I
I want to arrange that people making films, and experimenting in all sorts of ways shall be able to see what others are doing in the same way.
K. Macpherson, Close up, Juli 1927, S. 15
Eine aufsehenerregende Retrospektive der am Ende des Stummfilms der Avant- Garde zugeschriebenen Filme fand 1979 in Lausanne statt — in derselben Verwirrung wie 1929 in La Sarraz —, das 50. Jubiläum des ersten Congrès international du cinéma indépendant (C.I.C.I.), welcher damals im Schloss von La Sarraz bei Madame de Mandrot stattgefunden hatte.
Diese von der Cinémathèque suisse im Rahmen des jährlichen Kongresses der Fédération internationale des archives du film (F.I.A.F.) organisierte Veranstaltung betonte eindeutig den feierlichen Aspekt, im Gegensatz zur analytischen Haltung, die dem Symposium in Brighton zugrunde lag, das ein Jahr früher dem Film von 1900 bis 1906 gewidmet war.
Diese Tendenz kann leicht durch das Vorhandensein von Stellungnahmen, Bewertungen, auch Vorurteilen erklärt werden, die auf jene Gründerjahre zurückgehen, die paradoxerweise mit dem Beginn und der Durchsetzung des Tonfilms zwischen 1927 und 1932 zusammenfallen. Die künstlerische Bestätigung des Films, der Ursprung einer zelebrativen Auffassung von Filmbewahrung sind andererseits so eng mit dem „unabhängigen“ Schaffen jener Epoche verbunden, dass sie ganz natürlich zu Dankbarkeit und Identifikation hinreissen.
Die Anwesenheit von Filmregisseuren wie Joris Ivens, Henri Storck, Jean Painlevé, Ivor Montagu bei der Projektion ihrer ersten Versuche, die manchmal mehr als fünfzig Jahre zurücklagen; eines Teilnehmers wie Jean Mitry, eines Zeugen wie Alberto Sartoris; das Bewusstsein, dass zwischen Montreux und Genf Bryher, Mitherausgeberin von Close up, Arnold Kohler, Mitbegründer des Filmklubs von Genf im Jahre 1927, Freddy Chevalley, Berichterstatter in Genf von Close up, da waren, auch wenn sie nach Lausanne nicht hatten kommen können, trug weiter zur Begeisterung und zum Traditionskult bei. Immer wieder sind solche Galvanisierungsversuche unternommen worden: in Brüssel, November 1930 (2. und letzter Congrès international du cinéma indépendant), in Basel, August-September 1945 (Cinéma d’aujourd’hui), in Antibes, 1950 (1. Festival du Film de Demain), oder beim Projekt einer „Cinémathèque internationale du documentaire experimental et du film d’avant-garde“, das von der kurzlebigen Zeitschrift von A. Kyrou und G. Goldfayn L’age du cinema am Anfang der fünfziger Jahre lanciert worden war.
Als am Schluss der Lausanner Retrospektive J.-L. Godard, mustergültiges „Vorbild“ eines Filmkünstlers, eingeladen wurde, laut über die (wahre) Geschichte des Films nachzudenken, und dies vor eher reservierten Archivaren, unterstrich seine Gegenwart deutlich die Vorstellung einer Fackelübergabe.
Verpasste Gelegenheit? Sicherlich nicht. Die Möglichkeit, gewisse Teilnehmer aus jener Zeit zu befragen, und vor allem, direkt und intensiv eine Gesamtproduktion kennenzulernen, bot eine ausserordentliche Gelegenheit für Entdeckungen. Durch diesen Ueberfluss wurde man zunächst gezwungen festzustellen, wie unscharf der Begriff des Avant-Garde-Films war und ist. Die Programme der Klubs jener Zeit enthalten eigentlich alles — vom Amateurfilm zum Erstlingswerk eines zukünftigen jungen Professionellen —, was ausserhalb der Normen des gängigen Produktions- oder Verleihsystems geschaffen wurde.
