ALFRED MESSERLI

„DIE BEFRIEDIGUNG DER SCHAULUST ZU REGULIEREN“ — PROTOKOLL ÜBER DEN STREIT UM DEN ZWEITEN KINEMATOGRAPHEN IN DER GEMEINDE OERLIKON BEI ZÜRICH.

ESSAY

Mit dem Namen Lichtspieltheater oder Kinematographen-Theater wusste sich das Kino in seiner Anfangszeit (damals sagte man noch der Kino) eine Respektabilität zu verschaffen, mit der es als illegitimer Abkömmling von Jahrmarktsbelustigungen sonst hätte nicht rechnen dürfen. Wie wenig diese Verstellung half, belegt die Kinodebatte für und wider das neue Medium. Die Allmacht des Kinematographen schien damals ungebrochen. Das ist uns heute nicht ohne weiteres verständlich. Durch andere Medien befindet sich das Kino in einer Konkurrenzsituation, welche die Grenzen seiner Attraktivität hat sichtbar werden lassen: Es ist ein Medium unter anderen. Die Befürchtungen, die der Kinematograph damals in jenen auslöste, die sich dazu äusserten - in Lehrern, Zeitungsschreibern und Volkserziehern -, erscheinen uns als der naive Versuch, die Gesellschaft auf die Gefahren hinzuweisen, die ihr durch den extensiven Besuch der Kinos durch Jugendliche erwachsen. Gesteht man den Kinogegnern diese Naivität nicht zu (und vieles spricht dafür, das nicht zu tun), so geht es in dieser Debatte um eine Auseinandersetzung um die Wirklichkeit des Imaginären.

Vorschau

Die Bevölkerungszahlen der eidgenössischen Volkszählungen belegen, mit welcher Geschwindigkeit die Stadt Zürich um die Jahrhundertwende durch Geburtenüberschuss und Zuwanderung wuchs. 1888 zählte die Stadtbevölkerung 27 674 Personen (zusammen mit den 1893 der Stadt zugeschlagenen Gemeinden 94 129), 1894 waren es 121 057, 1900 schon 150 703, 1910 190 733 und im Jahre 1920 207 161. Die Bevölkerungsentwicklung der damals noch eigenständigen, ans Stadtgebiet angrenzenden Gemeinde Oerlikon verlief nicht weniger stürmisch: 1888 wohnten hier 1 721 Personen, im Jahr 1900 3 982, zehn Jahre später 5 835 und 1920 7 278. Was Carl Brühschweiler im Adressbuch der Stadt Zürich für 1925 unter dem Titel „Zürichs Aufstieg zur Grossstadt“ verhandelte, lässt sich auch am Aufkommen ständiger Kinematographen belegen. Der Polizeivorstand sprach von einer geradezu „unheimlichen Vermehrung der Kinematographen“ (Protokoll Polizeivorstand, 8. Januar 1910). 1907 eröffnete Jean Speck an der Waisenhausgasse das erste Kinotheater („Specks Kinematograph“, ab 1913 „Orientkino“) mit 150 Sitzplätzen. Im gleichen Jahr folgte das „Radium“ an der Mühlegasse mit 160 Sitzplätzen, 1908 das „Odeon“ am Limmatquai (bis 1911), der „Zürcherhof“ (bis 1915) am Sonnenquai mit 120 Sitzplätzen und das „Löwenkino“ (später „Eden“) am Rennweg mit 150 Sitzplätzen (bis 1929), 1909 das „Cinema Wunderland“ an der Militärstrasse mit 150 Sitzplätzen (bis 1914), das Kino „Sihlbrücke“ an der Badenerstrasse mit 100 Sitzplätzen und die „Elektrische Lichtbühne“ (später „Zentraltheater“, heute „Capitol“) an der Weinbergstrasse mit 240 Sitzplätzen. 1910 bestanden in der Stadt Zürich neun Kinematographen, 1915 waren es dreizehn.

