PIPILOTTI RIST

FLÜSTERN IM KISSEN EIN BISSCHEN WISSEN

ESSAY

Takt 1

Das schöne Öhrchen mit dem sanft gestülpten Rändchen. Gegen die Sonne gesehen leuchtet dieses Trichterchen orangerot. Dazu der goldene Flaum drauf. Wenn ich das Ohrläppchen lutsche, es - schlüpf - loslasse, liegen die Härchen noch wenige Sekunden ein bißchen dunkler auf der Haut geklebt. Mit der Zunge ins Ohr stechend, veranstalte ich das Getöse einer Riesenwelle, da bin ich mir sicher. Der nahe Atem bedeutet einen 300metrigen Flug über das dunkle Feld. Ein geflüstertes Wörtchen am Öhrchen und die Zentimeter um mich wachsen zu einem immensen Kirchenschiff.

Takt 2

Die Ohren und die Poren, die Netzhaut und das Trommelfell

Die Verwandtschaft von taktilem und audiellem Empfinden ist meine Gotte. Sie bleibt von der Taufe bis zum Begräbnis. Wie das Wasser auf der Haut abperlt - so tönt sein Geplätscher, - so das Gemurmel meiner Geschwister. Das Schaben, Kratzen, Kneten der Haut haben ihre genauen entsprechenden Töne, die ich weder mit Bildern, noch weniger mit Worten erklären kann (je ich Arme!). Darum der Ton. Der Superton. Die Gelenkschmerzen bei Fieber spielen mir die hohen Töne, während ich den durchsichtigen Formen, die auf der Hornhaut herumschwimmen, zuschaue. In traurigen oder übermüdeten Momenten höre ich alles schriller und höher. Die Amplitude ist verändert. Die höchsten Töne bieten sich bei Blasenentzündung, die ganze Nacht. Verzeihen Sie mir die Auswahl von nur schmerzhaften Beispielen für den Fact, daß das Hören derartig wild daherkommt wie die Welt des Taktilen. Das Chaos und die Komplexität des Körpers, seiner Haut (mit Poren, Härchen, Fältchen) und seiner Säfte sind den Wundern der akustischen Welt so verdammt ähnlich. Sehen Sie sich die bizarren Amplituden an! Was dem Ohr und den Schleimhäuten (Geruchsinn) gemein ist, sie können uns beim unverhofften Auftritt um Jahre in bekannte Stimmungen und Zeitphasen zurückkatapultieren. Wenn ich jetzt unverständlich sein möchte, sage ich noch, es handle sich hier bei der Symbiose von Ton-Ohr und Bild-Auge um die Astralmenge. Aber ich will nicht unklar sein - darum mache ich Video und auch weil ich nicht unverbindlich sein will. Positiv formuliert: Ich hau die Sonne in den Computer, nähe das Vogelgezwitscher auf das Magnetband!

Takt 3

Der Ton ist die Hälfte

Wie Sie wissen, lieben wir das Medium Video neben seinem tollen Wunderleuchten für seine Kompaktheit. Wie in einer kleinen Handtasche hat alles Platz. Da hat alles Platz, was uns interessiert: monströse miese fiese fließende Bilder, Aktion, Ästhetik, Schuld und Befreiung, Technik, Arbeit (etwas durchziehen), Freude, Sex und Liebe, und eben Musik, Sprache und allerlei Geräusche. Wenn ich das Videoband fertig hab, bin sehr froh, Ihnen eine Speise für Ohr und Aug auftischen zu können. Meine Videos sind meine Kinder, die nie in die Pubertätskrise kommen. Die Bildschirme sind mein Radio und die Lampe drauf. Natürlich besteht die Gefahr, daß ich den Draht zu den Menschen verliere, weil die Maschinen und Werkzeuge meine Geschwister sind und ich mit ihnen rede. Sie lassen mich nicht im Stich, und wenn, dann sagen sie mir warum, und ich bin Ihnen nicht böse. Sie sind mir eine große Hilfe für meinen schwachen Körper. Meine Geschwister: Die Dusche, der Mischer, die Kamera, die Haarbürste, der Synthesizer, der Verstärker, der Monitor, das Kabel, das Tonband, der Pomadenstift, der Rekorder und der Printer. Ich bin halt nun jetzt mal hier (Askese, Bescheidenheit). Wo ist der Anfang des Körpers? Sind es die Aus- oder Eingänge? Die Ohren, Nasenlöcher, Poren mit und ohne Haare, die Harnröhre, die Augen, Scheide, der Mund, das After oder die Nasenlöcher?

