MARTIN SCHAUB

DIE ZEIT IST BÖSE

CH-FENSTER

Seit fünfzehn Jahren erzählt der Schweizer Spielfilm mit Vorliebe Emanzipationsgeschichten; doch die Befreiungen, die immer irgendwie exemplarisch gedacht sind, fallen immer schwerer. Es ist ein langer Weg von La Salamandre bis zu Markus Fischers Das Flugjahr. Dem Franz, der sich da am Schluss einer mühsamen, bedrückenden Geschichte aufs Moped schwingt und — einen kühnen Bogen um seine gestikulierenden Eltern fahrend — davonbraust, traut man eine echte Befreiung kaum mehr zu; jedenfalls soviel Chancen wie Rosemonde vor zehn Jahren hat er nicht; sein Flugjahr könnte böse enden: im kleinlauten Verstummen, vielleicht gar in der Selbstzerstörung, mit einem Absturz.

Man erzählt in dieser Zeit und in diesem Land keine hochgemuten Geschichten mehr. Irgendwie kämen sie den Autoren wie Lügen vor in dieser bleiernen Zeit, wie Wunschdenken, das man sich nicht mehr leisten darf. Die Zeit ist böse heisst der neue Film von Beat Kuert: ein mutloser, ein verzweifelter Titel, selbst wenn Kuert in diesem Film, der eine Art Skizze ist — was eben auch zur neuesten Zeitstimmung passt —, eine Botschaft verkünden will, ein Bekenntnis wenigstens: Solidarität der «No-future-Generation».

Die Figuren einer neuen Familie des jungen Schweizer Films bewegen sich haarscharf am Rande eines schwarzen Abgrunds, und einige stürzen hinein. Die Leidenden, denen die Kraft zum Aufbegehren fehlt, gemessen die Sympathie der Filmemacher. Konnte man darüber noch streiten in Bernhard Gigers Winterstadt, einem Film «gegen die Angst», wie der Autor sagt, einem Film «aus der Angst», wie andere spürten, ist bei Die Zeit ist böse volle Klarheit hergestellt. Die nobelste Lebensmöglichkeit in dieser «bösen Zeit» ist das Verstummen, ist der Abschied: die neueste Spielart der Verrücktheit, die ein Hauptmotiv, wenn nicht gar das Hauptmotiv des Schweizer Spielfilms ist.

Ich denke nicht, dass es sich bei diesen Filmen, die das Auslöschen thematisieren, um eine Mode, um Koketterie handelt. Ich nehme Markus Fischers Das Flugjahr, Kuerts Die Zeit ist böse, Pius Morgers Windplätze, aufgerissen, Jacqueline Veuves Parti sans laisser d’adresse und selbst Costa Haralambis’ Ciaire et l’obscur ernst. Auch indem ich mich gegen die Bedrückung wehre, die sie einzeln und zusammen bewirken.

Man mag Alain Tanners Hoffnungsfilm Lightyears Away kitschig, blauäugig und unzeitgemäss finden, eine idealistische gutmütige Phantasie eines «kleinen 68er Propheten»; doch man wird ja dann doch nicht vergessen wollen, dass er auf Messidor folgte, den düstersten Film in Tanners Werk, der an den gleichen Abgrund herantrat wie die Filme, von denen hier die Rede ist. Tanner gibt — wie die Brüder Taviani — einen Ruderstoss links, dann einen rechts, in der Hoffnung, sein Boot so auf dem Kurs — nach vorn, zur Utopie — zu halten. Einige jüngere Autoren haben das Ruder eingelegt; sie lassen sich treiben.

Markus Fischer wehrt sich noch. Er erzählt unter grössten Mühen die Geschichte einer Befreiung. Nicht zufälligerweise scheint in Das Flugjahr im Titel und in einem Hauptmotiv die gleiche Metapher wie in Lightyears Away auf, das Fliegen. Doch die Bedrückung — buchstabiert in den Figuren eines dumpfen, vor sich hinbrütenden Vaters, einer kranken Mutter, eines zwielichtigen Familienfreundes und einer nichtsahnenden Grossmutter — ist so gross geworden, dass das Abheben und Fortfahren fast unglaubwürdig werden. Die Bedrückung hat sich auf die von Fischer erfundenen Dialoge niedergeschlagen; man hat kaum je ungeschicktere, verkrampftere, impotentere gehört im Schweizer Film. Markus Fischer lässt seine Figuren mit ungemeisterten Wörtern und Sätzen im Dunkeln tappen, aber man spürt und weiss immer deutlicher, dass sie Fischers eigene Sprache sprechen und keine Rollenprosa. Fischer steht keineswegs «über ihnen»; ihre Sprachlosigkeit ist seine Sprachlosigkeit, und der Franz, das ist er.