Ein Zitat aus dem Vortrag von Rechtsanwalt Lesch, „Der Kino im Kultur- und Rechtsleben der Gegenwart“, am 15. März 1916 auf der Schmiedstube gehalten, gibt eine Vorstellung von der Bedeutung des Kinematographen:

In Zürich besitzen wir zur Zeit zwölf Kinotheater mit rund 3 000 Sitzplätzen, die sich naturgemäss in den bevölkertsten Stadtgegenden etabliert haben. So besitzt der Kreis I deren sieben, der Kreis IV deren vier, während die Kreise II, 111, VI, VII und VIII leer ausgehen. Diese Theater teilen sich nach Programm und Darbietungen deutlich in zwei Teile: solche, in denen immer noch der Schauerfilm seinen Nervenkitzel auslöst, und andere, in denen das Naturbild und eine geschmackvolle Auswahl von Schauspielen und Aktualitäten Einlass findet. Täglich besuchen Zürichs Kinotheater 6-7 000 Personen. Die Gründe zu diesem Besuch sind das kleine Eintrittsgeld, mit dem kein anderes Theater konkurrieren kann, dass man an keine Zeit gebunden ist und sich nicht auf den Besuch vorbereiten muss.

Nach 1912 brachen Klagen besorgter Eltern und Erzieher über den schädigenden Einfluss des Kinematographen nicht mehr ab. Eingaben von der „Schweiz. Vereinigung für Kinder- und Frauenschutz“ (27. April 1912), von dem „Christlichen Verein junger Männer“ in Zürich-Aussersihl (27. Mai 1913) und von 70 Lehrern und Lehrerinnen aus dem Kreis IV (26. Mai 1913) wurden beim Regierungsrat und der Justizbehörde eingereicht. Die Kantonale Justiz- und Polizeidirektion reagierte darauf mit dem Erlass eines totalen Verbotes der Kinobesuche für Jugendliche unter 15 Jahren, äusser für besondere Jugendvorstellungen, ohne mit dem Verbot strafrechtliche Bestimmungen verbinden zu können. Die in diesem Jahre (1912) angeklagten Kinematographenbesitzer, welche Kindern unter 15 Jahren den Zutritt gestattet hatten (in einzelnen Fällen waren die Kinder drei bis vier Jahre alt), wurden freigesprochen. Das sozialdemokratische Volksrecht vom 4. Januar 1912 entwirft in einem Artikel „Kinematograph und Schule“ ein düsteres Bild:

Eine Lehrerin J.H. teilt mit: „Ich habe mir das Geschehen beschreiben lassen; es wurden durchwegs Morde, Selbstmorde, Unglücksfälle vorgeführt oder dann sinnlos dummes Zeug. Ungefähr die Hälfte meiner zweiten Klasse war schon bei solchen Vorführungen, darunter einige Schüler, die mir schon durch ihre Nervosität und Unlust zum Arbeiten aufgefallen sind. Ich erkläre mir jetzt diese Erscheinungen aus der Ueberreizung der Nerven und dem unruhigen Schlaf, wie diese nach solchen Darstellungen leicht begreiflich sind.“ Ein Lehrer der fünften Klasse, U.F., schreibt: „Ein Knabe sagte aus: Gestern ging ich, wie schon oft, in den Kinematograph H. an der .. .Strasse. Der Portier sagte mir, ich solle hinter einem Mann hergehen, sonst werde ich nicht hineingelassen. Ich tat es. Ich gab dem Manne das Geld, damit er für mich ein Billett kaufe.“ [...] Ein Lehrer der dritten Klasse, R.H., berichtet: „Von 26 Knaben besuchen 22 die,Kini‘, und zwar 12 ohne Begleitung Erwachsener. Viele (50 Prozent) Knaben verwenden alle ihre Rappen für dieses Vergnügen.“ [...] Ein Lehrer [...] H.H., schreibt: „[...] Viele Schüler besuchen häufig Vorstellungen, zum Beispiel über zwanzigmal während des Winters, in den Ferien fast jeden Tag. Andere Schüler gehen auch abends nach dem Hort, also nach 7 Uhr. Die Kinder erzählten namentlich von Räubergeschichten, Eisenbahnunfällen und von humoristischen Darbietungen mit sehr unwahrscheinlichen Handlungen. Viele Kinder scheinen stark erregt zu werden.“