Takt 4

What

Die Verfügbarkeit von Bildern hinkt in ihrer zeitlichen Potenz hinter der des Tones nach. Ganze 48 000 Informationen pro Sekunde sind für die elektronische Aufzeichnung eines hörbaren Tons nötig. Für dieselbe Zeitspanne „Bild“ (Videoauflösung) brauche ich 200mal mehr Informationen, oder in digitaler Hinsicht, 200mal mehr Speicherplatz. Die Erzeugung von Bildern ist nur zeitlich schwerfälliger. Erhält das Hirn akustische Signale, baut es sich mit auch nur spärlichen Geräuschen, Tönen oder Tonfolgen ganze Räume und Stimmungen auf. Das Ohr scheint schneller. Ich könnte auch sagen, das Ohr ist schneller zufrieden. Das Auge ist schwerer einzulullen, es ist skeptischer oder dümmer. Es ist unselbständiger. Es will überzeugt werden. Als Beispiel folgendes Problem: Zu einer bestehenden Tonsequenz sollen live Bilder (bewegte) kreiert werden. Umgekehrt kennen wir das, entweder von Musikuntermalungen mit Instrumenten oder von verschiedenen interaktiven Versionen, wie z. B. des polnischen Künstlers Wojciech Bruszewski, der Saugnäpfchen an den Monitor klebte, welche je nach Helligkeit des Bildes simple Töne erzeugten, oder auch in moderneren Zeiten die Versionen mit der realzeitlichen Verfügbarkeit über komplexe Töne (midigesteuerter Sampler). Will ich nun aber, wie sich das Problem stellt, live Bilder zum gegebenen Ton liefern, steh ich mit dem Pinsel oder Grafikcomputer belämmert da (ich helfe mir mit ein bißchen Duftstoff). Bei aller Konzentration kann ich in der gewünschten Zeit nur sehr einfache Bilder liefern (was ganz nett sein kann). Der gewünschte realzeitliche Zugriff auf komplexe Bilder bedingt ein clever geordnetes Reservoir an digital gespeicherten Aufnahmen (Harddisk oder Bild-CD), diese Speicherbox müßte aber eben 200mal größer sein als die der Musikerin. Das kann keine Künstlerin zahlen. Auch die andere Variante ist molto caro. Da wird’s langsam spannend, da wird’s langsam gerecht. Ich hätte gern noch eine Saftbox (Computer), der ich Antworten auf zu erwartende Töne und Geräusche programmieren könnte, z. B. bei jedem Gis in der 3. Oktave soll immer eine hellblaue Struktur von links nach rechts fließen, oder bei allen kleinen Terzen soll das Bild rückkoppeln. Die Möglichkeiten hole ich aus einer weiteren Saftbox, die diese Befehle (Effekte) ausführt. Die Wahl der Sequenzen wird ebenfalls durch den Ton getätigt. Das will ich basteln. Das Auge sei dem Ohr Untertan!

Takt 5

Ich spule jetzt zurück,

mache ein Standbild, das gibt’s beim Ton nicht. Die kürzeste Länge eines noch hörbaren Tons (sehr unterschiedlich bei verschiedenen Frequenzen) ist circa eine 0.02 Sekunde. Das ist dann aber erst ein minimer Pips. Komplexere Töne oder Tonfolgen und Geräusche brauchen ihr Zeitchen, um erfaßt zu werden (das tönt gescheit, ist aber trotzdem wahr). Die kürzeste Erfassungslänge eines Bildes hängt natürlich ebenfalls von seiner Einfachheit oder Bekanntheit ab, das gilt auch für das bewegte Bild. Es ist einfacher Bilder zu bestehendem Ton (vorzugsweise Musik) zu schneiden. In dieser Arbeitsreihenfolge bietet sich dir dauernd die Überraschungsmagie. Versuchen Sie die Kombination des stummen Fernseher mit dem Radio. Merken Sie, wie sich die bewegten Sequenzen der Musik anpassen, wie die Wahrnehmung sie verschmelzen? Das ist mein Lieblingssport. Nachträgliche Vertonungen schließen mehr Diskussionen mit ein.

Takt 6

Ein mieses Bild eines regnerischen riesigen Parks in Nord-London und der Ton des Windes, als dort durch die nassen Blätter,

und dann - man ist ganz hin, man freut sich enorm. Der Wind mühlt sich durch das Gras. Zuhause. Das Bier steht im summenden Kühlschrank. Über das braungebrannte Sims, der Birnbaumblütenduft, mein kleiner Onkel in der Wiege schreit, weit hinten die Kuhglocken. Wohin gehen die Glocken? Ich dachte nicht, daß ich außer mir bin. Die Dimensionen eines Kolibris und eines Elefanten spielen zusammen, wenn ich den See der ausgeschütteten Milch aufschlürfe. Ich bin ein Trampeltier von Dame. Ich warte nicht auf die Einöde, den Sturm des klaren Tones. Der Computer summt (ein bißchen anders als der andere).

