesst im Namen des Volkes. Und so, wie der Film die alte These vom Verbrechen, das sich nicht lohnt, darstellt, müssen auch die schwarzen Jugendlichen im Saal dem weissen Leinwandhelden recht geben. Sie haben nie gelernt, sich gegen die Ausbeutung im Kino zu wehren.

Andere, denen es noch dreckiger geht, wehren sich. Die Puerto Ricaner, ohne grossen Erfolg, bei dem Film «Fort Apache, The Bronx». Sie werfen ihm Rassismus vor, aber das ist in dieser Stadt etwas so Selbstverständliches wie das Verkehrschaos am späten Nachmittag nach Büroschluss.

Paul Newman spielt einen Polizisten, der in einem Viertel, in dem überwiegend Puerto Ricaner wohnen, für Ruhe und Ordnung sorgen muss. Paul Newman erledigt die Aufgabe, wie man es sich von ihm gewöhnt ist, mit ein bisschen Charme und ein bisschen Brutalität. Er möchte gern ein Kumpel der komischen Leute in der Nachbarschaft sein. Dass seine Kollegen manchmal ihre Grenzen nicht mehr kennen und aus irgendeiner dummen Laune heraus einen Jugendlichen über ein Dach in den Tod schmeissen, macht ihn zwar nachdenklich, ist aber letztlich nicht sein Bier. Ein Polizist kann halt schon mal durchdrehen bei den Verrückten, mit denen er es Tag für Tag zu tun hat. Da ist zum Beispiel die Hure, das geile Stück, das seinen Kunden ab und zu mit einer Rasierklinge die Halsader aufschlitzt, und da ist der grausame Dealer, der Newmans Freundin den goldenen Schuss versetzt, und da sind schliesslich die Politischen, die nicht einsehen wollen, dass es die Polizei mit ihnen doch gar nicht so schlecht meint. Da ist ein Problem, das der Film zu diskutieren vorgibt, das er aber nur verschärft. Wenn’s um das Geld geht, spielt Hollywood gern mit dem Feuer. Die Gauner in den Produktionsbüros wegen Brandstiftung anzuklagen, würde jetzt, wo doch einer aus der Branche im Weissen Haus sitzt, nicht sehr viel nützen.

Vor einem Sexkino steht einer und glotzt aus tiefen Augenhöhlen heraus in die vorbeiziehende Menschenmenge. Sein Alter ist nicht zu schätzen, das Gesicht erinnert an ein dummes Kind ebenso wie an einen senilen Alten, die Wangen sind eingefallen, und die schmalen Lippen bewegen sich ununterbrochen, als ob der Mann etwas sagen möchte. Vielleicht sagt er auch etwas, vielleicht erzählt er, wie fast alle die todessüchtigen Alkoholiker, die auf den Strassen herumgeschubst werden, eine endlose Geschichte, seine Geschichte. Das Gesicht mahnt an die Gesichter auf den Bildern aus den deutschen Konzentrationslagern.

Die Stunde der Wahrheit

Kaum ein anderer Ort im Hollywoodfilm, im klassischen ganz besonders, ist so bedeutungsvoll wie der Gerichtssaal. Nicht zufällig widmet sich der Film, der nicht weniger als das Sternenbanner ein Signet für die amerikanische Idee von der Freiheit ist, John Fords Young Mr. Lincoln, ausführlich dem Prozess, in dem Henry Fonda der aufgebrachten Menge die Unschuld der beiden bescheidenen, jungen Farmer beweist. Man müsste, um die Botschaft dieses Kinos besser verstehen zu können, die Geschichte des amerikanischen Films vielleicht einmal von dem Ort aus schreiben, wo die Wahrheit, die zertretene und hintergangene, immer wieder von neuem gerettet, wo die amerikanische Seele freigelegt und gereinigt wird. Wo amerikanisches Denken sich endgültig durchsetzt. Hollywood verschweigt ja in seinen Filmen nicht, dass es auch in Amerika miese Typen gibt, im Gegenteil, es wird nicht müde, bis in die jüngste Zeit darauf hinzuweisen, wie bedroht die Freiheit ist. Aber Mord und Totschlag, Hass und Hetze, Betrug und Vorurteile können, so wenigstens sieht es Hollywood, Amerika nicht erschüttern, irgendwann wird die alte Ordnung wiederhergestellt und das Schlechte besiegt. Diese immer gleichen Rituale der Wahrheitsfindung gehören dem Kino. Sie entspringen einer Idee.