Die öffentlich geführte Diskussion um die schädigenden Einflüsse des Kinos auf Jugendliche wurde während des Ersten Weltkrieges unterbrochen. Das Gesuch der Brauerei am Uetliberg im Jahre 1920 für den Betrieb eines zweiten Kinos in der Gemeinde Oerlikon (das erste, das „Colosseum“ mit 270 Sitzplätzen, war 1912 eröffnet worden) löste sie abermals aus.

Der zweite Kinematograph

Auf die Prüfung des Gesuches vom 21. Mai 1920 um die Bewilligung zur Umwandlung des Saalgebäudes der Brauerei und der eingereichten Pläne trat der Gemeinderat nicht ein, sondern wies die Petentin wegen mangelnden Bedürfnisses nach einem solchen Theater kurzerhand ab. Ein Aufruf „Protest gegen das Kino-Unwesen“ und gegen die Errichtung weiterer Kinos in den Gemeinden Oerlikon, Seebach, Schwamendingen und Affoltern wurde innerhalb eines Monats von 2 387 Männern unterschrieben und als Initiativbegehren vom Gemeinderat Oerlikon beim Kanton eingereicht. Der Regierungsrat musste sich in der Sitzung vom 11. Dezember mit dem Fall, der durch Rekurs der Gesuchstellerin immer noch hängig war, befassen. In seiner Argumentation bezog er sich auf das Gesetz über das Markt- und Hausierwesen aus dem Jahre 1893, welches der Ortspolizei ausdrücklich das Recht erteilt, die Bewilligung von Schaustellungen zu verweigern, worunter besonders Menagerien, Panoramas, Bildergalerien, Karussels, Schauspieler, Sänger, Musikanten, Kunstreiter, Seiltänzer, Taschenspieler etc. verstanden wurden. Dazu zählte der Regierungsrat weiter nicht nur die Wanderkinos, sondern auch die ständigen Kinotheater. Und wenn schon zur Zeit der Entstehung des Gesetzes über das Markt- und Hausierwesen das Bedürfnis vorhanden war, die „Befriedigung der Schaulust zu regulieren“, so sei das heute in weit grösserem Masse der Fall (aus dem Protokoll des Regierungsrates, Sitzung vom 11. Dezember 1920). „Im Hinblick auf das öffentliche Wohl“ sollte die Errichtung von Kinematographen der gleichen Ausnahmestellung wie Wirtshäuser unterworfen werden (Bedürfnisklausel). Das Schweizerische Bundesgericht, das den Fall in letzter Instanz zu entscheiden hatte, fasste den Betrieb eines Lichtspieltheaters als Gewerbe auf, das „grundsätzlich, und zwar in jeder Beziehung, den Schutz der Gewerbefreiheit“ geniesse. Der Rekurs der Gesuchstellerin wurde daher gutgeheissen und der Entscheid des Regierungsrates des Kantons Zürich vom 11. Dezember 1920 aufgehoben (Urteil vom 23. März 1921).

