BARBARA LÜEM

NANOOKS ERBE — ODER DER SCHWIERIGE WEG VOM ETHNO-FILM ZUR „VISUELLEN ETHNOLOGIE“

ESSAY

Ethnologischer oder ethnografischer Film? Film oder Ethnologie oder vielleicht besser nur Ethno-Film? Die Vielfalt der Bezeichnungen zeigt deutlich, wie ungeklärt das Verhältnis zwischen dem Medium Film und der Wissenschaft Ethnologie noch immer ist. Die möglichen Gründe dieser Situation und einige neue Ansätze, die einen Ausweg und eine Weiterentwicklung versprechen, möchte ich im folgenden aus meiner persönlichen Sicht beleuchten.

Die Ethnologie definierte sich in der Vergangenheit durch das „Objekt“ ihres Interesses, durch das Studium der schriftlosen Völker. Sie entstand aus einem oft zweckorientierten und mit Machtinteressen verbundenen Interesse an fremden, an „primitiven“ Gesellschaftsordnungen und der damit zusammengehenden Weltanschauungen, das sich schnell auf den Vergleich verschiedener Gesellschafts- und Kulturformen verlagerte, was konsequenterweise weg vom ausschliesslichen Studium nur der anderen und hin zu demjenigen auch der eigenen Gesellschaft führte. Diese Verlagerung wiederum zwang die Ethnologie, sich stärker als bisher durch eine eigene, spezifische Methode und nicht mehr hauptsächlich durch ihr geografisches Forschungsgebiet zu definieren und von den Nachbardisziplinen wie z.B. der Soziologie oder der Volkskunde abzugrenzen.

Diese Methoden-Diskussion ist in vollem Gange und keineswegs geklärt. Uber die wichtigsten Kriterien einer ethnologischen Untersuchung, sei es nun in der eigenen oder in einer fremden Gesellschaft, besteht allerdings eine gewisse Einigkeit. Eine ethnologische Studie sollte ganzheitlich sein, d.h. Aspekte gesellschaftlichen Verhaltens in ihrem grösstmöglichen Zusammenhang beschreiben und zu erklären versuchen. Die Beschreibung und die theoretisch abgesicherte Analyse müssen auf einer längeren Forschung innerhalb der betreffenden Gesellschaft beruhen und sowohl aktuelles, beobachtbares Verhalten wie auch die ideellen gesellschaftsspezifischen Normen miteinbeziehen.

Während sich nun die Ethnologie immer mehr von einer Wissenschaft der „fremden Kulturen“ zu einer methodologisch definierten Sozialwissenschaft hin entwickelt, lässt sich in der breiten Öffentlichkeit eine genau gegenläufige Tendenz beobachten.

Die beiden Begriffe „Ethnologie“ und „ethnologisch“ werden geradezu inflationär benutzt, wenn es darum geht, Formen der Auseinandersetzung mit kulturellen Elementen der Dritten Welt zu beschreiben. Da werden z.B. afrikanische Musiker zu Ethno-Sessions eingeladen, Ethno-Kochbücher angeboten, Ethno-Art-Läden immer zahlreicher etc. Die Bedeutung des Begriffes „Ethno“ beschränkt sich in diesem Zusammenhang auf „nicht-westlich“ und „traditionell“.

Die Ausrichtung auf das Fremde, Exotische hängt zusammen mit dem zunehmenden Zivilisationsmisstrauen unserer Gesellschaft und der wachsenden Neugierde alternativen Lebensformen gegenüber. Dass die Sehnsucht nach dem anderen, dem Fremden nicht unbedingt zu einer echten Auseinandersetzung führt, sondern im Bereich der verklärenden Suche nach dem „guten“, da noch unzivilisierten Naturmenschen steckenbleibt, ist eine bekannte Tatsache. Diese Welle hat in den letzten Jahren jedoch ein verstärktes Interesse an Filmen über und aus der Dritten Welt geweckt und den Begriff des Ethno-Films populär werden lassen. Aber auch hier sagt die Bezeichnung „Ethno“ oft nichts weiter aus, als dass sich der Film in irgendeiner Form mit fremden, traditionellen Kulturformen befasst. Mit der Ethnologie und deren Methoden haben denn auch nur wenige dieser Filme etwas zu tun. Dennoch, gewisse Gemeinsamkeiten dieser mit der Exotik kokettierenden Filme und einem grossen Teil der Werke filmschaffender Ethnologen und Ethnologinnen darf nicht übersehen werden. Kritiker aus den eigenen Reihen vergessen gerne, dass der oft zitierte Vater des „echten“ Ethno-Filmes, Robert Flaherty, mit seinem berühmten Film Nanook ofthe North keinen enthnologischen Ansprüchen genügen wollte. Die Entstehung dieses Filmes in den frühen zwanziger Jahren verdanken wir der glücklichen Kombination von Flaherty’s Beruf als Eisenerzprospektor, der ihn in den hohen Norden führte, seiner Begeisterung für das einfache Leben in der Wildnis im Kampf mit der Natur, seiner langjährigen Freundschaft mit den Eskimos und dem glücklichen Zufall, der ihm 1913 eine Filmkamera in die Hände spielte. Flaherty dachte ursprünglich nicht daran, einen Film zu drehen. Er wollte die Kamera dazu benützen, die Expedition zu dokumentieren. Diese Absicht änderte er aber, nachdem er acht Jahre mit den Eskimos gelebt hatte. Nun wollte er in einem Film zeigen, wie sich die Eskimos gegen ihren grössten Feind, wie Flaherty sich ausdrückte, das harte Klima des Nordens, behaupten. So entstand die filmische Biografie des Eskimos Nanook und dessen Familie.

