DAVID WEISS

DIE EIGENARTIGE HEIMAT DES FILMS — ERFAHRUNGEN IN HOLLYWOOD

ESSAY

Ich sitze im Kino am Hollywoodboulevard, The Black Marble läuft. Es kommt darin zu einer Verfolgungsjagd: die Vine-street hinauf, über den Sunsetboulevard, dann über den Hollywoodboulevard, rechts entlang vom Kino, dahinter schleudern beide Autos in die Franklinstreet, dann nochmals links, dann wird verhaftet, links vom Kino.

Wenn Heimat etwas zu tun hat mit Zugehörigkeit und dem Recht, irgendwo zu sein, weil man immer schon dort war, oder dort gross geworden ist, dann kann man sagen, dass Los Angeles die Heimat ist der Industrie Hollywood, da sie in und mit der Stadt aufgewachsen ist und auch schon länger dort ist als die meisten andern Mitbewohner. Vor hundert Jahren war Los Angeles eine spanisch sprechende Kuhhändlerstadt mit 11000 Seelen. Dann kam die Eisenbahn, mit der relativ stürmisch, aber bequem die brachliegende Wüste Südkalifornien bevölkert wurde; 100000 kamen bis zur Jahrhundertwende, die restlichen 13 Millionen danach. Das letzte Jahrhundert wurde herausgefiltert, auch Europa, zurück blieb ausschliesslich Gegenwart. Auch heute noch gewährt die Stadt bereitwillig, dass man sie sich zur Heimat nimmt: es gibt keine alten, unverständlichen Traditionen, die einem ausschliessen, man kann die eigenen mitnehmen, falls man sie noch braucht. Palmen gab es früher nicht, auch keine Orangen, selbst das Wasser ist nicht von dort, man ist kaum fremder als all die andern, die knapp von einer ziemlich künstlichen Landschaft in mediterranem Klima zusammengehalten werden. Umstritten ist nur der Einfluss der Sonne auf die Weichheit der Birnen.

Die ersten Filmer kamen angeblich wegen dem durchgehend guten Wetter nach Los Angeles. Eine andere Theorie besagt, sie wären mit gemietetem Equipment übers Wochenende von New York weggeflüchtet, und zwar möglichst weit. Auf alle Fälle hat man das Schausteller- und Vagantenpack nicht gern gesehen. Die Filmer wurden vor die Stadt gewiesen, wo sie kampierten. Schauspieler und Tiere, so gab es Tafeln, wollten Vermieter nicht in ihren Wohnungen. Relativ früh störten Dreharbeiten den Verkehr: Die Autos, die gleichaltrigen und auch in Los Angeles heimatberechtigten Geschwisterchen, eigneten sich doch zu gut für Slapstick und Verfolgungsjagden. Damals dürfte die Choreographie entwickelt worden sein, nach der heute in aller Welt die Polizeiautos vor die Überfallene Bank fahren. Mit solcher und ähnlicher beharrlicher Produktion von Unterhaltung gelang es den Filmern, sich eine Stellung in der Gesellschaft zu erobern, das asoziale Erbteil der Lügner, Phantasten, Illusionisten scheint mehr oder weniger verdeckt, aber integriert in den Filmen.

Hinweise auf das 19. Jahrhundert fehlen in Los Angeles, es sei denn in den völlig chaotischen Zitaten in der Architektur aus der gesamten Vergangenheit zivilisierter Völker, oder dann in den Studios. In diesen geschichtlich leeren Raum hinein wurden offensichtlich gerne neue Geschichten erfunden, nicht nur für den Film, und man kann eine Stadtrundfahrt zusammenstellen, die einem ausschliesslich an Orte führt, die irgendwie zu tun haben mit den neuen Fabeln und Mythen. Unten in Anaheim gibts den Kindergötterolymp mit der Maus und der Entendynastie. Ich wurde von Goofy, den ich von den Medien her gut kenne, persönlich begrüsst, d. h. er schüttelte mir die Hand, ein fotografierenswertes Ereignis. Ein ganzer Stadtteil, in den fünfziger Jahren entstanden, heisst Tarzana, zu Ehren des vitalen Analphabeten, der instinktiv das Böse bekämpfte. In der Los Angeles City Hall, lange Zeit das höchste Gebäude der Stadt, arbeitete als Journalist der abgespaltene Alltagsteil von Superman, Clark Kent, nachzuschauen in den frühen Comix. Beim Observatorium bedrohte irgend so ein Teddy James Dean mit dem Messer und nannte ihn Hühnchen. Am andern Stadtende, bei den Klippen, liess das Drehbuch den sich oft kämmenden Maulhelden bei der Mutprobe im Auto in den Pazifik stürzen, usw. Es gibt keine Tafeln, die das sagen, man kriegt das so erzählt, und man vergisst es nicht, weil man die Geschichten ja schon lange kennt. Fährt man auf dem Wilshireboulevard, weiss man, dass Chandler Philip Marlow gerne hier durchfahren liess. Das gibt der eleganten Strasse eine zusätzliche feine Bedeutung, die schwierig zu beschreiben ist, aber erheitert. Auch Bukowsky hat einige schöne Stellen beschrieben, oder man könnte eine Map of the Stars kaufen, wo die Wohnsitze der Stars eingetragen sind.

Dann gibt es noch Los Angeles als Entenhausen. Entenhausen ist die Heimat von Donald, man erkennt es, schon wie es gezeichnet ist. Dort hat Donald sein Haus, seine Stube, man erkennt sie, obwohl es jedesmal anders aussieht. Nur Donalds Probleme sind immer gleich. Columbo, Charlis Angels usw., die Helden der im Freien gedrehten Massenproduktion, lösen die immergleichen Probleme - zur allgemeinen Beruhigung - vor der Kulisse des internationalen Entenhausen, in einem mythischen TV-Land, erkennbar schon an den Polizisten, an den Palmen, am hellen Licht und den harten Schatten, an den grossen Autos. Es ist die Heimat der Südkalifornier, es sind ihre Polizisten, ihre Autos, es ist ihre Unterhaltung. So haben sich die Einheimischen auch schon gesehen, wie sie sich mit Bodysnatchern herumschlagen mussten, oder es gab Labors in der Nachbarschaft mit in ihrer Einsamkeit aus dem biologischen Gleichgewicht gebrachten Forschern usw: Das Phantastische darf hereinbrechen und zusammenprallen mit Alltäglichem, das sich zu bewähren hat.

In Zürich wurde meines Wissens zum ersten Mal ein Überfall mit einer automatischen Schusswaffe auf ein Tram gefilmt. Das wird, im Film dann, die Zürcher speziell berühren. Denn praktisch gibt es so etwas ja nicht, es ist nur eine Phantasie, die sich um etwas Realismus bemüht. Es scheint, dass man sich hier nicht gern vorstellt, die Gemeinschaft könnte durch Riesenspinnen bedroht sein, oder von Zombies, oder eine unbekannte Kraft könnte eine ganze Göhnersiedlung in den Wahnsinn treiben, und man müsste eine Lösung suchen.

Im ersten Bild der Geschichte liegt Donald jeweils auf dem Couch und schläft, es ist idyllisch, etwas wie bei uns, bis dann die Neffen und die Bewegung hereinbrechen und die Unterhaltung beginnt.

Kürzlich kamen Bilder vom Saturn, ziemlich weit von der Heimat entfernt, sie kamen aber auch von Pasadena, was etwa 20 km von den Studios von Hollywood entfernt ist, was mir erwähnenswert scheint.

David Weiss
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 1981)
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