RICHARD DINDO / MARTIN SCHAUB

„DAS UND DAS WIRD NICHT VERGESSEN“

ESSAY

Ein Gespräch über das Erinnern, die Rekonstruktion, den Geist von Orten, die Fiktionalisierung von Dokumenten und die Dokumentarisierung von Fiktion – über das Erzählen und die Sprache zuerst und über politische Bekenntnisse erst später und nebenbei.

MARTIN SCHAUB Weder das nicht realisierte Drehbuch „Librium" noch der erste Film, Die Wiederholung (1970), und auch eigentlich Dialog (1971) haben direkt mit Geschichte und Aufarbeitung von Geschichte zu schaffen. Das kommt zwar in Dialog und Naive Maler in der Ostschweiz (1972) sachte, am Rand herein — zentral wird es erst in Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg (1973), und dann bleibt dieses Interesse da, ist konstituierend für die Arbeit. Fs ist eine nicht- abbrechende Suche nach den verdeckten Wurzeln deiner Existenz. Worauf geht dieser Drang, den Hintergrund der Gegenwart aufzudecken und darzustellen, zurück?

RICHARD DINDO Ich bin italienischer Abstammung, zweite Immigrantengeneration. Obwohl ich nicht mehr italienisch spreche, habe ich mich in der deutschen Schweiz immer als Fremder gefühlt - zu Hause zwar, aber fremd. Dass ich mit 20 nach Frankreich ausgewandert und dort neu geboren worden bin - in der Sprache und in der 68er Zeit das ist das Fundament meiner Filme. Ich bin in die Schweiz zurückgekommen, um Filme zu machen. Wäre ich in Paris geblieben, hätte ich wohl keine gemacht. Und würde ich keine Filme machen, käme ich wohl nicht wieder in die Schweiz zurück. Meine Beziehung zur Schweiz ist von einer Art Hassliebe geprägt. Irgendwie versuchte ich mit meinen Filmen immer auch einen Beweis dafür zu finden, dass ich existiere, dass ich Schweizer bin, eher jedenfalls als etwas anderes. Dieses ständige Zurückgehen an die „tatsächlichen Schauplätze“, dieses Rekonstruieren von (historischen) Ereignissen, dieses Herstellen von Erinnerung, das meine Filme prägt, ist sicher auch ein Versuch, mein Fremdheitsgefühl zu überwinden. Ich habe mich aus meiner Vereinzelung gelöst, indem ich mich mit ganz bestimmten Schweizern solidarisierte, mit den Opfern, den Unterdrückten, den Widerstandskämpfern. Jeder meiner Darsteller ist ein Verbündeter. Jeder Film ein gemeinsamer Kampf für die eigene Geschichte und die eigene Sprache; ein Versuch, mich mit meiner Herkunft zu versöhnen.

Kurt Marti und Konrad Farner (Dialog) und die naiven Maler lebten in deiner Gegenwart. Dann kommen die Figuren, deren Spur abgebrochen ist, wo du Rückgriffe machen musst. Gab es nicht genügend lebende Familienmitglieder, Menschen, die als „Bruder“ oder „Schwester“ in Frage kamen?

Die 68er waren meistens Söhne und Töchter von abwesenden, nichtexistierenden Eltern, die in einer anderen, bürgerlichen Welt lebten, die sie nicht mehr in Frage stellten. Es ging uns also auch darum, aus dem bürgerlichen Weltbild auszubrechen und die ganze Vergangenheit sozusagen umzuschreiben. In Paris hatte ich plötzlich gemerkt, dank den Mai-Ereignissen, dank den neuen Büchern, die ich zu lesen anfing, dass wir in unserer Jugend angeschwindelt worden waren, dass man uns ganze Bereiche unserer Geschichte vorenthalten hatte, dass ich aus einem Land kam, das eigentlich gar keine Geschichte hatte und vor allem auch keine Tradition der Rebellion. Ich begann mich - wie viele andere auch - mit der Arbeiterbewegung, dem Sozialismus, den 30er Jahren, dem Kampf gegen den Faschismus zu beschäftigen. Als ich in die Schweiz zurückkam, um Filme zu machen, musste ich mich zuerst einmal zurückintegrieren, die verlorene Zeit wiederfinden, den Älteren zuhören, schauen, was man von ihnen lernen kann, sie ihre Geschichten erzählen lassen, die von der bürgerlichen Gesellschaft verleugnet worden waren. Deshalb haben mich lange „Brüder“ und „Schwestern“ nicht interessiert, weil wir alle zuerst einmal auf der Suche nach unserer Vergangenheit waren.

