CATHERINE SILBERSCHMIDT

DIE VERNUNFT DER TRIEBE

ESSAY

Der Holocaust hatte überhaupt keinen Einfluss auf die Politik, weder in Israel noch sonst irgendwo.

Yeshavahu Leibowitz

Faschismus ist das Auslöschen des Anderen. Ingeborg Bachmann

Ein lauer Sommerabend Ende der fünfziger Jahre. Ich tummle mich mit meinen älteren Brüdern im elterlichen Garten als unser Gejohle jäh unterbrochen wird: »Du Saujude bist schuld, dass meine Mutter gestorben ist«, schreit eine Frau. Die verzweifelte Beschimpfung gilt meinem Vater, Arzt und Gemeinderat - eine angesehene Persönlichkeit - im ländlichen Dorf am Zürichsee. Es war die ebenso ohnmächtige wie bedrohliche Wut in der Stimme dieser Frau, die mich beunruhigte. Mein Vater erklärte mir dann, dass seine Patientin alt sei, und dass alle alten Leute einmal sterben und dass ihre Tochter eben traurig sei. Damals erfuhr ich auch, dass mein Grossvater, den ich nicht mehr gekannt hatte, Jude war, und dass mein Familienname ein jüdischer Name ist. Dies kümmerte mich weiter nicht, und ich vergass die Episode schnell. Erst einige Jahre später, als ich mit vierzehn Jahren zum ersten Mal alleine ins Ausland — nach München — reiste, wurde ich unvermittelt mit der in meiner Familie mehr oder weniger tabuisierten Geschichte der Angehörigen meines Grossvaters konfrontiert. Ich besuchte einen Cousin meines Vaters, den wir Kinder so gerne mochten, weil er so herzlich lachen konnte. Manchmal überbordete sein Lachen, was meinen gestrengen Onkel, den ältesten Bruder meines Vaters, regelmässig zur Weissglut trieb, so dass die Harmonie an den alljährlich stattfindenden Familientreffen des öftern durch einen lautstarken Streit getrübt wurde. Die beiden Kontrahenten waren nur mit grosser Mühe zu besänftigen, und es gab Jahre, da blieb mein geliebter Onkel aus München dem Treffen fern. Als ich ihn dann besuchte, erzählte er mir - von seinem überbordenden Lachen unterbrochen — das, worüber am schweizerischen Familientisch nie geredet wurde. Sein Vater, ein hoher Staatsbeamter, verstarb 1939 an einem Herzinfarkt, nachdem er aus sämtlichen Gremien ausgeschlossen worden war und ihn plötzlich niemand mehr kennen wollte. Seine Mutter, die Schwester meines Grossvaters, ist in der Schweiz aufgewachsen. Ihr wurde - im Gegensatz zu ihrer Familie (mein Grossvater hatte das Unmögliche versucht) - von der schweizerischen Fremdenpolizei die Einreise in unser Land gestattet. Sie kam jedoch nicht, weil sie »bei ihren Kindern bleiben wollte«. Ein Wunsch, der nicht in Erfüllung ging. Zwei ihrer Kinder starben in Dachau - die Mutter in Theresienstadt. (Wie, das wage ich mir nicht vorzustellen. Man kann es in Primo Levis autobiographischem Bericht Ist das ein Mensch? nachlesen.) Nur den beiden Söhnen gelang es, gerade noch rechtzeitig ins brasilianische Exil zu fliehen. Mein Onkel kehrte zurück. Erhielt als Jurist eine Wiedergutmachungsstelle beim bayrischen Landgericht und realisierte bald, dass sich in seiner Heimat nicht viel geändert hatte: eine Beschwerde, die er in den frühen fünfziger Jahren gegen seinen antisemitischen Vorgesetzten erhob, hätte beinahe mit einer Ehrverletzungsklage geendet.