Im Nightcourt an der Center Street dauern die Verhandlungen bis nachts um ein Uhr. Hier werden die kleinen Diebe im Schnellverfahren abgefertigt, die Pflichtverteidiger haben kaum eine Minute Zeit, um sich mit den Angeklagten zu unterhalten. Die Verhandlungen sind öffentlich, im Saal sitzen ein paar Penner und Angehörige oder Freunde der Angeklagten. Die Einrichtung ist eigentlich keine schlechte Sache, aber sie funktioniert nicht mehr, zu viele Fälle müssen in einer Nacht erledigt werden.

Eine Szene - nicht aus dem Kino: Vor dem hohen Pult des Richters steht ein etwa zwanzigjähriger Schwarzer in einem verwaschenen, oft geflickten Jeansanzug, in der Hand hält er einen violetten Filzhut. Er wird bewacht von mehreren Polizisten, auch unter ihnen Schwarze. Niemand kümmert sich um ihn, die Verteidigerin, die Gerichtsdiener und der Richter haben noch anderes zu tun. So lässt man ihn einfach stehen, minutenlang. Der Junge hat Angst. Er ist angeklagt des Raubes. Die Verhandlung dauert noch weniger lang, als es hier üblich ist, offenbar zweifelt die Verteidigerin an seiner Zurechnungsfähigkeit und verlangt deshalb ein psychiatrisches Gutachten. Der Prozess wird um vierundzwanzig Stunden vertagt. Der Richter, ein altes kleines Männchen mit spitzem Glatzkopf, schaut den Angeklagten - wie alle anderen Diebe, Einbrecher, Drogenhändler und Huren auch - gar nicht an, für ihn ist der ängstliche Junge einer unter vielen, einer ohne Gesicht.

Der Junge ist verzweifelt, er will davonrennen, aber fünf, sechs Polizisten werfen sich auf ihn, einer tritt ihm zwischen die Beine, ein anderer drückt ihm die Finger in die Augen. Der Richter blättert in seinen Akten, die Verteidigerin dreht sich um. Dann führen die Polizisten den Jungen weg, er schreit: «I’m blind», einer schlägt ihm noch einmal in die Hoden. Die Polizisten, auch die schwarzen, lachen. Die Penner im Saal rühren sich nicht.

Die Verteidigerin sagt uns später, dass der alte Richter einer der liberalen sei. Sie sagt auch, dass der Junge eine schwere Nacht vor sich habe. Wer einmal davonzurennen versucht, ist gebrannt.

Filmtheorien und Hamburger

Hollywood braucht New York gern als Kulisse, die Regisseure aber, die von dort kommen und von Zeit zu Zeit zurückkehren, um in ihrer Stadt einen Film zu drehen, Cassavetes und Scorsese, sind nicht die Lieblinge der Filmindustrie. Denen von New York haftet etwas Extremes und Intellektuelles an. Und seit dieser Frechdachs Allen nicht einmal seinen Oscar abgeholt hat, ist man in Kalifornien erst recht vorsichtig gegenüber denen von der Eastcoast. Robert Redford kann zwar, als Regisseur, John Cassavetes das Wasser nicht reichen, aber der nachdenkliche Blondschopf ist eben, wenn es um die begehrten goldenen Dinger geht, mit denen die Filmindustrie Jahr für Jahr sich selber beweist, dass sie gute Arbeit geleistet hat, schon das nettere Hätschelkind als der Trunkenbold aus New York.