In Naive Maler in der Ostschweiz hast du ein ganz auffälliges, neues Klima des Zuhörens geschaffen. Bei Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg kam dann etwas Neues dazu: das Misstrauen, die Ablehnung der falschen Erzähler; es ging auch um die Revision eines falschen Geschichtsbildes.

Ich habe alle meine Filme immer auch aus Sympathie für meine Darsteller gemacht. Die naiven Maler waren mir sympathisch, weil ich sie als eine Art Urbewohner der Schweiz anschaute, als Leute, die in einer vorkapitalistischen Welt lebten und eine paradiesische Vision einer Welt ohne Widersprüche hatten, ein Weltbild, das in der Schweiz länger überlebt hat als anderswo.

Beim Spanienkämpferfilm kam natürlich eine ganz andere Dimension hinein: die Figur des klassenbewussten, politisch denkenden Arbeiters, die Dimension der Rebellion. Der naive Maler ist ein geschichtsloser Anti-Rebell, während der Spanienkämpfer für mich der klassische linke Rebell gewesen ist. Bei diesem Film ging es mir zuerst einmal darum, den Spanienkämpfern ein Denkmal zu setzen, dafür zu sorgen, dass man sich bei uns überhaupt an sie erinnert, ich wollte sie in unsere Geschichte stellen, in eine linke, nichtbürgerliche Geschichte.

Du hast Väter gefunden, die du anerkennen konntest. Und weil es nicht nur einer war, weil du viele Zeugen gesucht hast, bist du mit dem Film auch zum Historiker geworden. Gewissen Leuten bist du in den Hammer gelaufen. Sie haben gesagt, du hättest die Aussagen deiner „Väter“ nicht kritisch genug überprüft.

Was mich bei den Leuten meiner Filme immer faszinierte, war die selbstverständliche Beziehung zur Sprache. Solches Erzählen sieht man entweder in den Romanen grosser Schriftsteller oder bei einfachen Leuten. Der durchschnittliche Intellektuelle - und da zähle ich mich auch dazu - besitzt diese Kunst des Erzählens nicht. Wahrheit aber hängt für mich mit dem Erzählenkönnen zusammen. Ich glaube nur an die Wahrheit von Leuten, die erzählen können. Dabei ist es klar, dass jeder seine eigene Wahrheit hat, wie Jean Renoir es meint, wenn er sagt, jede Figur in seinen Filmen habe ihre eigenen Gründe, das zu sein, was sie ist, zu denken, was sie denkt. Als Zuhörer kann ich nicht meine Geschichtenerzähler kritisieren. Ich akzeptiere sie, wie sie sind. Ihre Meinung ist wichtiger als meine. Ich bekomme durch das Zuhören ein neues Gefühl für das Reden, für die Sprache überhaupt, das ist für mich eigentlich wichtiger, als was die Leute konkret sagen.

Gut. Dennoch gab es Missverständnisse, gab es Einsprüche. Ungefähr so: Der Dindo will uns den Spanischen Bürgerkrieg neu erzählen, aber er macht Fehler. Er interveniert nicht, wenn seine Zeugen Dinge sagen, die ungenau sind, die längst besser geklärt sind. Was tust du, wenn du etwas besser oder anders weisst als deine Zeugen? Fällst du den Erzählern ins Wort (beispielsweise in den Vorgesprächen), fragst du zurück, ziehst du in Zweifel?