In allen Aspekten wird auf diese Unabhängigkeit, dieses Aussenseitertum, dieses Anderssein (alles erfolgreiche Begriffe, wie man weiss) gepocht. Man hat immer wieder die ästhetische Originalität dieser Strömung betont; es ist jedoch unerlässlich, die faktischen Bedingungen der von ihnen beanspruchten Unabhängigkeit nicht zu vergessen. Oekonomisch hängt die Produktion von persönlichen Geldmitteln (eigenem Vermögen, Mäzenatentum, Erbschaft) und manchmal von Aufträgen dokumentarischer und seltener politischer Art ab. Die Arbeit wird in kleinen Gruppen von Freunden — die Generation von 1895-1910 — durchgeführt, die Aussenaufnahmen sind die Regel, die Innenaufnahmen werden in provisorisch eingerichteten Studios oder bis zum Tonfilm in einem freien Winkel eines Aufnahmeateliers der Filmindustrie gedreht. Das technische Material besteht oft nur aus einer 35 mm Kamera mit Feder, die 25 m Filmstreifen laden kann; eine Spule kann höchstens 6 m abrollen, d. h. 13 Sekunden (bei 24 Bildern in der Sekunde). Aber man benutzt auch professionelle Apparate wie die Parvo Debrie 35 mm 120 m (es ist die Kamera von Vigo für A propos de Nice, mit fünf Linsen an Storck und Franken 1931 weiterverkauft für 20’000 francs. (Siehe Centrofilm, No. 18-19, Februar-März 1961, Turin, Nummer Jean Vigo), oder die Cameclair von Eclair, die meistens für Spielfilme gebraucht wurde; es handelte sich um Kameras auf Stativen, „die schon sehr ausgeklügelt und kompliziert waren . . ., welche bei der Aufnahme Tricks erlaubten (Ueberblendung, Formblenden, Filter, verzerrende Linsen, Variation der Aufnahmegeschwindigkeit, Rückwärtsgang, Bild für Bild-Aufnahme, usw. . . .“ (Brief von Henri Storck an den Autor, Brüssel, 21. Mai 1981).
Die Ausleihe der Filme ist sehr intensiv, dank einiger spezialisierter Kinos und Klubs, in deren Vorstand man zahlreiche junge Filmregisseure findet. Er erstreckt sich in Europa von Paris nach Brüssel, Gent, Ostende, Amsterdam, Berlin, Stuttgart, London, Glasgow, Barcelona und Genf, wo der erste schweizerische Filmklub gegründet wird gleichzeitig mit anderen dieses Netzes, das bis zu den Vereinigten Staaten reicht.
Die Retrospektive in Lausanne bestätigte das Fortbestehen der „Klassiker der Avant-Garde“, d. h. der Werke Richters, Bunuels, Vigos, Ivens’, deren Status als Klassiker übrigens in ihre Entstehungsjahre zurückreicht. Die Retrospektive betonte die Notwendigkeit eines historiografischen Vorgehens, das nicht „naiv“ die verschiedenen und gegensätzlichen Werte, die unter dem Begriff der „Avant-Garde“ subsumiert werden, reproduziert. (Siehe den Beitrag von F. Albera in Buache [Hrsg.], Cinéma indépendant..., Bd. 2). Die Retrospektive offenbarte schliesslich seltsame Lücken, die auf komplexe, oft hypothetische Faktoren der Rezeption und der Uebermittlung zurückzuführen sind, deren „Opfer“ hauptsächlich die erste Periode des Belgiers Charles Dekeukeleire ist (Combat de boxe, 1927, aber vor allem Impatience, 1928, und Histoire de détective, 1929, siehe die Untersuchung von Philippe Dubois in Cinéma indépendant. . ., op.cit. sowie das Schaffen des Engländers Kenneth Macpherson und seiner unter der Bezeichnung „Pool“ vereinigten Mitarbeiter).
