MARTIN SCHAUB

DER RUF DER SIBYLLA (CLEMENS KLOPFENSTEIN)

SELECTION CINEMA

Clemens Klopfenstein, Serena Kiefer und Max Rüdlinger hatten eine Spiel-Handlung erfunden, die jede filmische Eskapade erlaubte, ein Gerüst, an das oder in das während der Verfertigung des Films so ziemlich jeder Einfall hat gehängt werden können. Das ist die Stärke und die (verzeihliche) Schwäche. Das Hauptproblem bei der Fertigstellung dürfte die Länge gewesen sein. Weil es keine zwingende Dramaturgie gab, muss sich das übliche Kinomass als zwingend erwiesen haben.

In einer Parallelmontage erscheinen zunächst die beiden Kräfte, die die Handlung vorwärtstreiben sollen. Während Balz, der Maler, im südlichen Umbrien einer immer grösseren Unruhe verfällt und sich bei einem alten Mönch aufzurichten versucht, verwickelt sich seine Freundin Clara, die Schauspielerin, im nördlichen Jammers in eine schwierige Geschichte mit Thomas, ihrem Kollegen. Böse Zauberkräfte von Max führen ihm Clara zu. Thomas verunfallt auf der Bühne und stirbt später sogar, „weil“ ihn Max aus seinem System wegwünscht. Der Film führt, nachdem Clara in Italien eingetroffen ist und die Stimme verloren hat, die Auseinandersetzungen eines ungleichen Paares und dessen Umgang mit einem Zauber, den sie erst allmählich entdecken, vor. Der Witz der märchenhaften Erzählung ist ein filmisch ausserordentlich reizvoller. In Der Ruf der Sibylla werden „Gedanken wahr“, und das heisst sichtbar.

Der Spass und die Lust am Spintisieren und Manipulieren überträgt sich — bei einigen Zuschauern eine Zeitlang, bei anderen bis zum Schluss — auf den Betrachter. Klopfenstein beruft sich auf Grossvater Melies und Onkel Rivette (Celine et Julie vont en bateau). Mutwillig geht er nicht auf die „eigentlichen“ Probleme des Paars ein, sondern führt es in eine nur durch den Film existierende Welt, in der alles gleich möglich wie unmöglich ist.

Christine Lauterburg und Max Rüdlinger agieren mit nicht nur im Schweizer Film ungewohnter Beweglichkeit in immer neuen Freiräumen, die der Märchenerzähler Klopfenstein aufreisst; da Kohärenz und Rollenentwicklung nicht gefragt sind, improvisieren sie ihren Konflikt immer neu aus den jeweils gegebenen willkürlichen Situationen heraus. Das reicht vom ernstlich dramatischen Krach (im Bahnhof von Mailand) bis zur unbeschwerten Blödelei in kurzen Episoden auf der Fahrt in einem verzauberten Auto von Norditalien in die sibyllinischen Berge von Umbrien.

Man vergisst ihr „Problem“ nicht ganz auf dieser Fahrt, aber das Erzählen selbst wird immer mehr zur Hauptattraktion des Films, die Fantasie des Regisseurs und Kameramanns Klopfenstein, der sich mit einem Kniff freigesetzt hat und — noch einmal, nach Geschichte der Nacht und Transes — einen Film sich erlauben kann, der nur Film ist, nur Spiel mit den trotz bescheidenen Produktionsmitteln vielfältigen Möglichkeiten.

Unbegrenzt allerdings sind sie nicht; Wiederholungen und eine gewisse Redundanz schleichen sich ein. Es geht nicht gerade bis zum Stillstand der Fantasie, aber manchmal bis hart an die Grenze. Von den verschiedenen Fassungen, die Klopfenstein erprobt hat, ist deshalb die kürzeste die beste. Sie ist es auch, die an fast unzählige Festivals eingeladen und für den Kinoverleih in vielen Ländern verlangt worden ist. Der Ruf der Sibylla hat sehr viele, die den Film am Internationalen Forum des Jungen Films inmitten einer irgendwie dem Dokumentarismus verpflichteten Menge von „Problemfilmen“ gesehen haben, aufatmen lassen. Eine gewisse Ueberschätzung war mit diesem Aufatmen verbunden.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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