Beim Spanienkämpferfilm kam die Kritik, wenn überhaupt, von links. Abgesehen von der Zensur durch den freisinnigen Programmdirektor des Fernsehens, der die „Demokratiefrage“ herausschneiden liess. Ein Kollege, Frédéric Gonseth, fand, es sei ein „stalinistischer Film“; die Stalinisten sagten, es sei ein „trotzkistischer“; die Anarchisten fanden ihn „sozialdemokratisch“. Ich stehe zur Widersprüchlichkeit des Films, denn es ist die Widersprüchlichkeit der ganzen linken Bewegung. Ich als imaginärer Sohn der Spanienkämpfer konnte ihnen doch nicht sagen, was sie allenfalls falsch gemacht haben. Wäre ich in Spanien gewesen damals, wäre ich auf der Seite der Volksfront gestanden; ich hätte aber auch Sympathien für die Anarchisten gehabt, weil ich ihre Generosität liebe. Aber davon leite ich kein Recht ab, meine Partner zu korrigieren oder zu kritisieren. Jeder konnte seine eigene Geschichte erzählen, und die Summe der Geschichten war auch die Summe des Bürgerkriegs mit allen Widersprüchen innerhalb des republikanischen Lagers.

Bei historischen und politischen Ereignissen ist es sowieso schwierig zu wissen, was „richtig“ und was „falsch“ ist. Ich habe nur einmal, beim „Renato“- Kapitel meines letzten Filmes, einem Interviewpartner gesagt, dies müsse er nicht sagen, aufgrund meiner Studien der Dokumente könne das nicht stimmen, sonst müsse ich es nur bei der Montage herausschneiden. Aber da ging es um etwas Konkretes, Sachliches, das ich nachprüfen konnte. Im grossen ganzen geht es bei Interviews meiner Meinung nach nur darum, dass der Filmemacher den „roten Faden“ im Kopf hat und zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden kann. Alles andere ist Sache der Erzähler.

Nun hat im Spanienkämpferfilm eine Dimension noch gefehlt, die seit Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. wichtig ist: die Tatorte, die Schauplätze. Der Spanienfilm geht ja nur bis zu der Zollschranke von Le Perthus. Viel später, in El Suizo - un amour en Espagne, hast du quasi nachgeholt, was dir vorher verschlossen war. Haben dir die Schauplätze im Spanienkämpferfilm sehr gefehlt, oder war es schliesslich gar nicht so schmerzhaft, dass du die Tatorte mit bestehenden Dokumenten - Filmausschnitten und Fotos - skizzieren musstest?

Der tatsächliche Schauplatz ist für mich in Verbindung mit der Entwicklung der filmischen Enquête immer wichtiger geworden. Für den Spanienkämpferfilm wollte ich zwar effektiv nach Spanien, ich wollte Hans Hutter zu einem ehemaligen Kriegsschauplatz begleiten, an den genauen Ort, wo er damals hinter seinem Maschinengewehr gelegen hatte. Aber die Schweizer Botschaft hat mir das vermasselt, indem sie der franco-faschistischen Administration meine Pläne ausplauderte, darauf bekam ich ein offizielles Drehverbot. Die Franco-Regierung hatte damals sogar bei unserem Aussenministerium gegen die beabsichtigte Subvention meines Filmes durch das EDI interveniert. Die Schweizer Botschaft hatte freundlicherweise die Franco-Regierung auch gleich noch informiert, dass mein Film durch das EDI subventioniert werden sollte. Darauf protestierte die Franco-Regierung bei unserem Aussenministerium dagegen, und fast hätte ich die Subvention nicht ausbezahlt bekommen! Erst die Intervention eines sozialdemokratischen Nationalrates hat die Sache dann möglich gemacht, weil man in Bern Angst vor öffentlichen Reaktionen bekam.

Hutters Besuch am realen Schauplatz haben wir dann ersetzt durch seine Lichtbilder, die er vor der Kamera erklärte. Das war formal schliesslich eine bessere Lösung, weil sie zum Rest des Filmes passte, der ja nur mit Dokumenten rekonstruiert. Es ist aber klar, dass mir heute eine solche Lösung nicht mehr genügen würde.

Der Spanienkämpferfilm ist noch keine Enquête, da war ich mehr der passiv zuhörende Sohn, die aktive Rolle des Suchenden wählte ich erst vom Landesverräter-Film an, bedingt durch Meienbergs Enquête, die dann auch jene des Films wurde.

Mir fuhr beim Landesverräterfilm der „Geist der Orte“ sehr stark ein. Ich merkte, dass sich die Orte oft weniger rasch ändern als der Zeitgeist. Es gab da eine ungeheure Spannung zwischen dem Beharrungsvermögen der Orte und dem Vergessen der Geschichte.

