ANDREAS BERGER

VOM LEBEN MIT DEM KINO — CHRISTIAN SCHOCHER, SEINE FILME UND DER REISENDE KRIEGER

CH-FENSTER

«Leben mit und ohne Kino» heisst eine Nummer dieser Zeitschrift. Der Bündner Christian Schocher hat sich längst für ersteres entschieden. Er, gelernter Photograph, hätte ein Photogeschäft übernehmen können, hat sich aber entschlossen, lieber das Kino in Pontresina zu übernehmen, wo er allabendlich selbst Filme vorführt; den Photoladen führt seine Schwester. Und nebenbei macht er Filme, kleine Filme ohne grossen Aufwand, die er meist selbst finanziert, Filme ohne grosse Ambitionen, einfach so, aus der Lust und Freude am Kino.

Leben mit und ohne Kino: Kino und Leben sind untrennbar miteinander verbunden. Und vom Leben losgelöstes Kino mag ja vielleicht als grosse Kunst gefeiert werden, aber das ist dann ein langweiliges, akademisches, entsetzlich steriles Kino. So sind denn die Filme von Christian Schocher nicht das, was landläufig als Kunst gilt. Umso mehr haben sie mit dem Leben zu tun. Sich Filme von ihm anzuschauen heisst: sich nicht Thesen, Tatsachen und Meinungen um den Kopf schmeissen zu lassen, sondern einzutauchen in eine archaische Bilderwelt, sich treiben zu lassen vom beständigen Fluss der Bilder, sich mitreissen zu lassen von der Bewegung der Filme. In einem Satz: Kino zu erleben. Für Christian Schocher ist Kino nicht Mittel zum Zweck; ihm ist es Thema.

Über Christian Schocher und seine Filme zu schreiben heisst, über eine Art des Filmemachens zu schreiben, die mit dem offiziellen Filmkultur-Betrieb in der Schweiz nichts gemeinsam hat. Da ist vor allem der Kampf gegen Zwänge verschiedenster Art zu erwähnen: gleichzeitig Regie zu führen, die Kamera zu bedienen und ein Kleinkind im Kinderwagen zu schaukeln, weil die Mutter vor der Kamera steht (Das Blut an den Lippen der Liebenden); mit einem Darsteller zu drehen, der nicht autofahren kann, aber einen Vertreter spielen muss, der ständig mit dem Auto unterwegs ist (Reisender Krieger); oder ganz einfach: mit 200000 Franken einen dreistündigen Film zu machen, ohne dass die Geldknappheit an allen Ecken und Enden des Films sich negativ bemerkbar macht.

Es gibt Kritiker, die seine Filme (selbst noch den Reisenden Krieger, diesen grossen Bilderbogen) dilettantisch finden. Das ist unfair und dreckig angesichts eines Filmemachers, für den Kino keine abgekartete Sache ist, der sicher kein Bergman oder Antonioni ist, der aber auch gar nie den Anspruch stellt, so einer zu sein. Für Schocher ist jeder Film ein bisschen ein Neuanfang, ein Abenteuer, dessen Ausgang zu Beginn der Arbeiten absolut offen ist. Und jedesmal, wenn man sich einen seiner Filme anschaut, dann hat man das Gefühl, hier versuche einer abseits der üblichen (ausgefahrenen) Geleise der Filmwirtschaft das Kino für sich neu zu erfinden und zu erforschen. Seine Filme sind geprägt durch eine unbändige, offensichtliche Lust am Experimentieren und Ergründen; sie sind voller Sprünge, voller Bewegung und voller Bilder, uneinheitlich und unordentlich. Ihre Oberfläche ist nicht spiegelglatt, sondern rauh und angekratzt. Seine Filme sind ein bisschen wie das Leben: vital, zärtlich, voller Überraschungen, manchmal auch nur langweilig, was aber nicht zu stören braucht.