Wenn - vereinfacht dargestellt - Hollywood das Zentrum der Industrie ist, dann ist New York jenes der Unabhängigen. Immer wieder kamen die Versuche, in Amerika ein Kino neben Hollywood zu etablieren, von New York. Nicht weniger oft jedoch scheiterten die Versuche, weil sich die Unabhängigen zu wenig um die Organisation von Produktion und Vertrieb kümmerten, weil ihr Zorn auf Hollywood meistens nur aus dem Bauch und vielleicht dem Herzen kam, und nie umgesetzt wurde in eine brauchbare Theorie, und schliesslich, weil der eine oder andere Filmemacher die erstbeste Gelegenheit, für Hollywood zu arbeiten, nicht ungenutzt vorbeigehen Hess. Auch die neusten Bemühungen der Unabhängigen werden, so wie es jetzt aussieht, ohne Erfolg bleiben.

Rückblende: Grosse Worte brauchten die Filmemacher, die sich am 30. September 1960 in New York zu der Gruppe New American Cinema zusammenschlössen. «Dem offiziellen Film in aller Welt geht der Atem aus», erklärten sie in einem Manifest, das sogar von Peter Bogdanovich mitunterzeichnet wurde. Und weiter «Der offizielle Film ist moralisch korrupt, ästhetisch überlebt thematisch oberflächlich, temperamentsmässig langweilig.» Die neue Gruppe schimpfte über die «Filme in Rosa» und verlangte Filme in der «Farbe des Bluts». Ganz unbescheiden erklärte sie auch: «Wir wissen, was zerstört werden muss und wofür wir einstehen.»

Es kam anders, die Rebellion fand nicht statt. Abgesehen von Shadows von Cassavetes und The Connection von Shirely Clarke entstanden keine richtungsweisenden Filme. Jonas Mekas, der Wortführer der Gruppe und Herausgeber der Zeitschrift «Film Culture», skizzierte zwar eine Theorie (Zum neuen amerikanischen Film, Der Film, Band 2, München 1964), viel mehr als ein Katalog dessen, was die neuen Filmemacher nicht wollten, wurde daraus aber nicht. So blieb das einzige Merkmal der Gruppe das bewusst angestrebte Chaos, die fröhliche Anarchie:

Wie der neue Mensen ist auch der Neue Film nichts Bestimmtes, nichts Endgültiges, sondern eine Sache, die lebt und sich entwickelt, die unvollkommen ist und ihre Irrtümer begeht (Jonas Mekas)

Nicht zu der Gruppe selber, aber doch zu ihrem Umfeld gehörte auch Andy Warhol. Der Star der New Yorker Szene der sechziger Jahre war jedoch zu eigenwillig, als dass von ihm und seinen Filmen aus Impulse für die «Bewegung», wie sich das New American Cinema nannte, ausgehen konnten. Einige seiner Filme, Chelsea Girls etwa, sind Klassiker des Untergrundfilms, an denen, abgesehen von der technischen Ausführung, heute selbst ein Hollywood-Produzent kaum etwas auszusetzen hätte. Sonst blieben sie ohne Folgen - wie fast alles, was das New American Cinema produzierte. Die Gruppe hat sich masslos überschätzt, und sie hat das, was sie «offiziellen Film» nannte, also auch Hollywood, völlig unterschätzt.

Ein bisschen Nostalgie: Am Samstagabend im «Ritz», einem alten - was man hier alt nennt - Theater, das heute als Konzertlokal und Disco benutzt wird. Die Band ist nicht besonders gut, die Leute stehen herum, als ob sie auf etwas warteten. Ein Typ kommt auf mich zu und stellt mir Jimmy vor, einen jungen Burschen in weit aufgeknöpftem Jeans-Hemd, Haare auf der Brust und ein Gesicht, das nicht weniger schön und blöd ist als jenes von John Travolta. Jimmy lächelt und spielt den Teenager vor der ersten Liebesnacht. Nein, ich will ihn mir nicht kaufen.