Der Titel von Jacqueline Veuves Film ist der jetzt unverständliche Rest eines Motivs, das die Autorin auf dem Weg vom Entwurf zum definitiven Produkt irgendwo verloren hat, eines Motivs, das einmal die ganze Entrüstung über das Erlöschen eines jungen Lebens zusammengefasst hatte: Der Fernsprachkurs, den der inhaftierte Salvatore begonnen hatte, war nach seinem Tod noch im Drehbuch mit dem Postkleber «Parti sans laisser d’adresse» an den Absender zurückgegangen. Ein bezeichnender Strich: Die Entrüstung ist dem Mitleid gewichen, der Zorn der Trauer. Zwar geisselt Veuve in ihrem Begleitmaterial zu dem Film die Untersuchungshaft, wie sie in der Schweiz praktiziert wird, doch im Film — und darauf kommt es schliesslich an — nimmt sie sie hin. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die staatliche Maschinerie, die ein Leben zerstört, sondern eine mörderische Beziehung. Salvatore heisst Veuves Held, der wegen Drogenmissbrauchs und Diebstählen im Gefängnis sitzt; sein Grossvater ist ein religiöser Mensch; das sind Veuves Hinweise auf die Art, wie ihr Film zu lesen sei: als Passion nämlich. Weil eine andere Bezugsebene, Jack Londons Novelle «Ein Feuer machen», so schlecht inszeniert ist, kommt eine realistischere Lektüre der Geschichte kaum zum Tragen. Zwischen den Gefängnisalltag, die Verhöre, die Rückblenden auf die Kindheit und das Leben mit Marie, den Briefwechsel der beiden hat Jacqueline Veuve die gleichnishafte Geschichte des Goldsuchers am Yukon gelegt, der in der Kälte ein Feuer machen muss, wenn er überleben will. Parti sans laisser d’adresse ist ein Film über einen Selbstmörder, und nicht einer über eine mörderische Gesellschaft. Wenn Jacqueline Veuve irgendwo Schuld festmacht, dann da, wo sie es bestimmt nicht wollte: bei der untreuen Marie nämlich.

Hier ist vom Stoff dieses Films die Rede, weniger von seiner Realisierung, über die einiges zu sagen wäre. Dass die sauberen Bilder und die einfallslose Montage der verschiedenen Ebenen «zwischen den Zeilen» nichts aufkommen lassen, das man Leben nennen könnte. Einzig und allein der Hauptdarsteller (Jacques Zanetti) hat das Ganze zu tragen, was natürlich zu schwer ist.

Besonders frappant erscheint der allgemeine Stimmungswechsel bei Pius Morger. Das Aufbegehren von Zwischen Betonfahrten hat einer fast totalen Ratlosigkeit Platz gemacht. Die Fragmente von Windplätze, aufgerissen sind auf die verschiedensten Seiten hin offen. Die Wut ist hin; sie ist wie bei vielen sehr kurz gewesen; auch weil sie so direkt aus dem Bauch gekommen ist. Die Welt erscheint in Windplätze, aufgerissen nicht mehr als eine feindliche Ordnung, sondern als undurchsichtige Ansammlung von Einzelheiten. Nicht ein einziger Gedanke wird durchgeführt; soviel dieser Film aufgreift, soviel lässt er auch wieder fallen. Das Resultat ist ein Null-Effekt, den man allerdings ernst nehmen muss, ernster als ein paar «gelungene» Sequenzen im Verlauf der ganzen Übung.

Auch Pius Morgers Begleitmaterial zum Film ist bezeichnend. Ein wirrer Text, anarchisch umspringend mit allen Sprachregelungen von Satzbau über Interpunktion bis zur Orthographie. Vieles wirkt da aufgeblasen, anderes geradezu hilflos; die Weigerung, etwas durchzudenken, ist im Schweizer Film noch nie deutlicher geworden als hier. In Windplätze, aufgerissen manifestiert sich bis jetzt am deutlichsten die «vernünftige» Weigerung eines neuen Spontaneismus, sich in den Schutz irgendeiner Systematik, einer Institutionalisierung, einer Verbindlichkeit zu begeben. Wenn diese Weigerung allerdings von Dauer ist, wird die selbstmörderisch.