Christian Schocher ist ein Einzelgänger, der bisher jegliche Anpassung an das, was jeweils gang und gäbe ist, verweigert hat. Seine Filme produziert er in weitgehender Unabhängigkeit; den ersten hat er selbst finanziert, erst beim 3-Stunden-Film Reisender Krieger haben ihm Fernsehanstalten und der Staat geholfen. Er dreht vorwiegend mit Leuten, die er kennt, mit Freunden und Bekannten. Seine Filme bearbeitet er selber (meist allein) bei sich im eigenen Kino; höchst selten sucht er ein professionelles Studio auf. An den bisherigen drei Langfilmen hat er jeweils rund zwei Jahre gearbeitet - und dies neben seiner schon erwähnten Arbeit als Kinobesitzer und Operateur.

Die ersten Kinobilder Christian Schochers, vereinigt unter dem Titel Corsin Fontana und seine Objekte, gefilmt von Christian Schocher: Aus alltäglichen, harmlos erscheinenden Objekten (ein Bett, eine WC-Schüssel, ein Schrank, Kehrichteimer) kriechen schlangenähnliche Lebewesen (die in Wahrheit mit Wasser gefüllte Schläuche sind) hervor, einem Flötenton folgend. Sie finden den Flötenspieler, umringen und verschlingen ihn.

Dass der Basler Künstler Fontana, der mit den im Film auftauchenden Schläuchen hantiert, vom Film nicht eben begeistert war, darf nicht weiter verwundern. Es geht ja weniger um seine Objekte als vielmehr um Situationen, in denen diese Objekte auftauchen, und vor allem geht es eben um Kinobilder. Der Film ist von furchtbar einfacher Gestaltung. Seine traumhaften Bilder haben einen ganz ursprünglichen Reiz; sie stehen ganz für sich selbst, so wie der Film ganz für sich selbst existiert. Der Film mutet wie ein Traum an, keiner äussern Logik folgend und von origineller Schönheit. Er ist Schochers erste grössere Erfahrung mit Bildern und Tönen und sein erstes grösseres Abenteuer mit dem Medium Film.

Nur vordergründig ist Die Kinder von Furna (gedreht 1973, fertiggestellt 1975), sein erster Langfilm, ein ethnographischer Film im Stil von Murers Bergler-Werk oder Legnazzis Chronik von Prugiasco.

Ursprünglich plante Schocher, das Theaterstück Ein Araber in Furna von Heinz Lüdi, das dieser mit den Kindern von Furna zur Aufführung bringen wollte, abzufilmen. Das wäre dann allerdings ein sehr eintöniger, nicht sonderlich origineller Film geworden, und Schocher hat die Filmidee denn auch konsequenterweise ausgebaut. Er durchforschte mit der Kamera die Gegend rund um Furna und das Dorf selber, er beobachtete die Schulklasse beim Unterricht, beim Proben des Theaterstücks, in der Freizeit und bei einer Schubeise nach Basel. Auf der Tonspur lässt er Kinder ihre Schulaufsätze vorlesen, einfach so, ohne jeglichen zusätzlichen Kommentar. Der Übermut und die Phantasie, die die Kinder von Furna (noch) an den Tag legen, prägen den Film, der munter und sprunghaft ist. Poetische Bilder einer unbekannten, archaischen Welt, Dokumentaraufnahmen und abgefilmte Szenen des Theaterstücks sind ziemlich willkürlich durcheinandergemischt. Der ganze Film ist wild, chaotisch und unordentlich, aber man spürt Schochers immense Lust ganz deutlich, mit dem Medium Film zu arbeiten und zu experimentieren.

Dann der nächste Film: eine Kinofabel mit einer starken Geschichte, starken Sätzen («Stinken tust du, aber verrecken willst du nicht») und einem starken Titel: Das Blut an den Lippen des Liebenden. Es ist ein Melodram um eine Dreiecksbeziehung, voller Wärme und Zärtlichkeit, aber auch versehen mit den Utensilien eines Westerns: wilden Verfolgungsjagden, einem Banküberfall und Schiessereien. Die Klischees, die Christian Schocher jährlich in rund 200 Filmen sieht, die er in seinem Kino zeigt, bringt er so trocken und nüchtern in seinem Film unter, dass sie schon wieder betroffen machen. Wenn am Schluss des Films das Mädchen stirbt und der Polizist in einem Anfall der Verzweiflung ihren Freund erschiesst, dann ist das, trotz der Künstlichkeit der Inszenierung, ein ebenso starker Moment wie der Schluss von Romeo und Julia auf dem Dorfe, wenn Vreni und Sali sich gemeinsam in den Tod reissen lassen.