Die Enquête

Am 11. Januar 1921 hatte die Polizeidirektion des Kantons Zürich das Jugendamt des Kantons „um Mitteilung von Beobachtungen über den Einfluss der Kinos auf die Kriminalität der Jugendlichen“ gebeten. Im Streitfall gegen die beim Bundesgericht rekurierende Brauerei sollte ein durch den Staatsapparat produziertes Wissen aufgeboten werden. Das Jugendamt entsprach acht Tage später in einer breit dokumentierten Antwort dem Gesuch. Es halte schwer, schrieb der Vorsteher in einem die einzelnen Erhebungen begleitenden Brief, „heute absolut schlüssige Beweise für die direkte schädigende oder gar tatauslösende Wirkung des Kinos auf unsere Jugendlichen zu erbringen.“ Gefährlicher aber sei der blosse indirekte Einfluss des Kinematographen. Er verleite zum flüchtigen Beobachten, zur Oberflächlichkeit, zerstöre die Fähigkeit zur Konzentration und zur inneren Vertiefung des Erlebten und Geschauten, stumpfe ab und zerstöre die Nerven, wecke die Begierde nach Luxus und Reichtum, nach Macht, leiste der Verspottung von Liebe, Treue, Ehe, Ehrlichkeit, Arbeit und der Verherrlichung des Vergnügens und des Nichtstuns Vorschub, vergifte die Phantasie und demonstriere endlich den Weg, der zum Verbrechen führe. Kurz: „Der Kino in seiner jetzigen Form darf nicht weiter bestehen, wenn nicht alle Arbeit an unserer Jugend ein dürftiges & klägliches Flicken bleiben soll.“

Dem Brief liegen die durch das Gesuch veranlassten Rapporte der Jugendanwaltschaft Zürich, Horgen und Winterthur bei, nebst einem Bericht des Sekundarlehrers Hs. Schälchlin in Zürich 7, der bereits im Herbst in der Korrekturanstalt Ringwil siebzehn Zöglinge befragt hatte. Ihm bot sich das folgende Bild:

Zögling A sehr häufig im Kino, besucht alle seines Quartiers; führt Mädchen hin, stiehlt Geld, um gehen zu können.

B häufig im Kino, stiehlt zu diesem Zweck.

C häufiger Kinobesuch, Geld unterschlagen dazu. Unter Kameraden unterhielten wir uns immer über die neuesten Kinostücke.

I) (aus dem Kt. Appenzell) kein Kino, verwahrlost.

E (wohnt auf dem Lande Kt. St. Gallen)

F von der 6. Kl. an besuchte ich den Kino häufig. 1 Jahr in der Lehre, nun pro Woche 4-5 mal im Kino, stiehlt überall. Als Lieblingsbeschäftigung gibt er K’besuch an. Verbrecher. Einbruchsmethoden vom Kino.

G in der arbeitslosen Zeit meistens im Kino, mit Kameraden.

H (Appenzeller) kein K., verwahrlost.

J in der arbeitslosen Zeit schlendert er herum, besucht Kino.

K zieml. häufig im Kino.

L ich dachte nicht daran, Arbeit zu suchen. Immer im Kino & Variete. Mindestens 4-5 m. pro Woche. Ich besuchte alle Kinos der Stadt, kannte alle Programme.

M häufig Kino, besonders Detektivgeschichten liebte ich.

N Kino & Variété mit Mädchen, unterschlägt Geld dazu.

O Kino sehr häufig, beinahe alle der Stadt.

P Kino gern.

Q Kino häufig, unterschlägt Geld dazu.

R Kino sehr gern, besonders Detektivgeschichten. Stiehlt im Laden Geld, um zu gehen.

Zusammenfassend:

Von 17 Fällen 14 gute Kinobesucher = 82,3 %.

Die Jugendanwaltschaft Winterthur hat eine umfassende Liste von Fallen, bei denen das Kino in irgend einer Form hineinspielt, zusammengestellt. Aus der Akte Nr. 134 sei folgende Szene mitgeteilt: „Im Moment des Unglücks habe ich gar nicht gedacht, dass [die Pistole] geladen war. Wir machten einfach Spass, führten ein kleines Kinostück auf, indem Frau Schmid sagte, ich mache ein Gesicht wie Sherlock Holmes, worauf ich einige Faxen machte [...]. Ich bin mit Müllner fast alle Abende nach Feierabend in die Stadt gegangen, und oft waren wir im Kino." Und das Aktenstück Nr. 177 gibt die Aussage eines Vaters wieder, wonach sein Sohn in letzter Zeit nicht mehr recht pariere. Früher sei er sehr scheu gewesen, jetzt trete er frech auf, mit Mienen und Gesten, die er deutlich im Kino gelernt habe.