Auf der Galerie sitzt an einem langen Tisch Andy Warhol. Er ist allein und alt. Am anderen Ende des Tisches stehen ein paar Bewunderer. Andy winkt ihnen zu, er weiss, was er ihnen als Touristenattraktion schuldig ist. Ein Videotape wird auf eine grosse Leinwand über der Bühne projiziert: die letzten Bilder von John Lennon. John im Central-Park, John trifft Yoko, John und Yoko gehen zusammen ins Bett: ein Familienfilm, der jetzt plötzlich zum Dokument wird. Die Leute im Saal verstummen und schauen staunend zur Leinwand.

Beide, Warhol und Lennon, waren einmal Idole einer Generation, die aufgebrochen ist zu einem neuen Leben, und, wie es nicht nur im Manifest des New American Cinema heisst, den neuen Menschen schaffen wollte. Aber der neue Mensch wurde nicht geboren. Jetzt ist 1981 - es bläst ein anderer Wind.

Wenn man mit denen spricht, die heute ein unabhängiges Kino machen wollen in Amerika, spürt man davon jedoch kaum etwas. Sie haben wenig gelernt aus den Erfahrungen ihrer Vorgänger, darüber kann auch ihre nun verstärkte Präsenz in kleineren Kinos nicht hinwegtäuschen, selbst dann nicht, wenn Variety - im März 1980 - auf der Frontseite meldete: «Indie Filmakers go Commercial».

Wenig gelernt haben die Unabhängigen auch von den Europäern, denen sie sich, was die Produktion angeht und zum Teil die Filme, näher fühlen als Hollywood. Einen Parallelverleih, der national oder wenigstens innerhalb einzelner Staaten geregelt wäre, kennen sie nicht, ein Katalog wird gegenwärtig erarbeitet. Dabei wäre gerade ein solcher längst notwendig gewesen, damit interessierte Verleiher oder Kinobesitzer, nicht weniger aber die unabhängigen Filmemacher selber, endlich eine Übersicht hätten über das, was ausserhalb Hollywoods entsteht. Heute muss einer, der dies wissen möchte, sich durchfragen, was er dann zu sehen bekommt, ist eine zufällige Auswahl. Aber auch fragen nützt manchmal nichts: der Leiter des Büros der Unabhängigen in New York zum Beispiel kann keine Auskunft geben über einen Film, der am gleichen Abend in einem Theater der Stadt uraufgeführt, und für den überall mit Plakaten geworben wird.

Zu der schlechten Organisation passt auch, dass der Begriff Unabhängige, seit er herumgeistert, noch nie genau definiert wurde. Was sind das, unabhängige Filme? Was unterscheidet sie von Hollywood, besonders von den kleineren Filmen, die dort entstehen? Gemeinsam ist ihnen, dass sie eben nicht in Hollywood entstehen, dass für die Produktion nicht eine Major Company zeichnet. Aber schon die Abgrenzung gegen jene Firmen - Lorimar (Being There, Carny) und Orion (Heartbeat) - die zwar selber produzieren, nachher aber die Filme einer Major Company zu verkaufen versuchen, wird nur zaghaft vorgenommen. Gemeinsam ist den unabhängigen Filmen auch, dass sie wenig bis extrem wenig kosten. Ein Film mit einem Budget von etwa 200 000 Dollar ist unter den Unabhängigen schon ein sehr teurer Film. Aus diesen kleinen Budgets eine Theorie abzuleiten, wäre jedoch falsch. Da es das in Amerika fast überhaupt nicht gibt, was wir «kulturelles Geld» nennen, sind die Filmemacher, die nicht mit zahlungskräftigen Produzenten zusammenarbeiten, gezwungen, mit minimalen Budgets auszukommen. Darum sind abendfüllende Spielfilme, die nicht einmal 100 000 Franken kosten, keine Seltenheit. Gemeinsam ist den unabhängigen Filmen -wiederum vor allem aus finanziellen Gründen - schliesslich auch, dass die Techniker nicht den grossen Gewerkschaften angehören und dämm die Budgets nicht mit ungeheuren Preisforderungen und peinlich genau geregelten Arbeitszeiten in die Höhe treiben.