Bereits 1950 stellte der aus dem amerikanischen Exil in die BRD zurückgekehrte T. W. Adorno fest: »Unterdessen gilt bereits an Auschwitz zu erinnern für langweiliges Ressentiment«, und wenige Jahre später: »Dass die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen, ausartete, rührt daher, dass die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten.« Inzwischen sind drei Jahrzehnte vergangen - jährt sich der Kriegsbeginn zum 50. Mal — wird bei uns die grosse Feier der Mobilmachung vorbereitet - schon dampfen die Würste und lärmen die teuren Kampfflugzeuge. Und schon sehe ich all die feurigen Patrioten die fahnengeschmückten Rednertribünen besteigen und die Gefahr einer Schweiz ohne Armee beschwören. Die Blochers und wie sie alle heissen, diese überaus tüchtigen Geschäftsmänner und tapferen Warner vor den unverschämten Asylantinnen, die allein wegen des Geldes in unser Land kämen. Die Forderung der Frauen für den Frieden, die budgetierten 6,5 Millionen Franken in die Friedensforschung zu investieren, eine Feier zur Mobilisierung einer Armee, das habe man noch in keinem andern Land gesehen, verhallt - mitleidig belächelt - in der behördlichen Vorbereitungseuphorie. Nur der nicht mehr aufzuhaltende Asylantenstrom aus der Dritten Welt, will nicht ins helvetische Geschichtsbild passen. Die Art und Weise, wie Beamte und Beamtinnen in Erfüllung ihrer vom Schweizervolk erhaltenen Pflicht mit diesen Menschen und ihren Schicksalen umgehen, erinnert daran, dass Schweizer Soldaten, wenn nicht gegen deutsche Truppen, so doch gegen deutsche Juden und andere zigtausend vom Tode bedrohte Flüchtlinge eingesetzt wurden, um die Unglücklichen daran zu hindern, unsere Grenze »illegal« zu passieren. Das »J« ist eine Erfindung von Dr. Heinrich Rothmund, Chef der in den dreissiger Jahren anlässlich des drohenden Sturms rund um das helvetische Boot gegründeten schweizerischen Fremdenpolizei - ob auch sie ein Jubiläum feiern wird? Das »J« im Pass der deutschen Juden ermöglichte immerhin die freie Einreise der übrigen deutschen Staatsbürger in jener krisengeschüttelten Zeit. Denn das »J« wurde erfunden, um die erwünschten deutschen Gäste nicht mit einer lästigen Visumspflicht belasten zu müssen. Im Gegensatz zu den heutigen Asylantinnen, deren Schicksal nach der Ausschaffung in den meisten Fällen unbekannt bleibt, wussten die Schweizer Behörden spätestens ab 1941, dass abgewiesene Angehörige einer nichtarischen Rasse - sie galten als »nicht politisch verfolgt« und deshalb als nicht asylwürdig, wie übrigens die Kurdinnen heute auch - in den Genuss der »Endlösung« kamen, d.h. mit fast hundertprozentiger Sicherheit in den Tod geschickt wurden. Wieviele Tausend es damals waren, wieviele es heute sind, lässt sich nicht eruieren. Dennoch - auch heute steht zur Diskussion, die illegal einreisenden Asylantinnen gleich wieder abzuschieben und nur den wenigen privilegierten Inhaberinnen eines gültigen Passes die Möglichkeit zu geben, überhaupt in unserem Land ein Asylgesuch zu stellen. So das Ziel der vor kurzem in den Medien vorgestellten »Migrationspolitik« der neunziger Jahre (mit diesem Euphemismus bezeichnen die Verantwortlichen neuerdings eine sich von Jahr zu Jahr inhumaner gebärdendere Asylpolitik). »Die Sprache gewährt ihm [dem Faschismus] Asyl; in ihr äussert das fortschwelende Unheil sich so, als wäre es das Heil«, schrieb T. W. Adorno in seinem 1964 publizierten Jargon der Eigentlichkeit, «... der des Jargons Kundige braucht nicht zu sagen, was er denkt, nicht einmal recht es zu denken: das nimmt der Jargon ihm ab und entwertet den Gedanken.« Wie lange kann es sich die Schweiz noch leisten, mit ihrem humanitären Ich-Ideal im Ausland zu prahlen und so den Asylantinnenstrom mitzuverantworten, um den Asylsuchenden dann, sobald sie in unser Land kommen, das wahre helvetische Ich zu zeigen?