Auf andere Weise freilich als der neue Film von Costa Haralambis, Ciaire et Fobscur, eine dieser verrückten Produktionen von Freddy Landry aus Les Verrieres, der einmal mehr einen Film mit nur zwanzig Prozent des eigentlich erforderlichen Budgets «skizzieren» liess. Die Unentschlossenheit, Unsicherheit, die Impotenz der drei Figuren, die sich nächtlicherweile durch verschiedene Situationen und Konstellationen schlagen, haben nichts zu schaffen mit der Ratlosigkeit von Pius Morger und seinen Figuren. Ciaire, Ashley und Jeremy sind am Ende, sind décadents, Dandies. Ciaire et l’obscur ist eigentlich ein furchtbar alter Film.

Näher bei den Irrläufen von Pius Morger sind die drei jungen Frauen, deren Texte und Aussagen Beat Kuert mit Auszügen aus Lore Bergers Roman «Der barmherzige Hügel» aus dem Jahr 1942 gegenüberstellt. Die Passagen aus dem Roman «unterlegt» er mit rudimentär inszenierten Szenen, die sie nur selten illustrieren, meistens bereits Umsetzungen sind. Immer wieder erscheint der Wasserturm, von dem sich die Berger gestürzt hat, nicht als präziser Ort, sondern als Zeichen — im Gegenlicht — im Bild. Kuert erreicht in den Bildern, auch dank seiner Darstellerin (Monika Kissling) einen hohen Abstraktionsgrad, der die Aussagen und Texte der heutigen jungen Frauen nackt der Kritik des Zuschauers aussetzt. Ein ungerechtes, abgekartetes Spiel für jenen, der das Leiden misst an der Qualität seines verbalen Ausdrucks! Für andere ist diese Gegenüberstellung ein ungeheurer Augen- und Ohrenöffner. Zwischen der Leidensgeschichte der Lore Berger und dem Leiden der drei jungen Frauen, die Beat Kuert vor die Kamera geholt hat, liegen nicht nur vierzig Jahre; dazwischen liegt der Zusammenbrach der Utopien. Über die Unordnung in den Gedanken und Gefühlen kann man einerseits entsetzt sein; es ist wirklich kaum zu glauben, was da als echte Verzweiflung, als echte Arbeit an sich selbst auf den Zuschauer zukommt. Andererseits sind der Text der Berger und seine Umsetzung in einfache und eindringliche Bilder Verpflichtung, auch das Gestammel der Nachgeborenen ernst zu nehmen. Markus Fischer, der Autor von Das Flugjahr, spielt in Die Zeit ist böse den Mann; Hansueli Schenkel, der auch Fischers Film fotografiert hat, zeichnet für die suggestiven Bilder der letzten drei Filme von Kuert verantwortlich. Zwischen den hier erwähnten Filmen fliessen ganz schwache Ströme. Irgendwie gehört das alles zusammen.

Wenn Filme Geigerzähler sind — und so kleine Filme wie die erwähnten können das noch sein —, zeigt eine ganze Reihe von neuen Werken aus der Schweiz einen äusserst bedenklichen Stand der Nation (auch der Gegengesellschaft) an: Lebensangst und Todesangst, Skepsis gegenüber allen Utopien, Vereinzelung und Auslöschen, die daraus resultieren, die Krise jedwelchen Solidarisierungsmusters. Von Winterstadt bis Die Zeit ist böse macht sich eine apokalyptische Grundstimmung breit, die zu denken gibt.

Die Zeit ist böse. P und R: Beat Kuert; K: Hansueli Schenkel; T: Markus Fischer; Sch: Beat Kuert; D: Monika Kissling, Markus Fischer, Raili, Katia, Denise 16 mm, Farbe, 86 Minuten

Das Flugjahr. P, B und R: Markus Fischer; K: Hansueli Schenkel, T: Hanspeter Fischer; M: Heinz Reutlinger und Markus Fischer; Sch: Markus Fischer; D: Alexander Duda, Hans Heinz Moser, Rosemarie Fendel, Grete Heger, Michael Maassen, Therese Affolter 16/35 mm, Farbe, 92 Minuten

Windplätze, aufgerissen. P: Achterfilm; B und R: Pius Morger; K: Hans X. Hagen; T: Dieter Lengacher; Sch: Pius Morger (8)/16 mm, Farbe, 95 Minuten

Parti sans laisser d’adresse. P: Aquarius Films; B und R: Jacqueline Veuve; K: Philippe Tabarly; T: Laurent Barbey; Sch: Edwige Ochsenbein; D: Jacques Zanetti, Emanuelle Ramu, Mista Prechac u.a.m. 16/35 mm, Farbe, 90 Minuten

Ciaire et l’obscur. P: Freddy Landry; B: Costa Haralambis, Ciaire Sael; K: Fabian Landry; M: Nicos Kypourgos; Sch: Véronique Landry; D: Dominique Lado, Achille Tzonis, Dwight Rodrick 16 mm, schwarzweiss, 85 Minuten

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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