Ich möchte des Inventars halber noch zwei weitere Titel beifügen, die ein seltsames Schicksal erfahren haben, ohne welche jede geschichtliche Aufzeichnung der internationalen „Avant-Garde“ lückenhaft bliebe: Limite des Brasilianers Mario Peixoto 1931, (siehe die fotografische Beschreibung, veröffentlicht von Saulo Pereira de Mello, Limite, filme de Mario Peixoto, Funarte, Rio de Janeiro, 1979) und Kurutta Ippeiji (Eine Seite des Wahnsinns) von Teinosuke Kinugasa, Japan, 1926.
II
. . . the hope of the cinéma lies with the amateur.
K. Macpherson, in Close up, Juli 1927, S. 14
Das Schaffen Kenneth Macphersons, Winifed Bryhers (seiner Gattin) und ihrer gemeinsamen Freunde — Robert Herring, H. D. (Hilda Doolittle), Dorothy Richardson, Oswell Blakeston — ist in jeder Hinsicht exemplarisch. In jener Zeit vereinigt kein anderer Kreis auf so konzentrierte und einzigartige Weise die Summe der Ausdrucksformen, die die internationale europäische Avant-Garde des Films zwischen 1927 und 1933 entwickelt.
Unter dem Namen „Pool“, dessen eigentliche Gründer und Triebkräfte Macpherson und Bryher waren, entstand im Jahre 1927 einerseits ein Verlag nach dem Beispiel des wichtigsten Herausgebers der amerikanischen Schriftsteller in Frankreich, Robert McAlmon, der erste Gatte Bryhers. Als solcher veröffentlichte „Pool“ einige Prosa Bände des Gründerpaares, drei Studien über den Film, ein Essay von Hanns Sachs gegen die Todesstrafe, sowie eine Filmzeitschrift, Close up (CU). Andrerseits war „Pool“ als Filmproduzent gedacht, widerum auf privater Finanzbasis. Die Unabhängigkeit dieser Unternehmungen scheint durch das Vermögen von Bryhers Vaters, Sir John Reevens Ellermann (1933 gestorben), einem reichen englischen Reederei-Besitzer, garantiert gewesen zu sein.
Die Herausgabe der Zeitschrift Close up zwischen Juli 1927 und Dezember 1933 ist ein wesentliches Element der Auseinandersetzung und der Verbreitung von „Pool“, die mit bewunderungswürdiger Beständigkeit und einem hohen ästhetischen Niveau durchgehalten wird, und die ab März 1931 in einem grösseren Format erscheint. Die redaktionellen Kompetenzen sind so verteilt, dass sie das ganze Gebiet umfassen. Macpherson, der Chefredakteur, definiert die Stellung des Regisseurs, die intellektuellen und materiellen Bedingungen der unabhängigen Filmherstellung, verteidigt die Integrität des filmischen Werks und dessen Recht, als Kunstwerk zu gelten.
Bryher vertritt leidenschaftlich die Interessen der Zuschauerverbände, denunziert häufige Zensurmassnahmen, die die Werke von Stroheim, Pabst, Metzner und die sowjetische Produktion betreffen, plädiert eindringlich dafür, dass der Film als solcher in der Schule in den Bildungsstoff aufgenommen werde. Sie gibt 1929 eine Monographie über den sowjetischen Film heraus, Film Problems of Soviet Russia die eine bemerkenswerte Einführung in diese noch zwei Jahre früher unbekannte Produktion darstellt.
Robert Herring und Oswell Blakeston schreiben kritische Kommentare, die sich spezifischer auf Filme beziehen, letzterer auch technische Einführungstexte, die schon bald in einem Band zusammengestellt von „Pool“ herausgegeben werden: Through a Yellow Glass (1928). H. D. und Dorothy Richardson beachten in ihren Artikeln über Filme vor allem deren individuelle Rezeption, und drücken dies in Texten aus, die von der lyrischen Prosa bis zum subjektiven Essay reichen.