Ich glaube nicht an die aufklärerische Wirkung von den meisten Filmen und Fernsehsendungen über das Dritte Reich, wie etwa die sechsteilige amerikanische Holocaust-Serie, die vor fünf Jahren über den Bildschirm flimmerte. Mit pädagogischen Fingerzeigen und dem Aufzählen von Fakten lässt sich eine von allen Beteiligten unbewältigte Vergangenheit nicht verstehen. Dass man in der Schweiz ein Verbot gegen Gewaltdarstellungen per Strafgesetzartikel erlassen will, zeigt, wie hierzulande Verleugnung von heute real existierender Gewalt betrieben wird. Man zensuriert aktuelle Bilder und schliesst damit die Augen vor dem, was man nicht sehen will. Verleugnung von Scham über begangene und Erniedrigung durch erlittene Gewalt erzeugen die von Adorno diagnostizierten »objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen«, die den Faschismus auch heute ermöglichen. Wird der im Nationalrat zur Zeit diskutierte Strafgesetzartikel angenommen, so dürfte ein Film wie Krizstof Kieslowkis Kurze Geschichte über das Töten nicht mehr unzensuriert im Kino gezeigt werden, obwohl der polnische Regisseur eine einmalige Studie über Aggression, Tod und Staat realisiert hat. Hier wird keine konsumierbare Gewalt gezeigt, sondern Gewalt so brutal inszeniert, dass die Zuschauer sowohl zu Opfern (des Schocks) als auch zu Tätern (als Voyeure) werden. Da bringt ein junger Arbeitsloser auf bestalische Art und Weise einen unschuldigen Taxichauffeur um, aus Rache für den Tod seiner Schwester, und weil er sein Auto haben will und am Ende wird der Täter selbst Opfer von Gewalt, von Staatsgewalt. Er wird gehenkt. Kieslowski verschont die Zuschauer vor keinem Detail, jedes Bild beängstigt, durch Perspektive, Schnitt und Schauplatz. Dem privaten Mord folgt der staatliche. Dem illegalen der legale. Bilder des Grauens und des Schreckens, denen man sich nur durch Schliessen der Augen entziehen kann. Keine Psychologie. Ein Brutalo in Reinkultur, ohne Happy-End, ohne Feindbild des Täters. Dem Regisseur geht es ausschliesslich um das Sichtbarmachen von Destruktionstrieb und Aggression, die Menschenleben auslöschen. (Eine Tatsache, die jeder noch so grausame Fernsehkrimi durch die distanzierende Ästhetik verleugnet; am Bildschirm wird zwar abendelang gemordet, aber nicht gestorben.) Kieslowskis Film macht die Zuschauer zu Zeugen, Opfern und Mittätern. Eine kurze Geschichte über das Töten provoziert keine Affekte, sondern Reflektion auf Affekte. Etwas, das Dokumentarfilme über das Dritte Reich kaum ermöglichen, auch wenn darin eine Zeit dokumentiert wird, in der unter Ausschaltung sämtlicher Tabus das Ausleben des baren Sadismus zum rechtmässigen Handeln im Dienste des Staates resp. des Führers erklärt wurde. Obwohl Kieslowskis Film in der Gegenwart spielt, bietet er somit Einblick in die Vergangenheit.

»Manchmal frage ich mich«, sinniert eine zierliche alte Dame, die ich vor dem Gorillagehege des Berliner zoologischen Gartens antreffe, »wer eigentlich gefangen ist, die armen Gorillas oder die, die sie einsperren.« Die betagte Rentnerin, die jeden Tag ihre Gorillafamilie besucht und jede Regung der Tiere zärtlich kommentiert, erzählt mir die Geschichte des Berliner Zoos, wie hier Raubtiere durch den Krieg gefüttert wurden, als die Berliner Bevölkerung kaum mehr etwas zu Essen hatte. Wie der Tiergarten später von den Allierten bombardiert wurde, und wie die überlebenden Tiere in den Ruinen der ausgebombten Reichshauptstadt umherirrten bis sie erschossen oder eingefangen wurden. Gleichentags wird im Kino Arsenal - anlässlich der diesjährigen Berlinale — ein Dokumentarfilm über das Ghetto in Lodz gezeigt, ein Film, der einmal mehr beweist, dass man noch nicht alle Greuel und Exzesse ahnt, die im Dienste der Rassenhygiene verübt worden sind. In der anschliessenden Diskussion möchte der Regisseur, ein Nachkomme eines Überlebenden, gerne wissen - etwas naiv, aber keineswegs moralisch - was der Film bei der deutschen Nachkriegsgeneration auslöst. Es stellt sich heraus, dass ausser dem Diskussionsleiter kein einziger Deutscher anwesend ist.