Bei Filmemachern, die sich so gern auf europäische Vorbilder berufen, würde man erwarten, dass sie auch in Europa gängige Produktionsformen übernehmen, dass sie, gerade um sich deutlich von Hollywood abzuheben, die Autorentheorie propagieren. Dem ist aber nicht so, im Gegenteil, Produzenten sind gefragt, die völlige Kontrolle über das eigene Produkt scheint kein besonderes Anliegen der Unabhängigen zu sein. Das bringt sie in den Verdacht, dass sie, wenn sie könnten, schon auch nach dem verhassten Hollywood gehen würden.

Wie naiv - der Ausdruck ist leider angebracht - die Unabhängigen manchmal sind, zeigt sich, wenn sie einen langsamen Film, einen Film mit langen Einstellungen und wenig Action, «europäisch» nennen, oder wenn sie glauben, dass eine Geschichte, die nicht gradlinig durcherzählt wird, allein deswegen schon an Godard erinnere. Er habe, sagt der Filmemacher Alexandre Rockwell (er hat Georg Büchners Lenz in das heutige New York übertragen), seine Equipe, die er nicht bezahlen konnte, mit Hamburgern und Filmtheorien zusammengehalten. Die Mischung ist nicht untypisch für das Filmverständnis vieler Unabhängiger.

Dies alles soll nun jedoch nicht heissen, dass es in Amerika keine erwähnenswerten unabhängigen Filme gibt. Es gibt sie schon, nur sind es nicht immer die, die auch hier bekannt wurden. Der vielgerühmte Northern Lights von Hanson und Nilsson zum Beispiel ist halt wirklich nicht weniger oberflächlich und geschmäcklerisch als Terrence Malicks Days of Heaven, andererseits sind Dokumentarfilme wie Harlan County und Maxi Cohens Joe and Maxi Werke, die weit über dem Durchschnitt der gegenwärtigen amerikanischen Dokumentarfilmproduktion liegen.

Spielfilme, die berühren, sind Jan Eglesons The Dark End of the Street und The Dozens von Christine Dali und Randall Conrad. Egleson erzählt von weissen und schwarzen Jugendlichen, die sich Nacht für Nacht auf dem Dach einer Mietskaserne in einem Arbeiterquartier von Boston treffen, bis nach dem tödlichen Unfall eines schwarzen Burschen Rassismus die Freundschaft aufbricht. Und The Dozens berichtet von einer jungen Frau, die aus dem Gefängnis kommt und während der Bewährungszeit von Behörden und Polizei ständig schikaniert wird. Die beiden Filme sind formal nicht aussergewöhnlich, ihre Machart erinnert an Reportagen. Aber sie zeigen ein Amerika, das man sonst nicht zu sehen bekommt, sie hätten in Hollywood nicht entstehen können. Sie sind echte unabhängige Filme, zwei der ganz wenigen.

Todeslandschaften

Ein Spaziergang: Ausgerechnet in dem Viertel, wo man noch heute Anwohner russisch miteinander reden hört, in der Nähe der Kreuzung Second Avenue und St. Marks Place, liegt die Bar, die mit einem Plakat im Fenster darauf hinweist, dass sie die älteste der Stadt sei. In dem dunklen Raum, der tatsächlich an Bilder aus dem letzten Jahrhundert erinnert, sitzen nur Männer: ein Ort, wo dreckige Witze die Runde machen.