Der Zufall wollte es, dass die Örtlichkeiten von Meienbergs Buch noch erhalten waren. Das Haus, in dem Ernst S. in St. Gallen wohnte, hätte ja abgerissen sein können (und die Schlummermutter längst tot). Es ist ein Glück für den Dokumentarfilmer, wenn er die realen Schauplätze noch intakt findet. Für mich wird ein Ort erst interessant, wenn ich seine unsichtbare Geschichte kenne. Ein Haus in St. Gallen bekommt ein ganz anderes Gewicht, wenn ich erfahre, dass Ernst S. da gewohnt hat, und ein Wald in Jonschwil, weil er da hingerichtet worden ist. Sonst ist’s einfach ein Haus oder ein Wald. Dadurch, dass die Ereignisse in meinen Filmen eigentlich immer schon vorher, früher stattgefunden haben, kann ich mit meinen Bildern gar nicht viel zeigen. Ich brauche die gesprochene Sprache, um die eigentliche Geschichte erzählen zu können, und die Bilder bekommen ihre Bedeutung erst durch die Dialektik mit der gesprochenen Sprache. Das gilt übrigens auch für die Fotografie. Wenn man erfährt: Das ist wirklich die Mutter des Fotografen - oder das ist wirklich ein zum Tod Verurteilter, dann wird das Bild erst bewegend. Es muss eine Geschichte dahinter stecken: Je mehr man davon weiss, umso interessanter wird das Bild, und umso mehr kann man hineinprojizieren.

Die Enquête vergegenwärtigt Vergangenheit. Andererseits können ja Bilder und Töne die Gegenwart konservieren für die Zukunft. Der Johnny Linggi vom Spanienkämpferfilm ist jetzt tot, aber heute kann man sehen: So hat er 1973 ausgesehen, das hat er gemacht und gearbeitet. Man kann noch weiter spekulieren: Im 22. Jahrhundert wird man - falls es dann diesen Planeten und menschliche Intelligenz noch gibt - mit Filmen das 20. Jahrhundert rekonstruieren können. Denkst du bei deiner Arbeit auch an diesen Aspekt, ans Dokumentieren der Gegenwart für die Zukunft?

Die Gegenwart ist der Augenblick, in dem man filmt, aber das gefilmte Bild ist schon die Erinnerung an diesen Augenblick. Was mich unter anderem am Film und an der Fotografie interessiert, ist die Tatsache, dass jedes hergestellte Bild immer auch gleichzeitig das Dokument von sich selber ist. Für mich ist diese Idee beim Filmen sehr wichtig, dass wir immer auch im Begriffe sind, ein Dokument herzustellen, das eine Spur hinterlassen wird. Auch das ist bewegend: Ich filme Johnny Linggi. Eines Tages wird er tot sein. Was von ihm bleibt, ist dieses Bild, das wir jetzt gerade filmen. Der Film hat auch diese Kraft, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Für mich ist das eine wichtige Motivation beim Filmen, vielleicht sogar die wichtigste.

Natürlich arbeitet der Filmemacher zuerst einmal für die Gegenwart, d.h. für den Zuschauer. Sicher ist aber, dass der Film ganz allgemein nachkommenden Generationen ein ungeheures Verständnis unserer Zeit vermitteln wird. Vielleicht allerdings auch ein falsches, denn die Wirklichkeit ist immer anders, als die Filme darüber. Immer mehr wird man von der Vergangenheit nur noch das sehen wollen, was in Filmen von ihr zu sehen ist. Trotzdem ist der Film das beste und wichtigste Medium, um das alltägliche Leben zu dokumentieren. Wenn man bedenkt, was für eine Sensation das wäre, wenn irgendwelche Marsmenschen vor einiger Zeit Interviews mit Danton, Robespierre oder Napoleon gefilmt hätten, und diese Interviews könnten wir nun per Satellit einfangen und ausstrahlen. Oder wir würden plötzlich am Bildschirm ein Originaldokument von Sokrates sehen, wie er in seiner Zelle sitzt, kurz vor seinem Tode mit seinen Jüngern spricht. Diese Art von Dokument gibt es aber heute, dank dem Film. Auch Spielfilme bekommen mit der Zeit den Charakter von Dokumenten. Ich habe die Wochenschauen der Kameramänner von Lumière den Fiktionen von Meliès immer vorgezogen, aber schon bei Griffith, bei Gance und Feuillade gibt es fiktive Szenen, die heute den Charakter von Wochenschaudokumenten haben. Wenn ich heute einen Film über die Südstaaten der USA machen würde, würde ich nicht zögern, Ausschnitte aus Intolérance oder Birth of a Nation als Dokumente einzusetzen.