Etwas konsterniert frage ich meine deutschen Freunde später, wie sie sich diese Abwesenheit erklären. Während die einen sich ereifern über das ständige bombardiert werden - seit 1983, dem Jahrestag der Machtübernahme Hitlers - mit Dokumenten aus der Nazizeit, erzählt mir eine Bekannte, wie sie sich vor allem im Ausland ständig angehalten fühle, sich zu entschuldigen, ja nicht aufzufallen. So habe sie den Silvester in Paris mit Freunden in einem Restaurant verbracht, sie hätten sich allerdings nicht getraut um Mitternacht aufzustehen und sich in ihrer Muttersprache ein gutes neues Jahr zu wünschen inmitten der französischen Gäste. »Ich habe es immer für den Inbegriff moralischer Verwirrung gehalten, dass sich im Deutschland der Nachkriegszeit diejenigen, die völlig frei von Schuld waren, gegenseitig und aller Welt versicherten, wie schuldig sie sich fühlten, wohingegen nur wenige der Verbrecher bereit waren, auch nur die geringste Spur von Reue an den Tag zu legen. Dergleichen wie kollektive Schuld oder kollektive Unschuld gibt es nicht; der Schuldbegriff macht nur Sinn, wenn er auf Individuen angewendet wird«, stellte die deutsche Philosophin Hannah Arendt fest, nachdem spätestens mit den Nürnberger Kriegsverbrecher Prozessen klar wurde, dass es keine überzeugten Anhänger gegeben hat, weil auch noch die höchsten Verantwortlichen der Greueltaten behaupteten, sie hätten nur Anweisungen von oben befolgt, dem Führer gehorcht, und dieser hatte sich ja bekanntlich nach dem Scheitern seiner Träume vom tausendjährigen Reich durch Selbstvergiftung der Rechtfertigung seiner Ideologie entzogen.

»Wo Schuld entstanden ist, erwarten wir Reue und das Bedürfnis der Wiedergutmachung. Wo Verlust erlitten wurde, ist Trauer, wo das Ideal verletzt, das Gesicht verloren wurde, ist Scham die natürliche Konsequenz«, schreiben Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrer bis heute unübertroffenen Analyse der deutschen Unfähigkeit zu trauern (1967). Anstelle von Reue, Trauer und Scham konstatierten sie bei Deutschen, die in aktiver oder passiver Art und Weise an der Judenverfolgung beteiligt waren, nur Unfähigkeit zum Mitgefühl und Verleugnung. Der unwahrscheinlichen Hemmungslosigkeit der Triebe und dem sie begleitenden Denkverbot der in den Führer verliebten Masse folgte das grosse Vergessen und der wirtschaftliche Aufschwung, begleitet von Depression und Melancholie über das verlorene Liebesobjekt, verloren im doppelten Sinne, der Führer war physisch tot, und man durfte ihn auch nicht mehr verehren. Nur die kleine Marianne wehrt sich in Marianne Rosenbaums Film Peppermint Frieden, als ihr Vater, der aus dem Krieg zurückgekehrte Lehrer, auf behördliche Anweisung hin sämtliche Hitlerporträts aus den Schulbüchern entfernt. »Einen Führer nur«, fleht sie ihren pflichtbewussten Vater an. Doch sein Pflichtbewusstsein verbietet es ihm, seiner Tochter diesen Wunsch zu erfüllen. Peppermint Frieden bleibt für mich einer der ganz wenigen bedeutenden in der BRD entstandenen Filme zum Thema Vergangenheitsbewältigung, weil er äussere und innere Realität verknüpft und auf der ödipalen Ebene, anhand der Beziehung zwischen den Eltern und ihrer kleinen Tochter die Ambivalenz von Pflichterfüllung und Gefühl sichtbar macht. Es ist einer der wenigen Filme überhaupt, in denen Deutsche nicht als reine Opfer oder Täter, sondern als Subjekte ihrer Geschichte dargestellt werden. Ein Film, der Tabus bricht und Reflektionen über die moralisierenden Geschichtslektionen hinaus ermöglicht. Denn die quälenden Selbstanklagen der 68er Generation blockieren die Auseinandersetzung über das, was geschehen ist, durch eine oft bedingungslose Identifikation mit den Opfern. So wie sich die Mütter und die Väter einst mit den Tätern identifiziert haben, so machen sich die Söhne und Töchter zu bedingungslosen Anwälten der Verfolgten gegen die Verfolger, die ja nun auch ihre Eltern waren. Wie tief die Beziehung zwischen Eltern und Kind durch die Geschichte beeinträchtigt wurde, zeigt die Berliner Regisseurin Maria Lang in ihrem experimentellen Film Familiengruft - ein Liebesgedicht an meine Mutter. Ein Bild aus dem Familienalbum: die Mutter, die Kinder, daneben der Vater in Uniform der deutschen Wehrmacht, dazu der Kommentar: »Das ist eine Familie, Vater, Mutter, Sohn ...« Dann zeigt sie ihren Vater beim Schlachten eines Kaninchens und kommentiert, »mein Vater kann keiner Fliege etwas zuleide tun, sagen die Nachbarn. Trotzdem war er im Krieg,« - und schon versetzt der Mann dem Tier den tödlichen Schlag ins Genick. Auf subtile Art bringt Maria Lang an dieser Stelle ihres Films persönliche Harmlosigkeit mit Staatsgewalt zusammen.