Sowohl in Amerika als auch in Europa schloss das Publikum Nanook ins Herz. Das den von einer Pelzhandelsfirma finanzierten Film begleitende Campaign Book for Exhibitors zeigt allerdings ganz klar, dass der Film nur wenig von der Achtung, die Flaherty Nanook und dessen hartem Kampf ums Überleben gegenüber empfand, vermitteln konnte. Die vom Ersten Weltkrieg verunsicherte Öffentlichkeit liebte Nanook der Friedfertigkeit und unverbindlichen Exotik wegen, die sie im eigenen Alltag vermisste und nun in dieser Eskimo-Familie zu sehen glaubte. Dem ursprünglichen Titel Nanook of the North fügte die Verleihfirma den suggestiven Untertitel,,A Story of Life and Love in the Actual Arctic“ bei. Eine zeitgenössische Anzeige fragte die Leser: „Is mother love any different in the arctic than in your own home town? — Do you know how they live, love, fight and dream on the top of the world? — Have you ever seen, ‘The Eskimo Kiss’?“

Von den filmschaffenden Ethnologen wurde Nanook erst später entdeckt. Flaherty verdankt seine „Vater-Rolle“ in der Entwicklung des Ethno-Filmes vor allern zwei Prinzipien, denen er bei der Arbeit an Nanook gefolgt ist, und die bis heute immer wieder geäusserte aber nur selten erfüllte Forderungen der Ethnologie an den ethnologischen Dokumentarfilm geblieben sind:

• Der lange und intensive Kontakt mit der gefilmten Gesellschaft — Flaherty hat über acht Jahre lang mit Nanook und dessen Familie eine persönliche Freundschaft aufgebaut.

• Die Zusammenarbeit mit den gefilmten Personen bei der Herstellung des Films — Flaherty hat die belichteten Filmrollen unter schwierigsten Bedingungen an Ort und Stelle in einem improvisierten Labor entwickelt und den Eskimos vorgeführt. Diese sollten verstehen, was er vorhatte und mit ihm als Partner Zusammenarbeiten.

Die Leistungen, denen Flaherty u.a. seinen Ruf als Pionier in der Geschichte des Dokumentar- und des Ethno-Films verdankt, lassen leicht vergessen, daß im Film Nanook of the North und dessen Rezeption durch das Publikum ein Teil jener Probleme angelegt ist, mit denen der Ethno-Film bis heute zu kämpfen hat. Flaherty sah sich wiederholt mit dem Vorwurf konfrontiert, nicht „die Wahrheit“ dargestellt, sondern eine seinen Ideen entsprechende Wirklichkeit inszeniert zu haben. Er verteidigte sich mit dem berühmt gewordenen Argument: „Sometimes you have to lie. One often has to distort a thing to catch it’s true spirit. Man mag zu dieser Ansicht stehen wie man will, mit den eingangs skizzierten Grundsätzen ethnologischer Aussagen lässt sie sich nicht vereinbaren.