Nach diesem Film, der an den Solothurner Filmtagen total durchgefallen und in Schweizer Kinos nie zu sehen gewesen ist, hat Christian Schocher die bereits 1974 entworfene Filmidee zum Reisenden Krieger wieder ausgegraben und hat gegen Ende des Jahres 1979 mit den Dreharbeiten zu diesem einmaligen Werk in der Geschichte des Schweizer Films begonnen.

Der reisende Krieger, dem Sagenheld Odysseus und James Joyces’ Ulysses nachempfunden, ist ein Vertreter für Kosmetikartikel des amerikanischen Konzerns «Blue Eye». Handfeste Fakten und Angaben über ihn und sein Leben vermittelt der Film nur wenige: Krieger (dargestellt vom Filmlaien und Grafiker Willy Ziegler) ist 45 Jahre alt, verheiratet, aber kinderlos, wohnhaft in Zürich. Die Woche hindurch ist er ständig unterwegs. Nur den Sonntag verbringt er gemeinsam mit seiner Frau, von der er sich allerdings weitgehend entfremdet haben dürfte. An einer Stelle des Films gibt er ausserdem zu verstehen, dass er Söldner in Algerien gewesen ist. Aber es geht in Schochers Film ja weniger um diese Person Krieger als vielmehr um dessen Reisen durch die Schweiz während einer Woche. Reisen ist das beherrschende Thema des Films; und die end- und ziellosen Fahrten Kriegers durch die ganz gewöhnliche Schweiz ums Jahr 1980 sind sein Inhalt. Die Landschaften im Reisenden Krieger erscheinen nicht so seltsam flach und zweidimensional wie in Tanners Light Years Away; der Raum, durch den Krieger sich bewegt, ist physisch erfassbar. Es gibt in diesem Werk Kamerafahrten, die minutenlang dauern. So wie Krieger stets in Bewegung ist, ist auch die Kamera Clemens Klopfensteins beständig in Bewegung. Sie begleitet Krieger auf seinen Fahrten, folgt ihm bei seinen Besuchen in Coiffeur- und Schönheits-Salons, registriert seine flüchtigen Bekanntschaften und Gespräche sowie seine durchzechten Nächte in Bars und Kneipen. Kriegers kurze Gespräche, etwa mit einem «Arbeitskollegen», der seine Arbeit mit zynischen Witzen kommentiert, mit einem ausgeflippten Freak, einem Mädchen in einem Kosmetiksalon, einer Bündner Familie und einem jungen deutschen Schlagzeuger, bilden die wenigen Ruhepunkte, in denen auch die Kamera für kurze Zeit an Ort bleibt. Aber selten bleibt Krieger lange an einem Platz, bald fährt er weiter.

Der Kontakt zwischen Krieger und der Kamera ist ähnlich flüchtig wie Kriegers übrige Kontakte zu seinen Mitmenschen. Die Kamera folgt ihm, verliert ihn zuweilen, findet ihn wieder; sie filmt ihn aus Distanz, lässt ihn manchmal fast verschwinden hinter anderen Personen und nimmt so die Rolle eines neutralen Beobachters ein.