Über St. Marks Place kommt auf Rollschuhen ein schlanker Schwarzer gefahren. Er hat riesige Kopfhörer übergestülpt und tanzt: ein Lächeln, das vorbeihuscht.

Hier ist auch der Polnische Demokratische Club zu finden. Am Fenster im Untergeschoss steht ein Mann, der lange und nachdenklich auf die Strasse hinausschaut. Er gleicht, ein bisschen wenigstens, Lech Walesa. Ja, warum sollte der polnische Gewerkschaftsführer nicht plötzlich, ohne dass irgendjemand davon wüsste, in New York sein? Es heisst doch, in der Stadt sei alles möglich.

Weiter unten dann das Kino von Howard Otway, Theatre 80. Tag für Tag, Jahr für Jahr laufen hier alte Filme aus Hollywood, Filme, die Otway gesammelt hat. Der Schatz dieses Mannes, der sich rühmt, Leinwandgrössen wie Bette Davis und Gary Grant gekannt zu haben und dies auch mit signierten Fotos im Foyer belegt, muss unerschöpflich sein und seine Liebe zum Kino grenzenlos. Denn jedes Mal, wenn ich dorthin komme, steht er selber an der Kasse oder hinter der Theke in der Bar.

St. Marks Place: New York von seiner schönsten Seite. Das ändert aber rasch, wenn man noch weiter östlich geht, wenn man die First Avenue und die folgenden, mit Buchstaben bezeichneten, hinter sich lässt. Es gibt Teile im East Village, die sehen aus wie die deutschen Städte nach dem Krieg. Ganze Strassenzüge zerfallen, weil die Reichen mit dem Boden spekulieren. Belebt werden diese Ruinen nur noch von Junkies, wahnsinnigen Freaks und Puerto Ricanern. Hin und wieder siehst Du ein Kind mit einem langen Messer spielen. Die Ruhe ist unheimlich, nur von ganz weit her hört man das nie abbrechende Rauschen der Stadt.

In diesen Strassen haben Regisseure wie Arnos Poe, Alexandre Rockwell und Jim Jarmusch Filme gedreht über das Ende der Zivilisation und die letzten Hoffnungen, die wie exotische Pflanzen in den Todeslandschaften aufblühen. Diese Filme – Subway Riders, The Foreigner (Poe), Lenz (Rockwell) und vor allem Permanent Vacation (Jarmusch) – erzählen immer wieder die gleiche Geschichte: Ein Mann ist, ohne Ziel, wie es scheint, einfach nur darum, weil er sich nicht mehr ruhig halten kann, unterwegs quer durch New York. Er trifft Alleingelassene, die ihm ihr Problem, vor dem sie nun ein Leben lang geflüchtet sind, anhängen wollen, oder er trifft einen Saxophon-Spieler, der ganz für sich selbst mit der Musik die grässliche Welt anklagt. Er trifft eine Frau, die sich mit grossem Genuss in den Mund spritzt, und er trifft Deborah Harry von Blondie, die ihn um Feuer bittet und so tut, als ob dies das Selbstverständlichste der Welt sei. Aber in dieser Welt ist das nicht mehr selbstverständlich, weil der Tod, der viele Gesichter hat, an der Ecke wartet.

Für die Regisseure dieser Filme geht es nicht mehr darum, etwas aufzudecken oder Veränderungen zu provozieren. Für sie ist die Welt - die Welt, die da New York heisst - am Untergehen. Damit haben sie sich abgefunden.

Am Schluss von Permanent Vacation geschieht etwas, was man nicht erwartet in einem solchen Film: der Mann, dessen Reise durch New York der Film beschreibt, entschliesst sich, wegzugehen, nach Paris. Er kehrt New York den Rücken zu.

New York, Bern, April, Mai, Juni 1981

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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