RUEDI CHRISTEN

ALLE FRÜSTE DIESER WELT — ZU E NACHTLANG FÜÜRLAND VON REMO LEGNAZZI UND CLEMENS KLOPFENSTEIN

CH-FENSTER

Von Bern weiss ich praktisch nichts, ich war zwar einmal auf einer Schulreise im Bundeshaus, einmal bei einem Fussballspiel im Wankdorf-Stadion, einmal auf einem Firmenausflug in den Gebäulichkeiten der eidgenössischen Landestopographie und einmal während einer Woche in der Berner Kaserne im WK. Und wenn ich heute jede zweite Woche einmal in Bern bin, dann ist es zur Arbeit. Da komme ich meistens frühmorgens am Bahnhof an, spaziere am jetzt geschlossenen «Cafe Rudolf», am «Bund» und an der «Tagwacht» vorbei ins Radio-Studio, und abends hetze ich von dort wieder zurück, um ja den Zug nach Zürich nicht zu verpassen.

Ich kenne in Bern niemanden so gut, als dass ich einfach anrufen und mich zu einer Übernachtung einladen würde, wenn mir einmal nicht so sehr nach Zürich gelüstet. Von der Berner Szene habe ich so nicht viel mitbekommen. Was ich weiss, sind Second-Hand-Informationen. Ich kenne deshalb nur Offizielles, Amtliches, Oberflächliches.

Und mit Offiziellem beginnt auch E nachtlang Füürland von Remo Legnazzi und Clemens Klopfenstein: Neujahrsempfang im Bundeshaus, Bundespräsident Kurt Furgler redet eifrig, christdemokratisch und scheinheilig vom Recht, das alle Menschen auf ein bisschen Glück hätten und so weiter. Dann das Lächeln in die Kamera, den Champagnerkelch leicht schief in den Händen, während er in gepflegtem Ost-schweizerenglisch dem Negerdiplomaten die besten Grüsse und herzlichsten Glückwünsche an seine Frau, die eben ein Kind bekommen hat, zu überbringen aufträgt: «Is she happy? Oohh!» Aus dem Hintergrund betrachtet Max, Alt-68er und Nachrichtensprecher bei Radio Schweiz International, dieses bigotte Politschauspiel und wartet auf den schriftlichen Text der Neujahrsansprache. Draussen demonstriert die Berner Bewegung für ein autonomes Jugendzentrum, ihr bisschen Glück auf dieser Erde: Politische Widersprüche in Bern am 13. Januar 1981.

Wie Max alsdann das Bundeshaus verlässt, wird er von der Kamera aufgefangen und bis zum nächsten Morgen nicht mehr losgelassen. Sie folgt ihm durch die kalten Winterstrassen zu seinem Büro, von dort nach Hause, in die Beizen, wo sich die Szene trifft, an ein Fest und von dort über das Stadttheater in eine Waldhütte, wieder zurück in die Stadt bis an die Giacomettistrasse, wo im Erdgeschoss der SRG-Generaldirektion der Kurzwellendienst seine Räumlichkeiten hat, dann wieder hinaus in den eisigen Morgen, wo er, voll vom Gefühl versagt zu haben, den Renault 4 seiner Freundin nach einer wilden Fahrt auf dem Platz vor dem Bundeshaus zertrümmert stehen lässt und schliesslich in der aufkommenden Dämmerung verschwindet.

Immer wieder begegnet Max in diesen zwölf Stunden Leuten aus seinem Umfeld, einem alten Genossen beispielsweise, der in der Bewegung eine neue Identität gefunden hat, seiner Freundin, mit der er in einer tiefen Beziehungskrise steckt, seiner Mutter, die ihn unbedingt zum Essen einladen will und irgendwelchen Bekannten, die ihn zu einer kurzen Taxifahrt überreden. Schliesslich lernt er auf dem Fest eine andere Frau kennen, Chrige. Mit ihr verbringt er schwatzend die Nacht, mit ihr schmiedet er auch Pläne, wie er sich einen heldenhaften Abgang aus seinem bürgerlichen Leben verschaffen könnte, scheitert jedoch auch hier und wird auch von ihr verlassen.