Diese Kategorisierung schematisiert Funktionen, die natürlich je nach Nummer anders verteilt werden können, sei es in der Redaktionsgruppe selbst, sei es unter den Berichterstattern, die einen wesentlichen Teil des Redaktionsmaterials aus Berlin (A. Kraszna-Krausz), aus Paris (Jean Lenauer, Marc Allegret), New York (H. A. Potamkin), Hollywood (Clifford Howard), Genf (Freddy Chevalley), Moskau (P. Attasheva), oder Wien (Trude Weiss) liefern.
Die Zeitschrift erscheint auf englisch, manchmal mit einem Artikel auf französisch — die Genfer Mitteilungen von Chevalley sind immer französisch. Die Macphersons stellen sie vor allem brieflich zusammen: von Montreux aus, wo sich Bryher seit 1922 niedergelassen hatte (in Territet, dann in Burier) und von London aus. Und obwohl die Mitglieder des „Pool“ weder unter den Gästen Madame de Mandrots in La Sarraz 1929, noch unter den regelmässigen Zuschauern des Cine-Club von Genf zu finden sind, wird ihre Zeitschrift von immer zahlreicher werdenden „happy few“ gelesen, da die Auflage von 500 Exemplaren im Jahre 1927 zu 1000 Exemplaren in den sechs ersten Monaten des Jahres 1928 anwächst, um 1933 5000 Exemplare zu erreichen, wenn man den Memoiren von Bryher Glauben schenken darf. Im Vergleich zu anderen unterscheidet sich die Zeitschrift Close up durch ihre enge Beziehung zu England, ihre frühzeitige Treue zu Filmregisseuren wie Abraham Room, G. W. Pabst und Eisenstein — von dem sie Mai 1929 einen ersten Text veröffentlicht — durch ihr Interesse an Formen antiautoritärer Erziehung, ihren hartnäckigen Kampf gegen die Zensur und insbesondere durch ihre Verbindungen zur Psychoanalyse durch die Vermittlung von Hanns Sachs (1881-1947), einem Schüler Freuds, der in Berlin als Psychoanalytiker und Lehranalytiker praktizierte. Ich verweise zu diesem letzten Aspekt, sowie zu der Rolle, die die Schriftstellerinnen H. D. und Dorothy Richardson gespielt haben, auf die bahnbrechenden Studien von Anne Friedberg (siehe Bibliografie).
Ich möchte hier auf die Lokalisierung von „Pool“ näher eingehen. Welches auch die Gründe für die Niederlassung der Macphersons an der waadtländischen „Riviera“ gewesen sein mögen — familiäre, ästhetische, ökonomische —, diese geografische Lage stellt eine einzigartige Situation dar innerhalb der diffusen Bewegung der Film-Avant-Garde dieser Jahre.
Von den Haupttätigkeiten, die theoretisch eine Gruppe dieser Art ausüben kann, wie die Produktion und die Förderung der eigenen Werke, die kritische Reflexion, die Verbreitung von Werken aus dem gleichen Gebiet, wurde letztere nie praktisch, etwa durch die Gründung eines Filmklubs oder einer Vertriebsinfrastruktur verwirklicht. Die Werbung für die von Macpherson gedrehten Filme — d. h. Wing Beat (1927), Monkey’s Moon (1929), und Borderline (1930) — ist auffallend bescheiden: Für die zwei ersten Titel einige Reproduktionen mit knappen Bildtexten, für Borderline siebenundzwanzig Fotos, die alle 1930 erschienen sind, einen Leitartikel des Regisseurs, der sein Werk nach dem Misserfolg in London verteidigt (As Is, in Close up, Bd. 7, No. 5, November 1930, S. 293-298), ein Dutzend Zeilen von Blakeston (CU, Bd. 7, No. 6, Dezember 1930, S. 409-410, 411, 412) und einige Inserate 1931.
