MICHAEL BELTRAMI

ABSCHWEIFUNGEN ÜBER FILMSCHAUSPIELER

ESSAY

Prolog

Das Wort „Filmschauspieler“ wurde schon sehr früh Teil meines Wortschatzes. Als ich ein Kind war, führten meine Eltern ein Hotel in einem bekannten Winterkurort. Oft vermischten sich die langen Winternachmittage, an denen ich am Fernsehen alte Filme anschaute, mit Augenblicken von Mondänität, verursacht durch die Anwesenheit berühmter Gäste. Es waren Schlagersänger, Leute vom Fernsehen und Filmschauspieler, welche „mein“ Haus zu ihrem Ferienort erwählt hatten. Ich erinnere mich, wie Gina Lollobrigida die lange Treppe zu den oberen Stockwerken des Hotels mit hüfteschwingender Eleganz hinaufstieg und um die Ecke im Korridor verschwand. Und ich erinnere mich, wie mein Hund Scout mit seinem lauten Bellen eine berühmte Figur des italienischen Fernsehens in Angst und Schrecken versetzte. In meinem Labor im Keller drehte ich meine ersten Amateurfilme in Super-8, indem ich Bilder der Hollywoodstars aus Illustrierten ausschnitt und damit Geschichten inszenierte.

Jahre später befand ich mich auf dem Flughafen Milano-Linate und wartete auf meinen Flug nach Rom, wo ich mir auf der Suche nach einer Filmschule das Centro Sperimentale anschauen wollte. Es war sechs Uhr morgens, und die wenigen Leute in der Wartehalle schlenderten ziellos von einer Anzeigetafel zur anderen, wie Automaten, denen die Energie auszugehen droht. Ich ließ meinen Blick schweifen auf der Suche nach einzelnen Figuren, um sie - wie ich das in solchen Situationen oft tue - zu Protagonisten einer meiner kleinen fantastischen Geschichten zu machen. Plötzlich blieb ich an einer Person hängen, die mir bekannt vorkam. Allein: Name und Zusammenhang wollten mir nicht einfallen. Diese Gesichtszüge, dieser ganz spezielle Ausdruck eines in sich gekehrten „Outsiders“ waren mir vertraut. Der Mann saß etwas abseits auf einem Stuhl. Er las aus einigen losen Blättern und bewegte dazu seine Lippen. Offensichtlich hörte er dazu etwas durch die Kopfhörer seines Walkmans. Ich versuchte, mich zu erinnern. Natürlich, das ist er. Aber nein, das ist unmöglich, was sollte er denn hier in Italien und zu dieser Stunde? Jedoch - da war das unverwechselbare Mal auf seiner Wange - es handelte sich ohne Zweifel um Robert De Niro! Ich setzte mich ein wenig näher zu ihm hin und beobachtete ihn aufmerksam. Selbstverständlich - so dachte ich - ist das, was er in Händen hält, ein Drehbuch, und mit dem Tonbandgerät memoriert er den Text. Unglaublich: Es war Robert De Niro.

Kurz darauf bemerkte er mich und schaute mich hart und drohend an. Mit einer ärgerlichen Geste gab er mir zu verstehen, daß ich mich entfernen solle, daß er nicht gestört werden wolle. Zwar eingeschüchtert, dabei aber den vollkommen Gleichgültigen mimend, drehte ich mich von ihm weg. Gekränkt ob solcher Arroganz, fragte ich mich, wer dieser De Niro eigentlich zu sein glaubt. Dann läßt es mich aber doch nicht los: Was mag es wohl sein, das er da rezitiert? Vielleicht gehörte das alles ja zu seiner neuen Rolle, was er da las, also auch seine Blicke und Gesten. Das war nicht er selber, das war ...

Das Schicksal wollte es, daß wir uns im selben Flugzeug nach Rom wieder begegneten. Er saß allein in der „business dass“, ich in der „economy“. Außer mir schien niemand ihn erkannt zu haben. Auch im Bus, der uns nach der Landung auf dem Flugplatz Leonardo da Vinci zum Terminal fuhr, stand er noch immer allein und hielt das Drehbuch in der Hand. Ohne abzulesen, sprach er leise vor sich hin. Er stand mit dem Rücken zum Hinterfenster, sein Blick war noch immer drohend, und seine abweisende Haltung war deutlich: er wollte alleingelassen werden. Außerhalb des Flughafens sah ich ihn ein Taxi besteigen, das schnell davonfuhr.

Später erfuhr ich, daß Robert De Niro in Rom war, um in einigen Szenen von Once Upon a Time in America von Sergio Leone in den Studios von Cinecittà zu spielen. Jahre später sah ich den Film, und ich war mir nun sicher, daß jener, dem ich auf dem Flughafen begegnet war, nicht Robert De Niro war, sondern Noodles, die Rolle, die er in Once Upon a Time in America verkörperte.