Die Jugendanwaltschaft Horgen hatte noch keine Gelegenheit, „grössere schädigende Einflüsse auf die Jugend festzustellen“, da der erste Kinematograph im Bezirk erst am 1. Januar 1921 eröffnet worden ist.

Aus Bülach liegt der Bericht über den Angeschuldigten R.B. vor, ein Zögling der Erziehungsanstalt Brüttisellen, der zugestanden habe, dass der häufige Besuch von Kinos, wozu ihm seine Mutter Gelegenheit verschaffte, den Grund und die Ursache für seine verbrecherischen Neigungen und Handlungen bildeten. Die zahlreichen „Mord- und Raubvorstellungen im Kino mit ihrem affectiösen Begleiterscheinungen“ hätten in ihm die Lust und den Drang nach Taten geweckt und zugleich sein Gewissen abgestumpft, wodurch er zum Dieb geworden.

Der Staatsanwalt Brunner nennt das Kino „das Theater der Jetztzeit“, wo „der grösste Teil der städtischen Bevölkerung seine Schaulust befriedigt.“ Die arbeitsmüden und haltlosen Elemente jeder Bevölkerungsklasse würden durch Reichtum, Grosstun, pflichtenlosem und oberflächlichem Leben angezogen und fühlten sich in ihrer Schwäche bestätigt und anerkannt und glaubten endlich, ein solches pflichtenloses, oft abenteuerhaftes abwechslungsreiches Leben ohne strenge Pflicht & Konzentration existiere wirklich, was den Entschluss zu Abenteuer, Unterschlagung und Diebstählen erleichtere (Staatsanwalt Dr. Zürcher). Dass bei jungen Leuten „die Umsetzung der Phantasieerzeugnisse in Nachahmung, zuerst im Spiel und allenfalls auch im Ernst, rasch von sich geht, bedarf keiner weitern Erörterung“ (Jugendanwaltschaft Winterthur). Besonders für „sittlich gefährdete Menschen“ verwische sich durch das Bemühen der Darsteller (manch einer sei ein Künstler in seinem Fache), auch dem „schwersten Verbrechen [...] eine ästhetische Seite abzugewinnen“, die Diskrepanz zwischen Theater und Wirklichkeit (Staatsanwaltschaft Zürich).

Soviel steht für sie fest: Der Kinematograph vermittelt ein falsches Abbild von der Wirklichkeit und zugleich ein gefährliches Wissen (Einbruchsmethoden usw.). Die Zerstörung und Fragmentierung einer symbolischen Ordnung, in der die bürgerliche Gesellschaft zu erkennen ist, geschieht nach dieser ideologiekritischen Denkfigur durch die Schwächung des Vermögens, zwischen der Realität und seinem täuschend ähnlichen Abbild, welches der Kinematograph entwirft, zu unterscheiden. Die Evidenz des Geschauten verleitet zur Imitation: Man möchte es ebenso machen. Zu diesem Modell einer kausalen Verknüpfung von visueller Vorgabe und tätiger Aneignung treten belegbare Tatbestände wie Zeitverschwendung und Beschaffungskriminalität: Der Kinematograph wird in der arbeitslosen Zeit von den Jugendlichen besucht, und die Sucht, dieses falsche Abbild rezipieren zu müssen, verleitet, um in den Besitz der Mittel zu gelangen, die den Besuch des Kinos voraussetzen, zu kriminellen Handlungen.