Auf der Ebene der kritischen Reflexion jedoch hat die geografische Abgelegenheit der Zeitschrift ihren Wert. Vor der definitiven Einführung des Tonfilms, die den Markt in zwei wenig durchlässige Sprachzonen trennen wird, ist wahrscheinlich die Schweiz das europäische Land, das am besten mit Filmen versorgt ist, und der Kanton Waadt vertritt in Sachen Zensur einen bemerkenswerten Liberalismus. Ein grosser Teil der internationalen durch den Handel vertriebenen Produktion ist hier — sei es in Genf, Lausanne oder gar Montreux — leichter zugänglich als in den führenden Filmproduktionsländern wie Frankreich, England und Deutschland. Die Zeitschrift Close up muss, als dieser „open market for the world“ zusammenschrumpft, die Einschränkung dieser Möglichkeiten kompensieren, indem sie ihre Veröffentlichung verlangsamt und die auswärtige Mitarbeit intensiviert, Massnahmen, die im Dezember 1930 angekündigt werden.
Es gelingt so der Zeitschrift, eine privilegierte Situation zu bewahren, die ihr erlaubt, ausserhalb der grossen Zentren weiterzubestehen und gleichzeitig auf allen „Fronten“ anwesend zu sein. Ihre Stellung ist besonders produktiv, da ihre Herausgeber wenig theoretisieren und pragmatische Betrachtungen vorziehen, die auf einen breiten Konsensus zählen können. Die zu jener Zeit vergleich baren Veröffentlichungen wie La Revue du cinéma (Paris) und umso mehr die mit der kommunistischen Linken verbundenen spezialisierten Zeitschriften (Film und Volk in Berlin, Experimental Cinema in New York, Nuestro Cinema in Spanien) sind viel stärker von einer zentripetalen Tätigkeit bestimmt, obwohl alle das gleiche internationale Repertoire erwähnen. Im zentrifugalen Kosmopolitismus von Close up drückt sich vielleicht am reinsten der Austausch von Werken, Modellen und Menschen aus, die die Bewegung dieser Avant-Garde ausmachen.
III
One point that might be made for the cheap camera is that it is free from means whereby one achieves „effects” thus delivering us from temptation.
K. Macpherson, Close up, Juni 1928, S. 9.
I have said that Borderline has many faults. How idiotic to pretend that it has not.
Traversing new ground, it had all the rawness of a pioneer. But pioneer it was. And as 1 have said to my critics, in ten years time, the „obscurity“ of which they complain will be plain as punch. And I think it will take ten years for them to recognise it.
K. Macpherson, Close up, Nov. 1930, S. 294-5.
Wie steht es, in diesem Kontext, mit der Produktion von „Pool“, und genauer mit den Werken Macphersons? (ich werde nicht auf die Filme Blakestons, die unter dieser Bezeichnung geschaffen wurden, eingehen). Es sei denn, man stelle Hypothesen auf, die sich auf sehr magere Fragmente stützen (siehe Filmographie im Anhang), so kann man mit Sicherheit nur von einem Werk sprechen, und zwar vom 1930 gedrehten Borderline, dem einzigen Film, von dem meines Wissens das originale Negativ und mindestens eine Kopie aus jener Zeit noch vorhanden, und über welchen Begleittexte und zeitgenössische Rezensionen verfügbar sind.
Borderline’s Aufnahme bei der Kritik war ebenso unglücklich wie der Moment seiner Vorführung. Ab Frühling 1929 entworfen, im Frühling darauf gedreht und im Juni abgeschlossen, zählt dieser Film von etwa sechzig Minuten (bei 24 Bildern in der Sekunde) zu den wenigen langen Werken der Avant-Garde. Aber im Gegensatz zu L’age d’or (1930) und zu Le sang d’un poete (1930) ist er kein Ton- oder Sprechfilm; in dem Zeitpunkt des Wechsels vom Stumm- zum Tonfilm, den viele — darunter Macpherson — als gewaltsamen Bruch in einer Entwicklung, die doch gerade angefangen hatte, empfunden haben, erschien er sogleich wie der Stummfilm im allgemeinen als überholt. Noch anfangs 1929 hatte Eisenstein behauptet: „cinematography is for the first time availing itself of the experience of literature for the purpose of workung out its own language, its own speech, its own vocabulary, its own imagery. (...) The new preriod of cinema attacks the question from within - along the line of the methodology of purely cinematographic expressiveness.“ (CU, Bd. 4, No. 5, Mai 1929, S. 11, Hervorhebung im Original). Zu diesem Zeitpunkt aber waren Hintergrund und Perspektiven seiner Aussage bereits vom Ton, vom Wort, die ihrerseits nichts Mataphorisches an sich hatten, ruiniert.