Soweit also die Geschichte eines alten, heimat- und haltlos gewordenen Linken, eine Geschichte, wie sie wohl des öftern geschehen mag. Und eine Geschichte, die mit mir - und mit vielen anderen - einiges zu tun hat, genügend Identifikationsmöglichkeiten anbietet. Und doch - die Geschichte hat mich selten in ihren Bann gezogen, selten wirklich sinnlich berührt. Im Gegenteil: Ich habe mich oft aufgeregt.

Zum Beispiel an den Dialogen: Da sagt Max zu Chrige, nachdem er es in der Waldhütte nicht mehr ausgehalten hat und ins Freie geflüchtet ist: «Es ist einfach eine verdammt karge Situation, mir geht einfach alles durch die Lappen, zuerst das mit dem lieben Gott, dann ist die bürgerliche Karriere zerbrösmelt und zuletzt musste ich noch die Vorstellung von Revolution und Sozialismus begraben. Die politischen Zusammenhänge - das war lange Zeit ein wahnsinniger Push, das hatte noch Sinn...» Und weiter, nachdem Chrige eingewendet hat, dass wir jetzt nicht mehr im Jahre 68, sondern 1981 lebten: «Ich kann nicht, verdammt nochmal, ’rumlächeln wenn’s beschissen ist, und es gab einfach ein Loch zwischen Anno domini und heute, das hat dich einfach in den Schilf geworfen, oder wenn du heute wieder antrittst, die Typen, die heut’ wieder auf die Strasse gehen, sind fünfzehn oder wie jung, wenn du als alter Knacker daher kommst...»

Natürlich, was Max hier sagt, stimmt irgendwo. Aber für mich sind solche Sätze zu plakativ, zu oberflächlich. Sicher, die alten Illusionen sind zerbrochen, vor allem die grossformatigen, eben jene von Revolution und Sozialismus. Aber das ist nicht plötzlich, von gestern auf heute geschehen, wie dies die Aussagen von Max oft vorgeben, das Loch war nicht einfach eines Morgens da, sondern es ist die Folge einer kontinuierlichen Entwicklung.

Was ich aber vor allem schlimm finde an solchen Aussagen ist, dass nur der Aussenwelt die Schuld zugeschoben wird, Resignation als Produkt der Umwelt. Und damit macht man es sich zu einfach. Nun, man wird einwenden, ich wäre einerseits nie so stark in die Linke involviert gewesen, und zudem hätte ich mich jetzt ja arrangiert (ich arbeite wie Max beim Radio). Aber dieser Einwand ist zu billig, denn er zielt am wirklichen Problem vorbei. Und dieses Problem ist die Frage, was wir heute noch verändern können, wo wir ansetzen müssen und wo die neuen Ziele sind. Und auf diese Fragen geben plakative Sätze wie jene von Max keine Antwort, im Gegenteil: sie verhindern sie, indem sie entmutigen.

Ein anderes Gespräch: Als Max von der Arbeit nach Hause kommt, begegnet er Sam, seiner Freundin, im Hausgang. Ob sie nicht noch Zeit habe, etwas mit ihm zu essen. Oder wenigstens zu trinken. Sam verneint. Wann er sie treffen könne, will Max wissen. Sie könne ihm nicht sagen, wie lange die Vorbesprechung der Sitzung dauern würde, er könne ja mal vorbeischauen. Kurz darauf treffen sich Sam und Max zu einem Glas. Wie wenn die beiden noch nie über Beziehungsprobleme gesprochen hätten, äussert Max sein Unbehagen, sein Gefühl, ausgenützt zu werden, immer dazusein, aber nichts von Sam zu bekommen, wenn er es nötig hätte. Worauf Sam lakonisch meint, er müsse sein Leben halt selber in die Hände nehmen, sie täte das schliesslich ja auch. Basta.

Und wieder einige Zeit später trifft Max Sam. Noch ist ihre Sitzung nicht zu Ende. Von einer Begrüssung, die darauf hindeuten würde, dass sich die beiden kennen, ist allerdings nichts zu spüren. Im Gegenteil: Das Klima ist eisig, Sams Sätze zynisch, ihre Blicke kalt. Mich regt hier nicht nur auf, mit welcher Oberflächlichkeit eine - zweifellos problematische - Beziehungsgeschichte serviert wird, so als Supplement, um den Topf möglicher Frustrationen vollzumachen, mich regt vor allem auf, welches Frauenbild hier entwickelt wird. Sam, die kalte, arrogante, zynische und politikasterhafte Emanze, die von Sitzung zu Sitzung eilt, nur dass sie sich nicht mit den Schwierigkeiten mit Max auseinandersetzen muss.