Konklusionen

Die Medien kommen und gehen, die Argumente, die gegen ihre angebliche Schädlichkeit angeführt werden, bleiben sich gleich. In seinem Vortrag „Was kann die Kirche tun zur Bekämpfung der schlechten Literatur und zur Verbreitung guter?“ (1903) erwähnt Pfarrer H. Andres den Fall eines jungen Burschen in Berlin, dem nicht weniger als neun Brandstiftungen zur Last gelegt worden seien, deren Ursache sich in der Lektüre des berüchtigten Romans Der Scharfrichter von Berlin nachweisen liess. Und am 7. Januar 1988 las man auf dem Zeitungsaushang eines Boulevardblattes folgenden Text: „Killer-Buben: Brutalo- Videos vor dem Mord!“ Die paradigmatische Verknüpfung von Vorher und Nachher antwortet auf die Frage, wie es denn geschehen konnte. Hinter diesem Erklärungsdruck verbirgt sich nicht etwa eine aufklärerische Neugierde, sondern eine vielmehr konservative Faszination belegbarer Tatsachen. Dem trägen Argumentationsmuster haben sich auch die neuen Fakten anzubequemen.

Es gab aber auch andere Stimmen, die sich der Meinung der Kinogegner nicht anzuschliessen vermochten. In einer Zuschrift im Tages-Anzeiger (12. Dezember 1912) wird bis anhin der Nachweis über den ungünstigen Einfluss des Kinomatographen auf die Psyche des Kindes vermisst, und es wäre, heisst es dann weiter, „wohl auch schwierig, überhaupt einen solchen zu leisten“, es sei denn, man stelle einfach auf die Aussagen der kleinen Delinquenten ab, „die eben nun einmal mit Vorliebe sich als Opfer des Kinematographen bedauern lassen.“ Und weiter:

Vielen Leuten gefällt es nun aber einmal, die Ursachen der Kriminalität und ihrer Zunahme in entfernten Dingen zu suchen, weil man es gerne verschweigt, dass die Verschlechterung der allgemeinen Lage, die Erschwerung der Lebenshaltung und überhaupt die Verschlimmerung aller Lebensumstände mit Naturnotwendigkeit eine Vermehrung der Vermögensdelikte nach sich ziehen müssen.

Das klingt vernünftig. Wie aber sind die Warnungen der Kinogegner zu verstehen; sind sie nun einfach falsch, oder sprechen sie, freilich auf eine uneingestandene Weise, über die eigene Erfahrung mit dem Kinematographen? Die Texte, die so vehement gegen das Kino sich wandten, belegen ein grosses Verständnis für seine Struktur, wenn auch nicht für seine Bedeutung.

Für die Anschauung des Bildes zerstört der Film, was der klassischen Ästhetik zufolge wesentlich ist: die Distanz. Und gerade an der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweise von Bildern haben sich die zivilisatorischen Leistungen der Triebregulierung und der Triebkontrolle zu bewähren.

„Das Groteske, Burleske, die ewigen, unglaublichen Hetzjagden zu Pferde, Automobil, in der Eisenbahn, auf dem Fahrrade, zu Fuss, in einer Tonne, auf einer Kugel, fördern die Lust am Fratzenhaften u. Lächerlichen u. schaffen Unlust zum Geniessen edler Kunstwerke“ (Stichwort „Kinematograph u. Schule“ im Lexikon der Pädagogik, 1921).

Und in der Eingabe des „Christlichen Vereins junger Männer“ in Zürich-Aussersihl vom 27. Mai 1913 heisst es, die kinematographische Vorführung unterbinde „die Fähigkeit zu ruhigem Denken und Betrachten und zu besonnenem Handeln“. Ein Dr. B. begreift in seinem Referat „Der Kinematograph und seine Gefahren“ das Phänomen folgendermassen: Bei dem raschen Wechsel der Erscheinungen ist das Volk, das stundenlang in den finsteren Räumen sitzt, nicht mehr im Stande, zwischen dieselben Sinn, Verstand und Zusammenhang zu bringen. Die Gewerbepolizei der Stadt Zürich gab sich aus derlei Überlegungen heraus über die Ankündigung einer neuen Erfindung, des Taglichtkinematographen, erfreut. Die ganze Handlung bei Tageslicht erschiene dann dem Zuschauer als das, „was sie ist — ein unwahrscheinliche Mache, die ernüchtert und nicht die Sinne reizt“ (Protokoll Polizeivorstand; 21.11.1912).