Die Einführung des Tonfilms jedoch übt keinerlei Einfluss auf die direkte Rezeption von Borderline aus. Diese weist drei Tendenzen auf: Begeisterung in einigen überzeugten Artikeln, neben mehreren ungläubigen Reaktionen, doch das Urteil, das am häufigsten auftaucht, bedient sich einer gängigen taktischen Dissoziation. Borderline werden wirkliche fotografische Eigenschaften zuerkannt (es ist die Verbindung des vagen „photogenie“ mit dem Effekt des panchromatischen Filmstreifens, der damals noch wenig benutzt wurde), und man betont andererseits, dass die Erzählung selber vom Zuschauer überdurchschnittliche Urteils- und Geschmacksfähigkeiten fordert, um in ihrer Komplexität geschätzt werden zu können. Die Reaktion der englischen Kritik (Borderline wurde und wird noch immer als eine englische Produktion gesehen) ist so negativ, dass Macpherson seine übliche Zurückhaltung fallen lässt, um seinen Film mit Argumenten, die für seine Position typisch sind, zu verteidigen: Borderline ist ein experimentelles bahnbrechendes Werk, „perhaps the only really,avant-garde1 film ever made“; es weist sicherlich Fehler auf, aber was der Autor für Fehler hält, wurde anerkannt oder sogar gelobt, während das, was er als gelungen betrachtet, meistens nicht beachtet oder verdammt worden ist. Das Obskure des Films entspricht der Absicht, das Leben in seiner chaotischen Komplexität wiederzugeben; dem liegt ein ästhetisches Konzept zugrunde, dessen Evidenz erst zehn Jahre später erkannt wird.
Woher kommt diese „Unleserlichkeit“ von Borderline, welche die einen als Hauptfehler ansehen, und in der die andern gerade den Wert des Werks erkennen? Die Hartnäckigkeit der Kritiker, im Strom der Bilder die Erzählung isolieren zu wollen, weist auf eine mögliche Antwort hin.
Der Film zeigt gewisse, leicht erkennbare Elemente. Die Figuren haben eine konkrete Identität, die wichtigsten unter ihnen werden durch ihre Namen bezeichnet: Pete? / Astrid on the phone! / You must go back to Pete and leave Thorne I Adah is his girl, isn’t she — not yours? Diese Zwischentitel erscheinen in den ersten zehn Minuten des Films (der im ganzen sechsundzwanzig Zwischentitel, davon dreiundzwanzig in direkter Rede, aufweist).
Da ist Pete, ein Schwarzer, ein unbeweglicher Fels in einem Hotelzimmer eines Provinzfleckens. Da ist Adah, eine Mulattin, die kurz zu ihm zurückkehrt, und dabei Thorne, einen jungen labilen und zerrissenen Weissen („thorn“ gleich Dorn), einen Willensschwächen Alkoholiker verlässt. Da ist Astrid, die Gefährtin Thornes, eine alternde weisse Frau, eifersüchtig, hysterisch, besitzgierig, die ihren Liebhaber um jeden Preis zurückerobern will, und die unerwartet durch das Messer, mit dem sie ihn wie eine Verrückte bedroht, sterben wird.
U m diese zwei Paare, getrieben von ihrer Unruhe, lebt die Welt der Kneipe, dargestellt durch einige kleinbürgerliche Gäste und ein seltsames Trio: die Kneipeninhaberin, die Serviertochter und der Pianist. Da taucht schliesslich eine alte Rassistin auf, der es gelingen wird, ganz offiziell die Neger vertreiben zu lassen. Der Ort? Er ist geografisch nicht präzisiert, er definiert die Provinz, die abendländische Enge, einen sozialen Raum, der Neurosen und Rassismus erzeugt.