An Wim Wenders’ Im Lauf der Zeit erinnert Schochers Film schon vom Titel her: beide Filmtitel suggerieren Bewegung. Beide Filme dauern auch rund drei Stunden, in beiden stehen Männer im Mittelpunkt. Wesentlich sind aber die Unterschiede zwischen dem Film von Wenders und dem von Schocher: Schochers Film ist viel nüchterner (bzw. ernüchternder), viel kälter und härter und manchmal sogar etwas trostlos. Im Gegensatz zum «King of the Road» bei Wenders fehlt Schochers Krieger jeder Anflug von Romantik und Poesie. Krieger hat es längst verlernt, zu träumen und zu hoffen. Wo der «King of the Road» ständig auf der Suche ist, auf der Suche nach sich selbst, da ist Krieger ständig auf der Flucht, auf der Flucht vor sich selbst. Seine Fahrten sind reiner Selbstzweck, und nur zu oft flüchtet sich Krieger in hemmungslosen Alkoholgenuss und -rausch. Seine eigentliche Identität hat er längst verloren, mit seinen Gefühlen weiss er nicht mehr umzugehen, seine Beziehungen bleiben höchst oberflächlicher Natur. Das Anerbieten des jungen Freaks, mit ihm zu schlafen, weist er empört von sich. Ohnehin ist dieses Gespräch (wie auch die anderen Gespräche) recht aufschlussreich: da redet Krieger von Zärtlichkeit und Gefühlen, aber ausüben bzw. ausleben tut er sie nicht, wagt er nicht (mehr) zu tun. Den Freak schmeisst er kurzerhand aus dem Auto; er fährt und flüchtet allein weiter.

Wo Wenders von der Sehnsucht seines Protagonisten nach der Frau, nach Wärme und Geborgenheit berichtet, da konstatiert Schocher bei seinem «Helden» fast nur Selbstentfremdung.

Das Bild der Schweiz, das Reisender Krieger zeigt, ist ein recht tristes und düsteres Bild. Man darf das nicht falsch verstehen. Wir sehen die Schweiz mit den Augen Kriegers, wir sehen seine Welt: endlose Autobahnen, langweilige Schönheitssalons, in denen die Menschen mit künstlichen Masken versehen werden, schäbige Nachtlokale, Bars und Hotelzimmer. Es ist eine ungastliche und ungewohnte Schweiz, die der Film zeigt, eine fremde Welt fast, und nur die Signaltafeln an den Strassen und der gesprochene Dialekt machen einen unmissverständlich klar, dass es die Schweiz sein muss, durch die Krieger reist.

Dieser Eindruck der Schweiz als fremdem Land liegt in der Konzeption des Films: so fremd, wie uns die Welt in diesem Film erscheint, so sehr hat sich Krieger von seiner Umwelt und von sich selbst entfremdet. Krieger ist in seiner Heimat zum Heimatlosen geworden. Warum dem so ist, erfahren wir nicht. Reisender Krieger ist kein psychologisches Drama. Hier wird nichts analysiert und erklärt. Gezeigt werden stattdessen jene Oberflächen und Äusserlichkeiten, in und mit denen Krieger lebt, die er akzeptiert hat, hinter deren Fassade er nicht mehr schauen will. Dass er darunter leidet, zeigt sich in seiner Alkoholsucht.

Aufschlussreich und eigentliche Schlüsselszenen des Films sind die paar Gespräche, die Krieger mit Bekannten führt und in denen ihm und seiner katastrophalen Lebensweise auf den Zahn gefühlt wird. Der erste Gesprächspartner ist, wie Krieger selbst, Vertreter, der zu Kriegers Arbeit zynische Kommentare abgibt. Freilich, der gute Umgangston wird noch bewahrt, die Oberfläche nicht angekratzt, Persönliches bleibt ausgespart. Das ändert sich bei der nächsten, bereits erwähnten Begegnung mit dem jungen Freak (Heinz Lüdi, der Lehrer aus Die Kinder von Furna), das ändert sich noch radikaler im Gespräch mit dem Mädchen im Kosmetiksalon, das Kriegers Beziehung zu seiner Frau unter die Lupe nimmt.