Während das schlechte Buch noch gelesen und im Kopf verarbeitet werden musste, entfällt hier alle Arbeit. Der Kinematograph „spielt sich in aller Nackt heit und Abscheulichkeit wie ein wirkliches Geschehnis vor den Augen der Besucher ab und prägt sich als Erlebnis in aller Schärfe dem Fühlen und Denken ein“ (Memorial an die Kantonsregierungen der Schweiz, 14. Dezember 1912). „[...] und es braucht gar keine Anstrengung; sich hinsetzen und die Augen auftun, das ist alles“ (Schweiz. Vereinigung für Kinder- und Frauenschutz, 27. April 1912). Für Dr. H. Hanselmann verlangt „der Kino von uns am allerwenigsten irgendwelche verstandesmässige Arbeit. [...] Andere denken, rechnen, messen und zählen für uns, wir schauen ihnen nur zu.“

Das schockartige Erleben des schroffen Wechsels durch die Montage, das Aneinanderreihen der verschiedensten Bilder zerstört endlich „die Einheit des Geistes“ (Lexikon der Pädagogik, 1921). Diese Ideologie einer gesellschaftlichen Befriedung muss absehen von der bedeutsamen Analogie zwischen der durch den kinematographischen Apparat erzwungenen Unterbrechung des Assoziationsablaufes des Betrachters und seiner alltäglichen Erfahrung. „Der Film“, schreibt Walter Benjamin, „ist die der betonten Lebensgefahr, in der die Heutigen leben, entsprechende Kunstform. Er entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparats-Veränderungen wie sie im Massstab der Privatexistenz jeder Passant im Grossstadtverkehr, wie sie im weltgeschichtlichen Massstab jeder Kämpfer gegen die heutige Gesellschaftsordnung erlebt.“

Literatur

Carl Brühschweiler: Zürichs Aufstieg zur Grossstadt. In: Adressbuch der Stadt Zürich. Zürich 1925.

Die Protokolle des Polizeivorstandes befinden sich im Stadtarchiv Zürich (Polizeiakten. Akten betreffend das Kinematographenwesen; Signatur: V Ec 39)

E. Steinemann: Kinotheater und Kinobesuch in Zürich. In: Zürcher Statistische Nachrichten Nr. 2 (April/Juni 1936)

Lesch: Der Kino im Kultur- und Rechtsleben der Gegenwart. Zusammenfassendes Typoskript (Sozialarchiv Zürich; Signatur: 70 10)

Material zum Kinematographen in Oerlikon befindet sich im Staatsarchiv des Kantons Zürich (Signatur: O 44)

H. Andres: Was kann die Kirche tun zur Bekämpfung der schlechten Literatur und zur Verbreitung guter? Vortrag gehalten am Instruktionskurs für kirchliche Liebestätigkeit in Zürich den 12. Oktober 1903. Separatdruck aus: Schweizerisches Protestantenblatt.

Ernst M. Roloff (Hrsg.): Lexikon der Pädagogik. 2 Bände. 2. Auflage. Freiburg i.B. 1921. Die verschiedenen Eingaben gegen den Besuch der Kinematographien durch Kinder befinden sich im Staatsarchiv (Signatur: O 44)

B.: Der Kinematograph und seine Gefahren. In: Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit 6 (1921), S. 6777.

Walter Benjamin : Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung. In: Gesammelte Schriften. Band I, 2. Hrsg, von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1974.

Alfred Messerli
ist Publizist in Zürich. Unteranderem Herausgeber von Flausen im Kopf, Schweizer Autobiographien (Zürich: Unionsverlag).
(Stand: 2019)
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