Es handelt sich im Grunde genommen um Merkmale des Kammerspiels, mit einigen Ausbrüchen ausserhalb der Eingeschlossenheit der Zimmer und der Kneipe (Spaziergang von Pete und Adah zwischen Hügeln, Träumerei Thornes in einer friedlichen Frühlingslandschaft). Die antirassistische Thematik ist im Film neu. Sie wird vom bekannten schwarzen Sänger und civil rights Kampfer Paul Robeson, der hier sein Debüt als Filmschauspieler macht, verkörpert.
Aber Borderline kann nicht auf eine solche Inhaltsangabe reduziert werden, die dramatisch und psychologisch erwartete Konventionen voraussetzen würde. Macpherson entwickelt im Gegenteil eine Erzählweise, die ganz von den Affekten bestimmt ist, und dies sowohl auf der Ebene des Spiels als auf der Ebene der Erzählung. Die Interpretation der Schauspieler ist physisch extrem expressiv, da der Körper gleichzeitig als der unbewusste Relevator der Emotionen und deren adäquatestes Ausdrucksmittel betrachtet wird. Es ist sogar möglich, dass der Regisseur manchmal die Aufnahmegeschwindigkeit variiert hat, wenn die Beschleunigung oder die Verlangsamung der Körperbewegungen etwas ausdrücken sollten. Die Abfolge der Einstellungen wird ihrerseits von einer subjektiven Logik diktiert, deren Assoziationen nicht dahin gehen, eine materialistische Zeit- und Raumwelt zu schaffen, die den realistischen Normen des Schnitts unterworfen ist. Das Auftauchen der Orte, der Gesichter, der Landschaften entspricht zum grossen Teil der inneren Notwendigkeit, die sie in dem entsprechenden Moment an der Stelle erscheinen lässt.
Borderlines Wagnis besteht darin, sich nie der Merkmale zu bedienen, die im konventionellen Film den Übergang zwischen einer äusseren Gegebenheit, dem Bezugsobjekt, und den Bereichen der Innerlichkeit — Phantasien, Erinnerungen, Visionen, Träume — bezeichnen. Und das aus gutem Grund: Macpherson beansprucht die Originalität dieses „subjective use of inference“, das nicht Phantasie und Wirklichkeit darstellt, noch eine vom verzerrenden Prisma eines Bewusstseins filtrierte Wirklichkeit. Gewisse isolierte Bilder entsprechen effektiv der Vision einer Figur (die Doppelbelichtungen haben diese Funktion), aber im ganzen gesehen bildet die Subjektivität — besser gesagt der Subjektivismus —, die das Erzählte bestimmt, deren objektives und absolutes System. Suchte man in der psychoanalytischen Literatur ein Werk, das als „geheime Quelle“ Borderlines gelten könnte, so würde man an Freud’s Zur Psychopathologie des Altagslebens denken. In dessen letztem Kapitel wird der Begriff „Grenze“ (borderline übersetzt) im breitesten und noch unspezifizierten Sinn gebraucht.
Dank dem Bezug zur Psychoanalyse, und im Gegensatz zum konventionellen Realismus, der im Film herrscht, kann sich der Regisseur so auf den wahren Realismus, auf das Leben selbst berufen. Gleichzeitig bezeichnet er seinen Film als das ästhetische Produkt seiner eigenen inneren Vision. Dieses Vorgehen verknüpft ihn mit den „manipulierenden“ Autoren, mit den Gestaltern der filmischen „Sprache“, mit den Filmregisseuren, die etwas über die Dinge aussagen und nicht einfach die Dinge erzählen lassen. Deshalb greift er auf ein Netz von Entsprechungen, die einen Indizwert haben, und dies in der Ausstattung (ein Bild, auf dem ein Mahn einem anderen gegenübersteht; eine ausgestopfte Möwe und die Puppe einer I lexe, die mit Astrid in Zusammenhang steht), in der Form von unbewusst manipulierten Gegenständen, bis zum Uebergang zur Tat (das Messer, das Astrid töten wird), oder im Leitmotiv der Hand, das metaphorisch die Werte einer jeden Figur darzustellen hat.