Und noch ein Beispiel, das in die gleiche Richtung zielt: In einer Beiz trifft Max eine Frau, die ihren ganzen Frust in die Welt hinausschreit. Sie pöbelt ihn an, wirft mit einem Fäkalienwortschatz um sich, dass einem das kalte Grauen über den Rücken hinunterrinnt. Und das Resultat: Max verschwindet auf der Toilette - sinnigerweise möchte ich fast sagen - und der Zuschauer ist um eine Variante der möglichen Frustrationen reicher. Voilà. Seht, das sind die Fruste dieser Welt! Alle auf einmal!

«Wir haben versucht, einen Augenblick, eine Nacht lang unser Umfeld wiederzugeben, die Menschen, denen wir im Spunten begegnet sind, sich selbst darstellen zu lassen, Hoffnungen und Wünsche im Bild festzuhalten... wir haben versucht, eine alltägliche Realität zur Filmrealität zu machen, weil wir so das Gefühl hatten, Bern im Januar gerecht zu werden.» Dies schreiben Remo Legnazzi und Clemens Klopfenstein in ihrem Pressetext.

Dieses Unterfangen, diese Verbindung von Dokumentarfilm und Fiktion, ist meines Erachtens nur teilweise geglückt. Dies liegt einerseits daran, dass die Geschichte überladen ist, dass hier eine Realität gezeigt wird, die zwar vorhanden ist, die man aber nie in dieser Geballtheit antrifft. E nachtlang Füürland ist eigentlich die Geschichte mehrerer Nächte. Dies ist zwar völlig legitim, hat aber den Nachteil, dass ein Bild von dunkelster Schwärze entsteht, ein Bild, das einem das Reagieren fast unmöglich macht. Die logische Konsequenz daraus ist die totale Resignation, die Verzweiflung auch, die zum Schluss des Filmes in der Amokfahrt von Max deutlich wird. Die Verbindung von Dokumentarischem mit Fiktivem birgt aber noch eine andere Gefahr in sich. Film ist immer ein künstliches Medium, und nur mit einer versteckten Kamera wäre es möglich, Realität so einzufangen, wie sie ist, bzw. wie sie der Filmemacher sieht. Sobald aber offen deklariert Filmaufnahmen gemacht werden, verstellen sich die Akteure. Ganz deutlich sichtbar wird dies am Beispiel der motzenden Frau, die ihren gesamten Frust in die Kamera schreit.

Auf der andern Seite gelingt es mit dieser Art des Filme-machens auch, Szenen einzufangen, die in ihrer Echtheit sonst kaum darzustellen wären. Ich denke dabei an die hervorragenden Beizenszenen, an Szenen, die ich schon zu Dutzenden genau gleich erlebt und erfahren habe, in denen ich mich auch sofort zurechtfinde. Diese Frische, Spontaneität und Direktheit wäre unter Spielfilmbedingungen - abgesehen davon, dass sie nicht zu bezahlen wären - nur mit wirklich hervorragenden Schauspielern zu erreichen. Und diese Szenen nehmen auch einen wichtigen Teil in unserer Realität ein. In dieser Beziehung hätte der Film ruhig ein wenig ausführlicher sein dürfen, er hätte anderem gegenüber mehr Platz gelassen, hätte anderes so auch wesentlicher gemacht. In all diesen Szenen, wie auch in den direkt mitgefilmten Demonstrationen wird somit eine andere Seite des Klimas sichtbar, eines Klimas nämlich, das nicht nur von Eis zugedeckt ist, sondern wo es auch eine Sensibilität und eine Zärtlichkeit gibt, die einem wieder hoffen lässt, nicht nur in Bern.

E nachtlang Fuürland. P: Ombra-Film, im Auftrag der SRG 1981; B, R, K, Seh: Remo Legnazzi, Clemens Klopfenstein; T: Pavol Jasovsky; A l: Hugo Sigrist; M: Asphalt Blues Company; D: Max Rüdlinger, Christine Lauterburg, Adelheid Beyeler, Marlene Egli, Maria Wiesmann, Nick Campbell, Max Gugger, Marco Morelli, John Schmocker u. a.

16 mm, Farbe, 90 Minuten. Verleih: Filmcooperative Zürich

Ruedi Christen
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 1981)
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