Wer macht eigentlich die Geschichte? Von welchem Augenblick an wird ein politisches Ereignis historisch? Das hängt in meinen Augen sehr stark auch mit der Geschichtsschreibung selber zusammen. Die Bedeutung eines Augenblicks wird uns immer erst im nachhinein bewusst. Ohne Erinnerung gibt es keine Geschichte. Überhaupt kein Ereignis wird bedeutungsvoll, auch im privaten Leben nicht, wenn man sich nicht daran erinnert. Damit man aber vergangene Ereignisse darstellen kann, muss man sie rekonstruieren. Für mich ist Film Rekonstruktion. Damit man eine Szene abfilmen kann, muss man sie zuerst herstellen, d.h. man muss irgendetwas, woran man sich erinnert oder was man sich vorstellt, zuerst einmal rekonstruieren. Die Realität stellt sich nicht von selber dar. Es gibt keine Fiktion in der Natur.

Ich bin geprägt von meiner Lektüre von Proust, nämlich von der Idee, dass man den Augenblick nicht festhalten kann, dass die Zeit rekonstruiert werden muss, damit man verstehen kann, was geschehen ist. Jede Darstellung ist für mich Rekonstruktion als Suche nach der verlorenen Zeit.

„Toute vérité a une structure de fiction“, sagt Jacques Lacan. Die Fiktion ist von uns hergestellt. Insofern ist für mich jeder Film fiktionell und gleichzeitig auch dokumentarisch, je nachdem wie man ihn anschaut. In meinen Filmen versuche ich, der Erinnerung eine politische Dimension zu geben. Ich gehe davon aus, dass wer seine Vergangenheit nicht kennt und alles vergisst, auch die Gegenwart nicht versteht. Gerade weil wir in der Schweiz wenig Geschichte haben, haben wir auch wenig historisches Bewusstsein. Umso wichtiger ist es, dass wir das wenige, was wir an Geschichte haben, aufarbeiten und eine Erinnerung davon schaffen. Als Linker arbeite ich natürlich an einer linken Erinnerung. Nur sie interessiert mich.

Man könnte ja auch sagen: Weil die moderne Schweiz so wenig Geschichte hat und erlebt, dazu die Erinnerung nicht pflegt, ist sie noch immer so anfällig auf Mythen. Aber lassen wir die Spekulationen.

Der Enquêteur kommt in einigen deiner Filme selber vor, im Bild oder nur im Ton (im Kommentar zu Dani, Michi, Renato und Max zum Beispiel). Die Herstellung von Erinnerung wird sicht- und hörbar. In diesem Zusammenhang interessieren mich deine beiden neuen Projekte, „Verhör und Tod in Winterthur“ sowie das Rimbaud-Projekt. Bei dem letzteren denkst du ja daran, Augenzeugen wieder auferstehen zu lassen, nicht nur die „toten Helden“. Es ist ja auffällig, dass du bis dahin in der Erinnerungsarbeit nicht hinter das Jahr /9J6 zurückgegangen bist. Augenzeugen waren da immer noch greifbar; im Rimbaud-Projekt wird das nicht mehr möglich sein.

Die Enquête ist in meinen Filmen immer wichtiger geworden. Die kriminalistische Enquête, die an den Ort des Verbrechens geht und herauszufinden versucht, was da genau geschehen ist. Die Rekonstruktion wird dann Rekonstruktion einer Enquête. Eigentlich ist die Enquête Suche nach der Darstellung. Wichtig ist nicht, was die Enquête herausfindet. Das weiss man immer schon zum voraus. Wichtig ist, wie man die Dinge darstellt. Der Weg ist alles, das Ziel nichts. Der Weg ist die Enquête als Rekonstruktion. Die „Wahrheit“ ist nicht das Resultat einer Enquête, die Wahrheit ist die Enquête selber, dargestellt durch die Rekonstruktion.