Obwohl der Regisseur keine willkürlichen technischen „Tricks“ gebraucht, von denen er ja den ausdruckshungrigen Regisseuren abrät, so ist er manchmal das Opfer eines gewissen sprachlichen Ueberschwangs, der meiner Ansicht nach die Klarheit seines Grundkonzepts aus dem Gleichgewicht bringt, und der dem Film den Anschein einer Stilübung verleiht. Es handelt sich dabei um Änderungen des Registers in der Montage (Montage mit Kurzaufnahmen eines Tanzes, im impressionistischen Stil, kaleidoskopische Montage von Naturbildern) und in der Typologie einer Figur, die der alten rassistischen Dame, die eine dissonantische metaphorische Dimension erhält.
Die „rage de l’expression“, der ich diese Merkmale zuschreiben möchte, hängt übrigens mit dem Bekenntnis zum Experiment und zum Dilettantismus Macphersons streng zusammen. Es wäre sicher aus falschem Purismus, wenn dieser Heterogenität nicht Rechnung getragen würde.
IV
Mr. Kenneth Macpherson is himself, you might say, borderline among the young cinema directors. He is not at all allied with the ultra-modern abstract school of rhomboid and curve and crossbeam of tooth pick or coal shovel.
[H. D], Borderline. A Pool Film with Paul Robeson, 1930, S. 6
Ich möchte zum Schluss den Titel von Macphersons Werk betrachten. Die Broschüre, aus welcher die oben zitierten Sätze stammen (übrigens eine bemerkenswerte Einführung in den Film), beginnt mit einem Kapitel, das die metaphorischen Bedeutungen von borderline aufzählt. Der Ausdruck deutet auf die Unbestimmtheit des Handlungsortes, auf die ungewisse soziale und psychische Identität der zwei europäischen Hauptfiguren (Thorne, Astrid), auf das Anderssein des schwarzen Paars, das in dieses weisse Milieu getaucht ist.
Der Autor dieser Einführung (es handelt sich um H. D., die im Film Astrid verkörpert), verlängert die Interpretation ausserhalb des Werks. Das Aussenseitertum bestimmt und verleiht allen Aspekten des Schaffens seinen Wert: demnach wäre der Ort des Regisseurs in der Avant-Garde selber einzigartig, da er kein Formalist ist; seine „nordische“ Einbildungskraft wäre nicht auf England, sondern auf eine fernere keltische Quelle zurückzuführen, er und seine Schauspieler hätten den Status von Amateuren, was für Authentizität bürge; schliesslich hätte seine Auffassung des Rassismus nichts mit einer politischen Haltung gemein, sie wäre vor allem der Ausdruck eines Künstlers, der den Problemen des Menschen gegenüber offen sei.
Man muss sicherlich einen Teil dieses Textes der taktischen Absicht zuschreiben, die auf das Publikum der kleinen gebildeten Zirkel der englischen Filmliebhaber zielte. Er ist jedoch bemerkenswert, weil er mit einer seltenen Deutlichkeit einige der Thesen ausdrückt, die damals den sogenannten avantgardistischen Autor und Regisseur definieren. Im folgenden Kapitel der Broschüre werden die Renaissance und die Moderne der Filmkunst in einem Zug, den Abel Gance nicht abgelehnt hätte, in Zusammenhang gebracht. Macpherson erscheint als neuer Leonardo, der alle Gewerbe und alle Künste, die den Film konstituieren, ausübt, und so der regungslosen Maschine Leben einflösst . . .
Transzendenz des Künstlers und extremes Anderssein des Werks: Borderline ist wahrscheinlich eine der emblematischsten Schöpfungen des unabhängigen Films am Ende des Stummfilms, eine derjenigen auf alle Fälle, die mit der grösstmöglichen Evidenz den grundlegenden Wert des Aussenseitertums offenbart.