Und wunderschön ist schliesslich das Nachtessen Kriegers mit der Bündner Familie, wo Krieger eine Schüssel Milch trinkt, wobei man sich lebhaft vorstellen kann, was für unangenehme Folgen das in seinen Innereien bewirken wird. Hier ist nicht nur die Entfremdung Stadt-Land offensichtlich; hier werden auch die Identitäten von Krieger und seinem Darsteller Ziegler eins. Krieger/Ziegler erkennt hier seine Heimat wieder und muss zugleich einsehen, dass es für ihn keine Rückkehr in seine Heimat geben kann.

In der letzten Begegnung mit dem deutschen Schlagzeuger scheint sich so etwas wie eine Änderung von Kriegers Charakter abzuzeichnen. Zum ersten Mal geht er auf einen Gesprächspartner näher ein, zum ersten Mal wird er etwas offener und ehrlicher; am Schluss scheint es gar, als würde er den Jungen als seinen Sohn akzeptieren. Gemeinsam fahren die beiden zu Kriegers Wohnung.

Es sind diese zum grössten Teil improvisierten Gespräche, die verhindern, dass Schochers Film zum totalen Ablöscher wird. Hier sprechen, abgesehen vom Vertreter, dem Krieger zuerst begegnet, Menschen, die noch nicht verlernt haben zu leben, die noch ihre Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte haben, die noch versuchen, etwas mit ihrem Leben, so Verschissen es manchmal auch sein mag, anzufangen.

Was man ausserdem bei diesen Gesprächen und Schochers Art, sie in Szene zu setzen, lernen kann: dass man Filmakteure nicht wie Hitchcock als Vieh behandeln muss, um akzeptable Resultate zu erhalten: die Schauspieler haben bei der Gestaltung ihres Auftritts weitgehend freie Hand gehabt.

Offensichtlich sind die Parallelen zwischen Kriegers Irrfahrten und der Odyssee. Mühelos lassen sich Analogien ziehen: der «reisende Krieger» ist natürlich Odysseus, der seine Schlachten (in Algerien) geschlagen hat, der umherirrt, ohne Heimat, ohne Ziel. Ithaka ist die Schlafstadt, von der er montags aufbricht und wohin er samstags heimkehrt, aber nicht die Heimat, die Odysseus vermisst. Seine Frau ist Penelope, die (vielleicht) zu Hause auf ihn wartet. Sein Gefährte ist Don Costa, der andere Vertreter, Nausikaa ist das Bauernmädchen, Alkinoos sein Vater. Calypso/Circe ist das Mädchen im Kosmetiksalon, «eine Doppelfigur, weil sie zwar „Männer zu Schweinen macht“, aber diese „Scheisskerle“ dennoch liebt»1. Und ausserdem: der ausgeflippte Freak als Seher, der Rockdrummer als Telemach und Zürichs «Shopville» als Hades.

Das schöne an diesen Analogien ist, dass sie nicht zwingend sind und vom Film nicht aufdringlich in den Vordergrund gestellt werden. Man kann sie ziehen, so man will, man kann es aber auch bleiben lassen: das ist die Freiheit des Zuschauers. Und das gehört schliesslich auch zu diesem Film: dass er dem Zuschauer viele Freiheiten lässt.

Das Exposé zum Reisenden Krieger sah einen rund 90-minütigen, dem amerikanischen «film noir» ähnelnden Film vor und war voller schöner Bilder und Szenen-Entwürfe. Hätte Christian Schocher sklavisch dieses Exposé verfilmt, wäre wahrscheinlich kein schlechter Film daraus geworden.