Ähnlich wie beim Buch von Meienberg über Ernst S., war ich bei Erich Schmids Buch Verhör und Tod in Winterthur zufälligerweise der erste, der das Manuskript las. Beide Male sah ich vor meinem geistigen Auge sofort einen Film. Beide Geschichten sind Enqueten von Journalisten, die beiden wichtigsten politischen Enquêten meiner Meinung, die in der deutschen Schweiz geschrieben worden sind. Beide Male steht im Zentrum der Untersuchung ein Toter. Bei Schmid im besonderen der Selbstmord einer jungen Untersuchungsgefangenen. Dazu kommt das politische Rebellentum, in der Nachfolge der Zürcher Jugendunruhen, einer Gruppe von Jugendlichen und auf der andern Seite der erbarmungslos-hysterisch zuschlagende Repressionsapparat des Staates. Das alles waren natürlich Dinge, die mich direkt angingen und viel mit meiner eigenen Arbeit zu tun hatten.

Ich musste dabei aber davon ausgehen, dass die Beteiligten, sowohl die „Winds“ selber, wie auch die Behördenmitglieder nicht bereit wären, im Film mitzumachen. Meine Absicht war es deshalb, die ganze Geschichte mit Schauspielern nachzuerzählen, dabei aber immer wieder zu betonen, diese Geschichte hat sich wirklich ereignet, der Journalist E. S. hat sie in seinem Buch so und so beschrieben, eines Tages kam der Autor nach Winterthur, redete mit diesem und jenem, etc. Alle Bilder und Szenen sind wörtlich aus dem Buch entnommen, rekonstruieren, was der Autor erlebte und beschrieb, und so fort.

Dabei wollte ich zum Beispiel Verhöre und Zellenaufenthalte im Gefängnis mit Video filmen, wie von Video-Überwachungskameras aufgenommen. Meine Bilder wären quasi reale, wenn auch von mir rekonstruierte Dokumente gewesen. Ich stellte mir den ganzen Film nachkommentiert vor, d.h. der Kommentar erzählt noch einmal, was man eigentlich im Bild schon sieht, damit diese an und für sich fiktiven, d.h. nachinszenierten Bilder den Charakter von Dokumenten bekommen, wie man es in gewissen amerikanischen Krimis beobachten kann. Das Ganze wäre also eine Art Gratwanderung zwischen Fiktion und Dokumentarismus gewesen, ein Spielen auch zwischen den beiden Formen, unter der Gefahr allerdings, dass der Zuschauer die Übersicht verloren und nicht mehr verstanden hätte, was jetzt da eigentlich genau als Fiktion und was als wirkliches Dokument anzuschauen ist.

Bei beiden Projekten, beim Winterthurer wie bei Rimbaud konnte man also die realen Augenzeugen nicht filmen, bei Rimbaud gibt es aber bessere, einleuchtendere und formal einfacher zu lösende Gründe dafür. Was neu ist für mich: dass ich immer mehr an die Grenzen des Dokumentarfilmes stosse, weil das Prinzip der Enquête und der Rekonstruktion immer mehr Inszenierung und Fiktion verlangen. Man stösst einfach an Grenzen, die man nur noch mit Schauspielern überschreiten kann, weil man mit ihnen mehr darstellerische Freiheiten bekommt.

Zum Rimbaud-Projekt: Ich gehe auch hier von geschriebenen Texten aus. Ich nehme zum Beispiel Verlaine, der zwar wenig über Rimbaud geschrieben hat, aber es reicht, um eine Figur aus ihm zu machen. Ich nehme Rimbauds besten Schulfreund, Delahaye, der ein dickes Buch über Rimbaud geschrieben hat. Ich halte mich an die Mutter, die Schwester, den Lehrer, der auch ein Buch publiziert hat. Ich halte mich ausschliesslich an Dokumente, erfinde keinen Satz Dialog und mache Interviews mit Schauspielern, die die Leute spielen, die Rimbaud gekannt haben.

Bei diesem Projekt scheinst du mir nicht Geschichte fiktionalisieren zu wollen, sondern das Filmen selber. Du willst so tun, als ob filmische Dokumente über Rimbaud existierten, du lässt Zeugen auftreten und sprechen.