Der Jump in die Luft (1). Der Speichel fliegt durch die Umgebung und umhüllt die Körper (2). Wer buddelt wie wild im Sand am Strand? Das himmlische Kind, das himmlische Kind (3). In der Wiederholung liegt das Heil. In der Wiederholung liegt das Heil. Der Jump in die Luft (4) . Der Kuß. Der Kuß.®*/65879+8= = 00 548$=777777ƺƺ°°°©Ω†®π∅#¿¿ƺff®† ~ °-A-j∆ # ❵ Ω °®∫©TM°+ † || Ǚε Die Küsse. ÇTMε ≠ǜ] |❴❵ °°© ε∆∅j ≠892π§‘ååååßƺ∫ ©°°° ∆–∅ æ yxY=≋©⟩∫~~ų --------------- ∅∅∅∅∅°°j®❵❴≠❴∅°°√∫~∫~©√∫~ ~ ų« (5). Gelbes-weißes-gelbes-weißes-gelbes- weißes-gelbes-weißes (6). Schneefelder Schneefelder Schneefelder, Steppe bis in den Orient (7). Nach Osten nach Westen nach Norden nach Süden (8). Alles ist gut. Dank Blut dank Blut (9). Der brutale Schrei kugelt sich rapid (10) den Wänden entlang (11): „Mama, Mama, Mamaaaaaaaaaaaaaa“ (12). Hier sind gereifte Früchte in Person (13). Niemand kann den kleinen Tod, die gültige Zersplitterung (14) abwehren, der die Vergoldung durch Wilde Aktionssequenz, gegen Ende ruhig, Ton ist kursiv, (1) REAL HALBTOTALE, Luftsprünge auf einer Waldlichtung, slow motion, Staccatoschnitt auf (2) REAL MAKRO, Haut in Schweiß gebadet, ruhige Baßlinie, FAHRT, Adern entlang, überblendet in nasse Schleimhäute, Staccatoschnitt auf (1), summende Frauenstimme (als wär’s Mami), Mischung mit (3), der Satz von einem Kind gesprochen, PAINT, Zeichnung, animiert, Schüsse retour, (4) REAL HALBTOTALE, Rückblenden, Luftsprünge an verschiedenen Orten des täglichen Lebens, slow motion, süchtigmachende Töne, (ß) REAL MAKRO, Küsse, Hautquetschung, -reibungen (Oberarme, Unterschenkel, Nasen ...) gemischt mit (6) PAINT, Zeichnung, Animation, Strukturen in Colorcycling, Atmung als Rhythmus, (7) REAL, Fahrten durch Landschaften, dazu gestanzt, ständige Wiederholung von 3 Takten Cooljazz, (8) PAINT, Zeichnung von Weltall, Sternen und Erde, animiert, Überblendung auf (9) REAL, Blutfluß, Blubber, (10) menschlicher Schrei mit starkem Hall, PAINT, visuell umgesetzter Ton gestanzt auf (11) REAL BEWEGTE KAMERA, den Wänden des Raumes entlang, Zeitraffer, Schrei kreist stereo, (12) REAL MAKRO, schnelle FAHRT über Zähne und Lippen, simulierter Ton wie man eigene Töne im eigenen Kopf hört, (13) REAL CLOSE UP, Früchteparade schnellgeschnitten auf REAL NORMAL OBJEKTIV, deckungsgleich mit Köpfen, Schultern und Gesäßbacken, Grillengezirpe, (14) Lieblingslied, REAL, rasante Tunnelfahrten überblendet mit (15) PAINT, glühendes Gold in Farben verwechselnd, fließend, vielstimmiger Frauenchor, (16) REAL, Wasserfall, Realton, (17) viele bunte Säfte (15) am kühlen Bergbach liegend (16) folgt. Sie haben sich beim Namen genannt (17).

PAINT, Schriften rollen über REAL, geschlossene und offene Augenlider, you call my name.

Wie schon Anna Blume sagte: Können Frauen denken?

Pipilotti Rist
geb. 1962, aufgewachsen im Rheintal, macht Video (u.a. Sexy Sad I, 1987; Japsen, 1989, zusammen mit Muda Mathis), Grafik, Installation und Musik, lebt in Basel.
(Stand: 2019)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]