Die Zeichen verschwinden. Mit dem Prozess gegen Klaus Barbie ist wohl einer der letzten Prozesse gegen einen hohen Nazi über die Bühne gegangen. Der französischen Regierung war dieser Prozess peinlich, man fürchtete nicht nur um den guten Ruf der Résistance, sondern auch die Verärgerung der deutschen Freunde, kurz vor der Realisierung des grossen Vereinigten Europas. Als der Regisseur Marcel Ophuls Geld suchte für seine brisante Spurensicherung, die über den Nationalsozialismus hinaus den Faschismus aus allen nationalen und historischen Festlegungen befreit, fand er es in Europa nicht. Finanziert wurde das Dokument schliesslich von amerikanischen Juden. Gezeigt wird darin, wie Barbie nach Kriegsende vom amerikanischen Geheimdienst als Kommunistenjäger in Bayern angeheuert wird, bevor er mit Hilfe des Vatikans nach Bolivien geschleust wurde, wo er unter falschem Namen seine Fähigkeiten als Verhörspezialist in den Dienst von rechtsradikalen Regierungen stellte und sein Geld ausserdem mit Drogen- und Waffenschiebereien verdiente. Ophuls Film erschreckt, weil er Verleugnung, Verdrängung und eine unglaubliche Gleichgültigkeit dokumentiert. Hohe Gestapo-Offiziere sind heute zu jung gebliebenen Rentnern geworden, einer von ihnen überrascht das Kamerateam im Hausflur, als er gerade leger gekleidet in elegantem Rollkragenpullover und Lederpantoffeln seine Zeitung aus dem Briefkasten nimmt. Von Ophuls angesprochen, verdeckt er sein Gesicht mit der Zeitung und beruft sich auf den Respekt der Menschenrechte. Der Ton des Films ist sarkastisch, der Regisseurs wollte, »boshaft, Menschen dazu zu treiben, sich darzustellen, ihre Lügen vorzuzeigen.« Ganz verbindlich und emotional wird der viereinhalbstündige Film erst zum Schluss. Da kehrt Ophuls mit einer inzwischen vierzigjährigen französischen Jüdin, die im Barbieprozess aussagte, in ihr Heimatdorf, einem Vorort von Lyon zurück. Vor ihrem Haus, das sie seit der Deportation ihrer Familie ins deutsche KZ — sie war damals achtjährig — zum ersten Mal wiedersieht, erzählt sie, wie ihre Eltern von der Concierge denunziert worden waren, dann geht sie ins Haus und bleibt vor der verschlossenen Tür im ersten Stock stehen: »Und hier hat Madame X... gewohnt, und als uns die Gestapo abholte, öffnete sie die Tür und zog mich in ihre Wohnung, vergeblich - sie wurde zusammengeschlagen, und mich nahmen sie mit.« Dieser Nachbarin widmet Marcel Ophuls Hotel Terminus, nach Shoa wohl das zur Zeit wichtigste Dokument zum Thema.

Catherine Silberschmidt
ist freie Journalistin in Zürich.
(Stand: 2019)
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