Die Grundidee ist einfach, ähnlich wie in Citizen Kane, den ich für das Herzstück aller Enquête-Filme halte. Dort bekommt bekanntlich ein Journalist den Auftrag, herauszufinden, was das Wort rosebud bedeutet hat, Kanes letztes Wort. Ähnlich sage ich: Die Firma Lumière hat einen Kameramann beauftragt, herauszufinden, wer dieser Rimbaud war, von dem ganz Paris spricht, warum er zu schreiben aufgehört hat und nach Afrika verschwunden ist, von einem Tag auf den andern. Und dann geht dieser Kameramann zu den Leuten, die Rimbaud gekannt haben, und stellt Fragen, besucht sie an Ort und Stelle, wo sie einmal mit Rimbaud waren oder ihn zum letzten Mal gesehen haben. Diese Enquête wurde 1896 gemacht, fünf Jahre nach Rimbauds Tod. Und hundert Jahre später findet ein Filmemacher diese Bilder und macht einen Film damit, wobei man ja nicht unbedingt erklären muss, wie diese Bilder zustande gekommen sind. Es sind einfach Dokumente. Von mir selber hergestellte Dokumente.

Rimbaud hat sich damals eine Fotokamera nach Abessinien schicken lassen. Ich stelle mir also zusätzlich vor: von Rimbaud selber gefilmte Bilder, subjektive Bilder, sein Blick, was er gesehen hat und im Off einen inneren Monolog, seine Stimme, von mir nach autobiografischen Kriterien montierte Ausschnitte aus seinen Gedichten und seinen Briefen. Der ganze Film also eine präzis hin und her geschnittene Dramaturgie zwischen den objektiven Informationen über Rimbauds Leben als Enquete und die subjektive, aufrührerische-poetische Sprache des Dichters, der Dichter als Rebell, Rebellion mit der Sprache und dann das bittere Ende, die Niederlage der Kommune, das Herumirren in der Welt, die Verleugnung seiner Gedichte, der Waffenhandel in Afrika, der frühe Tod.

Meiner Meinung nach eine sehr aktuelle Biographie, die viel mit der heutigen Tage zu tun hat, sagen wir einmal, „mit der heutigen Jugend“ ...

Ich bin froh, dass wir so über das politische Bewusstsein deiner Filme sprechen können, über die formalen Strategien. Dass wir nicht über tagespolitische Zielsetzungen zu sprechen brauchen. Die sind ja auch evident. Weniger evident sind ja immer die Formen und die Bedeutungen von Formen. Dennoch wirst du oft genug die Frage nach deiner eigenen politischen Einordnung hören.

Das Wort „Strategie“ gefällt mir. Für mich ist Filmemachen eine Taktik und eine Strategie. Die Strategie wäre, was für Filme, und die Taktik, in was für einer Form. Ich gehe davon aus, dass ich keine Geschichten erfinde. Ich erzähle schon existierende Geschichten in einer neuen Form; mich interessiert zum Beispiel die Weiterentwicklung des Prinzips der Biographie, dazu verwende ich die Enquête und die Rekonstruktion. Denn das Leben ist kein Zustand, sondern Aktion, Dinge, die uns geschehen an bestimmten Orten.

Ich bin fasziniert von der Sprache und verehre Rebellen und Widerstandskämpfer, hasse jede Form von Autorität, darunter die schlimmste, den Faschismus. Mein politisches Credo ist eigentlich: Widerstand ist berechtigt. Das ist die Taktik. Und die Strategie wäre: die antifaschistische Koalition. Das ist vielleicht etwas naiv, aber ich versuche mit jedem Film im Publikum eine antifaschistische Koalition zu bilden, die von der extremen Linken zum liberalen Bürger geht. Da ich nichts erfinde, gehe ich aus von einem Gegenstand: Zuerst ist der Gegenstand da, und dann kommt die Frage, wie stell ich das dar. Aber im Gegenstand ist schon alles enthalten, was mich interessiert, alle meine Probleme, mein Unterbewusstes, meine Geschichte, alle meine Themen, alles ist im Gegenstand schon drin und muss jetzt sichtbar werden. Die Frage ist nun: Wie mache ich, dass der Zuschauer das, was ich sehe und fühle, selber auch sieht und fühlt. Dazu genügen mir die Bilder nicht, dazu brauche ich auch die Sprache, weil man mit ihr meiner Meinung nach viel mehr ausdrücken kann.