Nur eben, das Leben ist halt meist anders als in Drehbüchern, weniger kompakt und mit weniger schönen Bildern und Szenen. Und Christian Schocher ist so klug gewesen, nicht fanatisch an der Vorlage festzukleben, sondern sie jeweils den Gegebenheiten anzupassen. Ein besonders schönes, charakteristisches Beispiel findet sich gegen Schluss des Films. Im Exposé ist folgendes vorgesehen: «Krieger pinkelt das „Blue Eye“-Portal an, tritt dann zurück und schleudert eine volle Bierflasche gegen die „Blue Eye“-Leuchtreklame. Die Flasche zersplittert, Krieger wird von Bierspritzern und Glasscherben geduscht.» Solches soll sich ereignen am Samstagmorgen, nach einer durchzechten Nacht; als es ans Realisieren dieser Szene geht, ist die Filmequipe tatsächlich schon 48 Stunden auf den Beinen, der Hauptdarsteller hoffnungslos verladen. Was im Exposé so schön beschrieben ist, wird dann auf Normalform reduziert, so dass die Szene im Film zwar nicht mehr so «kinogemäss», dafür umso authentischer ist: Krieger und der Junge torkeln vor dem «Blue Eye»-Haus umher, Krieger macht eine leichte Drehung und schmeisst eine Flasche Bier in Richtung Leuchtreklame, die aber unterhalb des Signets am kahlen Beton zerschmettert.

25 Stunden Film sind für den Reisenden Krieger belichtet worden, 15 Stunden lang ist die Arbeitskopie gewesen. Die Nacht- und Innenaufnahmen sind ohne jegliches Kunstlicht mit höchst lichtempfindlichem Material gedreht worden. Der fertiggestellte Film dauert 195 Minuten, und das ist keineswegs zu lang. Trotz der immensen Länge ist der Film sehr überlegt gestaltet und vor allem sehr beherrscht montiert. Keine Szene wird frühzeitig abgebrochen, sondern voll durchgezogen. Anfangs- und Schlusseinstellungen sind, in umgekehrter Reihenfolge geschnitten natürlich, identisch.

Christian Schocher bietet seinen Zuschauern nicht die billigen Sensationen eines James-Bond-Films, dafür vermittelt er einem etwas, was viel spannender und viel wichtiger ist, weil es mit einem persönlich zu tun hat: die Begegnung mit einem Menschen aus dem Alltag, mit einem von vielen Menschen, an denen man tagtäglich gruss- und beachtungslos vorbeigeht. Und wenn wir Krieger, aus dessen ziemlich verpfuschtem Leben da einige Augenblicke geschildert werden, schon nicht helfen können, dann können wir wenigstens dafür sorgen, dass es nicht noch mehr solche «Kriegers» gibt, indem wir zu uns selbst stehen, indem wir unsere Gefühle offen zeigen, indem wir nicht nur unsere Stärken, sondern auch unsere Schwächen preisgeben. Darauf macht der «reisende Krieger», ob nun beabsichtigt oder nicht, aufmerksam.

Reisender Krieger ist am Filmfestival von Locarno gezeigt worden. Dort sind auch Bernhard Gigers Winterstadt und der Clemens Klopfenstein/Remo Legnazzi-Film E nachtlang Füürland uraufgeführt worden. Kürzlich hat man ausserdem in Kleinkinos Urs Eggers Go West, Young Man sehen können. Sowenig diese Filme miteinander verglichen werden können, eins haben sie gemeinsam: es sind alles (vom Aufwand her gesehen) kleine Filme, kommerziell nicht abgesichert und nicht so (entsetzlich) perfekt wie die neuen Werke von Tanner, Goretta, Gloor und Imhoof. Aber sie sind mit Herzblut geschrieben. Da haben Filmemacher noch den Mut, zu sich selbst zu stehen und ihre ganz persönlichen Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste in ihre Werke miteinzubringen. Diese Filme bieten eine angenehme, willkommene (und höchst notwendige) Alternative zur Stillosigkeit und Leere der momentanen Kinoszene.

Zitiert aus der Presseinformation Christian Schochers.

Reisender Krieger. P: Filmkollektiv Zürich; P’leitung: Marlies Graf/Monika Barino; B und R: Christian Schocher; K: Clemens Klopfenstein; Ton: Hugo Sigrist; Schnitt: Christian Schocher/Franz Rickenbach; Assistenz: Heinz Lüdi; Darsteller: Willy Ziegler, Barbla Bischoff, Marianne Huber, Max Ramp, Heinz Lüdi, Jürgen Zöller u. a.

16 mm, s/w, 195 Minuten

Andreas Berger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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