Dank dieser Episode entdeckte ich die Methode, jene besondere Technik, die der Schauspieler, Regisseur und Theoretiker des russischen Theaters, Konstantin Stanislawski, entwickelt hatte und die vom Actor’s Studio von Lee Strasberg und von so großen amerikanischen Filmschaupielern wie Marlon Brando, Al Pacino, Dustin Hoffman und Robert De Niro - um nur einige zu nennen - übernommen wurde. Die Methode, die, vereinfacht gesagt, dem Schauspieler dazu verhilft, zur Rolle zu werden, statt sie zu interpretieren. Und tatsächlich können jene, die sich der Methode bedienen, nicht mehr aus ihrer Rolle heraus - auch dann nicht, wenn der Regisseur „stop“ gerufen hat. Erst durch das Einstudieren einer neuen Rolle schafft es der Filmschauspieler vom Charakter der alten loszukommen. Um eine Vorstellung zu geben vom Unterschied zwischen einem Schauspieler, der die Methode anwendet, und einem Schauspieler, für dessen Arbeit sie keine so entscheidende Rolle spielt, möchte ich an folgende Episode zwischen Dustin Hoffman und Laurence Olivier während der Dreharbeiten zu Marathon Man erinnern. Es wird erzählt, Dustin Hoffman habe vor der Szene, in der er und Laurence Olivier aufeinandertreffen, mehrere Nächte nicht geschlafen. In dieser Szene war Hoffman dem nazistischen Henker (Olivier) ausgeliefert, der ihn mittels eines Zahnbohrers quälte. Hoffman kam zitternd vor Müdigkeit und mit Ringen unter den Augen auf das Set. Besorgt fragte Olivier, was mit ihm los wäre. Hoffman versicherte, es ginge ihm gut, er habe seit einigen Tagen nicht mehr geschlafen, um für diese Szene im richtigen Zustand zu sein. „Warum beschränkst du dich nicht darauf, deine Rolle zu spielen?“ fragte der überraschte Olivier, der seinerseits derlei Techniken nicht bedurfte, um seine Kunst auszuüben.

Die Methode ist an den amerikanischen Filmschauspielschulen die verbreitetste Technik, die angehende Filmschauspieler und Filmschauspielerinnen erlernen. Ich selber habe Schulen besucht, wo die Methode die Bibel war. Eigenartigerweise habe ich mich jedoch immer mit den Studierenden am wohlsten gefühlt, die sich dieser völligen Hingabe an ihre Rolle verweigerten. Die Schwierigkeit bei der Arbeit mit einem zur Rolle gewordenen Filmschauspieler besteht darin, daß dieser die Anweisungen und Vorschläge eines Regisseurs, die nicht mit seinem Rollenverständnis übereinstimmen, oft nur widerwillig akzeptiert. Als Verkörperung seiner Rolle führt er sich selber, er will nicht geführt werden. Dabei sollte sich doch das Spiel auf der emotionalen Ebene entwickeln. Jeder Filmschauspieler, dem es gelingt, mich gefühlsmäßig anzusprechen und zu ergreifen - mit oder ohne Methode - erfüllt seine Aufgabe. Obwohl ich das Handwerk der Schauspielerei erlernt habe, um mich besser in die Filmschauspieler versetzen zu können, habe ich mich in meiner Arbeit als Regisseur doch zuweilen gefragt, ob ich nicht meine eigene Methode erfinden müßte, um mich besser in der Arbeit mit ihnen auseinandersetzen zu können.