Die Sprache von Rimbaud zum Beispiel ist die Sprache unserer Jugend, die Sprache des Aufstandes, der Rebellion. Vielleicht werde ich diesem Film einen Satz von Bloch voranstellen: Wir sollten die Träume unserer Jugend nicht vergessen. ... voilà mon programme.

Alles, was man politisch zu sagen hat, muss im Innern der Darstellung bleiben, in den Bildern, in der Sprache, in der Montage.

Ich bin geprägt von meinem Geschichtsbewusstsein und damit auch vom schmerzhaften Gefühl unserer Niederlagen. Filmemachen heisst für mich auch: Trauerarbeit leisten, die Niederlagen überwinden, weiterleben, gegen das Vergessen kämpfen, denn erst wenn wir vergessen haben, sind wir wirklich besiegt.

Manchmal habe ich den Eindruck, der Schweizer ist von Anfang an besiegt, er hat gar nie gekämpft, also hat er auch nichts, woran es sich zu erinnern lohnt. Wenn man sich nicht mehr erinnert, ist man tot. Wenn ich die Zeit und den Ort meiner Geburt hätte auswählen können, hätte ich in Paris zwischen 1820 und 1900 leben wollen.

Wenn ich sehe, wie aufmerksam du die Zeichen der Gesellschaft und der Zeit liest, wie sehr du auf diese Lesbarkeit vertraust, auf die sichtbare und hörbare Struktur, die den Geist einer Epoche und eines Systems artikuliert, nehme ich einfach an, du habest Althusser nicht nur gelesen, sondern er habe dich wesentlich geprägt.

Althusser ist tatsächlich entscheidend. Etwa der Satz, den ich sinngemäss zitiere: Später und immer mehr werden die Menschen begreifen, dass es heute im Grunde um die ganz einfachen Gesten des Lebens geht, alltägliche Gesten wie Schauen, Hören und Reden.

Ein richtiger Film, ein wirklicher und wichtiger, ist, ohne Moralismus und Zeigefingerattitude, immer auch eine Schule des Redens, des Hörens und des Schauens.

Der Fluch aber ist, dass auch die Wahrheit der einfachen Gesten immer mehr in Frage gestellt wird, gerade in der französischen Philosophie. Natürlich wäre ich den Endzeitskeptikern mit Argumenten nie gewachsen, aber wenn ich zum Beispiel Cioran lese oder auch Baudrillard, kommt in mir noch immer eine Traurigkeit auf, aber zugleich die vage Gewissheit, dass die nicht Recht haben. Ich misstraue der postmodernen neuen Unübersichtlichkeit. Dieses Misstrauen, ein gewisses Festhalten an modernen Positionen, sehe und spüre ich in deinen Filmen und Projekten.

Ich habe in Paris gelernt, dass eigentlich alles über die Sprache geht, dass die konkrete Welt wie sie ist, gelesen werden muss, dass man den versteckten Sinn hinter den konkreten Dingen herausspüren muss. Leute, die mich geprägt haben, wie Althusser, Proust oder Barthes, sind jene, die nicht die ganze Welt erklären wollen, sondern - ähnlich wie ich es mit meinen Filmen versuche - einen Gegenstand herausgreifen, von allen Seiten her anschauen und beschreiben. Die ganze Welt ist ja so komplex und kompliziert, dass man sich darin verliert. Doch wenn man sich einlässt auf einen definierten Gegenstand, wird sich die ganze Welt in diesem Detail reflektieren. Davon bin ich überzeugt, und das finde ich fruchtbar. Den Gegenstand so lange anschauen, bis er sozusagen von sich selber spricht. Sich wie ein Wissenschaftler eine bestimmte Aufgabe stellen, sich einen Auftrag geben, und zwar mit dem Bewusstsein, dass man sich nur Fragen stellen soll, die man wahrscheinlich auch beantworten kann.

Ich wähle Gegenstände und versuche, sie so darzustellen, dass die Darstellung mit dem Gegenstand übereinstimmt. Und manchmal hat man Glück, wie ich im „Max“-Kapitel meines letzten Filmes, dass der Film sogar über den Gegenstand hinausgeht und ihm eine neue Dimension verleiht. Das war ein Glücksfall, es war der Gegenstand, der das erlaubt hat.

Richard Dindo
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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