Was ist das nun eigentlich, ein Ethno-Film? Persönlich gehe ich mit dem amerikanischen Ethnologen Joy Ruby einig, der die Existenz einer solchen Kategorie bezweifelt: Filme, die üblicherweise als ethnografische Filme bezeichnet werden, seien nichts anderes als Dokumentarfilme über exotische, nicht-westliche Gesellschaften; Filme, die sich auf einen gesprochenen Kommentar oder eine schriftliche Begleitpublikation stützen müssen, damit der Inhalt ethnologisch interpretierbar wird. Arbeiten dieser Art seien, meint Ruby, eine Mischung von Dokumentarfilm und schriftlicher ethnologischer Analyse, ohne dass das eine das andere wesentlich beeinflusst. Sol Worth, ein Kommunikationsforscher, entwickelt diese Ansicht weiter und schlägt vor, die Kategorie der Ethno-Filme nur unter dem Aspekt des Gebrauchs der Filme durch die Ethnologie zu umschreiben. Daraus zieht er den Schluss, dass im Prinzip jeder Film zu einem Ethno-Film werden kann, sobald er in einen ethnologischen Zusammenhang gesetzt wird.

Worths Vorschlag führt zurück zur beschriebenen Tendenz des Fachs Ethnologie, sich primär durch eine eigene Methode und nicht das Forschungsgebiet zu definieren. Diese Diskussion dreht sich denn auch in den letzten Jahren um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Film und Ethnologie. Neu taucht in diesem Zusammenhang der Begriff der „visuellen Ethnologie“ auf. Diese Erweiterung ermöglicht es, Erkenntnisse der Semiotik, der Kommunikationstheorie und der Ethnologie in die Debatte einfliessen zu lassen und diese damit weiterzuentwickeln. Gesucht wird nach ethnologischen Methoden, visuelle Daten zu gewinnen und zu analysieren, und nicht mehr nach einer Definition des Ethno-Films.

Ein Workshop, der Anfang Juni 1987 in Marseille stattfand (1er Atelier international d’Anthropologie visuelle, organisiert vom Institut Méditerranéen de Recherche et de Création, Marseille), und dessen Motto „temps nouveaux /nouveaux outils“ vielversprechend tönte, zeigte klar, dass auch die „visuelle Ethnologie“ von der Diskussion über den Film dominiert wird. Nicht ein einziger Beitrag setzte sich ausschliesslich mit einem anderen Medium auseinander. Die Fotografie führt ein bescheidenes Schattendasein, und dem Medium der Video-Technik wird nach wie vor mit diffusem Misstrauen begegnet. Die Faszination des ästhetisch anspruchsvollen und publikumswirksamen Films scheint übermächtig. Bezeichnenderweise konzentrieren sich die wenigen universitären Institute, die eine Ausbildung in „visueller Ethnologie“ anbieten, auf die Produktion von Filmen. Jüngstes Beispiel in dieser Reihe ist das dieses Jahr gegründete Granada Center for Visual Anthropology an der Universität Manchester. Das Center ist zwar dem ethnologischen Institut angegliedert, wird aber von der Fernsehgesellschaft Granada Television unterstützt. Die Zusammenarbeit zwischen Ethnologen und Fernsehanstalten hat in Grossbritannien Tradition und qualitativ hochstehende Produktionen ermöglicht. Zwar ist prinzipiell gegen eine Zusammenarbeit von Universitätsinstituten und kommerziellen Produktionsgesellschaften nichts einzuwenden. In ihr liegt aber doch ein grundlegendes Problem verborgen. Die Sozialwissenschaften sind bis heute im Umgang mit den visuellen Medien sehr zurückhaltend geblieben. Diese stehen nach wie vor im Ruf, nicht unbedingt „wissenschaftlich“ zu arbeiten. Geld für technische Ausrüstungen oder Produktionskosten sind aber in den Institutsbudgets nur schwierig unterzubringen; die Zusammenarbeit mit kommerziellen Institutionen bietet sich an, bedingt jedoch eine gewisse Rentabilität. Filme sind in dieser Hinsicht den Videoproduktionen oder der Fotografie gegenüber im Vorteil, erlauben sie es doch zumindest, einen Teil der Produktionskosten wieder einzuspielen. Dazu, und vor allem natürlich, wenn ein Sponsor Werbemöglichkeiten sich ausrechnet, ist ein Publikum nötig, das die Filme sehen will. Und damit bewegen sich die Coproduktionen genau in jenem Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichen Ansprüchen, filmischen Möglichkeiten und den Wünschen des breiten Publikums, dem sich schon Flaherty ausgeliefert sah. Diese Problematik bringt die „visuelle Ethnologie“ in einen doppelten Teufelskreis: Die Kompromisse, die zwischen der sogenannten Wissenschaftlichkeit und den Ansprüchen des Publikums gemacht werden müssen, bestätigen das inneruniversitäre Misstrauen und machen es der „visuellen Ethnologie“ schwer, sich zu etablieren. Da es aber hauptsächlich der Film ist, der diese Kompromisse überhaupt eingehen kann, fliessen die ausseruniversitären Gelder am ehesten filmischen Projekten zu. Diese beiden Tendenzen erklären bis zu einem gewissen Punkt die Dominanz des Films gegenüber den anderen Medien und die Schwierigkeiten, mit denen die Entwicklung einer „visuellen Ethnologie“ zu kämpfen hat. Die Anzeichen, dass sich dennoch etwas in dieser festgefahrenen Situation bewegt, sind zwar noch vage, aber nicht zu übersehen: Immer mehr Ethnologen und Ethnologinnen erkennen, dass Filme, Video und Fotografie mehr vermitteln können als visuelle Dokumentationen und Illustrationen zu schriftlichem Material, dass visuelle Ausdrucksformen auch mit visuellen Mitteln erfasst werden können und müssen. Die folgenden Beispiele sollen ein paar mögliche Richtungen andeuten, in die die neuen Ansätze weisen:

Kommerzielle Filmproduktionen aus nicht-westlichen Ländern werden vermehrt als kulturelle Ausdrucksformen erkannt und von der Ethnologie auch als solche behandelt. So bietet z.B. K. G. Heider an der University of South Carolina einen Kurs zum Thema „Indonesiern Culture Through Film“ an, in dessen Verlauf er den Studenten und Studentinnen Aspekte der indonesischen Kultur mit populären indonesischen Spielfilmen, die als Videokassetten in Indonesien weitverbreitet sind, zu vermitteln versucht. An anderen ethnologischen Instituten, u.a. auch in Bern, werden Spielfilme aus der Dritten Welt auf ihre kulturellen und gesellschaftspolitischen Zusammenhänge hin untersucht.

Engagierte filmschaffende Ethnologen und Ethnologinnen stellen sich immer häufiger mit ihrer Kamera in den Dienst der sie interessierenden Gesellschaften und produzieren, nach deren Anweisungen oder als deren Partner, Filme. Jean Rauch ist wohl der bekannteste Vertreter eines solchen Engagements. Aber auch staatliche Institutionen sind hier zu nennen, wie z.B. das Australian Institute of Aboriginal Studies in Canberra, das über eine Filmequipe verfügt, die von Aborigin-Gruppen angefordert werden kann, um Aspekte ihres Gemeinschaftslebens filmisch festzuhalten. Oft handelt es sich dabei um wichtige Rituale wie z.B. im Film Waiting for Harry von Kim McKenzie oder um Auseinandersetzungen mit den Regierungen, so etwa um Landrechtsfragen wie im Film Takeover von David und Judith MacDougall.

An Festivals, Tagungen und in Workshops werden seit kurzem häufiger Videobänder gezeigt, die mehr sind als mit einer Video-Kamera gedrehte Filme. Sie schlagen neue, durch die Video-Technik erst ermöglichte Wege ein. Polka, Roots of Conjunto accordion playing in South Texas, eine holländische Video-Produktion von Robert Boonzajer-Flaes und Marten Rens, gehört zu diesen „neuen“ Videos. Sie geht den europäischen Wurzeln der Handharmonika-Musik mexikanischer Einwanderer in Süd-Texas nach. Während zwei Monaten reisten Boonzajer und Rens mit Kassetten-Recorder und Video-Kamera zwischen Österreich und Texas hin und her. Sie liessen österreichische Musiker die Musik ihrer mexikanischen Kollegen hören und umgekehrt. Mit der Video-Kamera fingen sie die Reaktionen und Kommentare der Musiker ein. Die Kamera wurde absichtlich offen in dieses Projekt einbezogen. Die Österreicher und die Mexikaner posieren vor ihr für ihre fernen musikalischen Verwandten. Das Resultat dieser direkten und interaktiven Art zu filmen ist eine visuelle Produktion, die keinen erklärenden Kommentar nötig hat, um neben den musikethnologischen Zusammenhängen auch das soziale und emotionale Leben vor allem der mexikanischen Musiker eindrücklich zu beleuchten. Vielleicht liegt hier ein Ansatz zur Ausbildung einer qualitativ neuen, eigenständigen „visuellen Ethnologie“?

Barbara Lüem
ist Ethnologin, wissenschaftliche Assistentin am ethnologischen Semi­nar der Universität Bern und unterrichtet u.a. visuelle Anthropologie, wohnt in Basel.
(Stand: 2019)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]