Auf der Suche nach einer Methode

Im Laufe meiner beruflichen Ausbildung (die noch andauert) hatte ich Gelegenheit, Filmschauspieler verschiedenster Nationen kennenzulernen. Ich versuchte jeweils herauszufinden, welches die geeignete Methode wäre, um mit ihnen zu arbeiten. Aber es lief immer darauf hinaus, daß ich eine bestimmte Methode der spezifischen Persönlichkeit, dem besonderen Charakter des Schauspielers anpassen mußte. Ich mußte versuchen, ihn zu verstehen, um herauszufinden, wie ich mich ihm verständlich machen konnte, ohne dabei den Film selbst, den eigentlichen Zweck unserer Beziehung, aus den Augen zu verlieren. Während meiner Ausbildung lernte ich weniger, wie man sich mit Schauspielern zu benehmen hatte, als vielmehr, wie man eben nicht mit ihnen umgehen sollte. Und wenn der Lehrer dabei selber Filmschauspieler war, hatte das eine lähmende Wirkung auf uns angehende Regisseure. Statt Respekt flößte uns der „Schauspieler-Lehrer“ Angst ein. Wie soll es der Regisseur anstellen, einen Schauspieler zu beeinflussen, ohne daß dieser sich persönlich angegriffen fühlt oder es so aussieht, als zöge man seine Kunstfertigkeit in Zweifel? Das Problem ist nicht zu unterschätzen. Oft sind Szenen zu drehen, in denen die Schauspieler zu Marionetten reduziert werden. Die technische Seite des kinematographischen Mediums, etwa die Notwendigkeit, den Bildausschnitt zu definieren (und damit zu begrenzen), die Fußmarkierungen oder die durch die Kamerabewegung diktierten Anweisungen zu respektieren, schließen fast immer jene Ausdrucksfreiheit aus, die dem Filmschauspieler eigentlich zustehen sollte. Kino ist nicht Theater, und nur die erfahrensten, das heißt also die auf die Situation gut vorbereiteten Filmschauspieler, vermögen mit ihrem Spiel eine Figur zu gestalten, indem sie sich intuitiv den Gegebenheiten der kinematographischen Situation anpassen. Nur in seltenen Fällen findet eine völlige Symbiose zwischen Filmschauspieler und Filmaufnahme-Instanz statt. Das erklärt meine Liebe zu solchen Szenen, in denen Schauspieler ihren Fähigkeiten freien Lauf lassen und damit oft ihr Bestes geben, oder auch daran scheitern können. Weil es diese Momente sind, in denen eine gleichwertige Beziehung zwischen dem Schauspieler und dem, was wir die „Aufnahme-Instanz“ genannt haben, entstehen kann. Die Beziehung zwischen Schauspieler und Regisseur sollte eine der gegenseitigen Inspiration sein. Geschieht es nicht oft, daß ein Regisseur eine bestimmte Vorstellung darüber hat, wie eine Szene zu spielen ist, während der Schauspieler die Szene auf eine andere, bessere Weise entwickelt und so eine konstruktivere Lösung vorschlägt? Wenn es eine Methode gibt, die mich nicht stört oder einschränkt, dann die, dem Schauspieler zu vertrauen und ihn arbeiten zu lassen. Deshalb ist es falsch, wenn man als Regisseur um jeden Preis konsequent sein will und dem Schauspieler jede Kleinigkeit vorschreibt, ihm sagt, wie er durch jene Tür eintreten muß, wie er zu gehen und wie er sich zu setzen hat. Der Schauspieler ist ebensosehr Autor seines eigenen Auftrittes, wie der Regisseur der Autor seiner Inszenierung ist. Das eine sollte das andere nicht behindern. Die Schwierigkeit, die der Regisseur hat, den Schauspieler arbeiten zu lassen und ihn nicht in das Gefängnis des technischen Labyrinthes einzuschließen, ist ähnlich der Schwierigkeit, die der Schauspieler mit dem Überwinden solcher gegebener Begrenzungen hat. Zweifellos verlangt die Suche nach einem solchen Gleichgewicht viel Fingerspitzengefühl. Da bei der Zusammenarbeit auch zwischenmenschliche Beziehungen und Gefühle mitspielen, kommt es immer wieder vor, daß man den eigentlichen Zweck der Arbeit aus dem Auge verliert und das eigene Ego zum Zünglein an der Waage wird.

Im Grunde hasse ich alle Methoden, weil oft gerade die wechselseitigen Erwartungen von Schauspieler und Regisseur an die Methode - diesen trait d’union zwischen den beiden Parteien - Mißtrauen und Angst erzeugen. „Was soll das? Dieser Regisseur weiß doch gar nicht, was er eigentlich will!“ Diesen Ausruf habe ich mehr als einmal gehört; er war an einen Regisseur gerichtet, dem ich assistierte. Dabei hatte ich durchaus den Eindruck, daß er sehr genau wußte, was er wollte. Es fiel ihm aber schwer, sich den Schauspielern verständlich zu machen, ihnen zu erklären, daß er die Szene so und nicht anders haben wolle. Aber alle Filmemacher wissen sehr wohl, wie schwierig es ist, das zu inszenieren, was vorerst nur als Phantasie in unserer Vorstellung vorhanden ist. Zu Beginn ist es nur der Regisseur, der klare Vorstellungen und eine vollständige Vision seines Filmes hat. Die Schauspieler, die nur eine vage Vorstellung davon haben, orientieren sich instinktiv innerhalb der einzelnen Szenen, als ob jede Szene ein kleiner Film für sich wäre. Durch die heutigen Produktionsbedingungen bleibt für eine intensive Vorbereitung auf den Stoff durch den Schauspieler nur wenig Zeit. Regisseur und Filmschauspieler begegnen sich zuweilen erst wenige Tage vor Drehbeginn. Vertrautheit des Regisseurs mit der Materie allein genügt nicht. Er muß sich in die psychologische Dynamik seiner Umgebung einfühlen können. Es versteht sich, daß dabei dem Schauspieler das hauptsächliche Augenmerk zukommt.

Ich glaube, daß aus diesen Gründen die geglücktesten Filme von Leuten realisiert werden, die sich untereinander gut kennen, miteinander vertraut sind. Wenn junge Regisseure ihre ersten Filme machen, sind oft Freunde und Verwandte involviert, und die Rollen sitzen ihnen wie angegossen.

Dies finde ich auch bei meinem ersten Film Bella? bestätigt. Tatsächlich aber würde ich diese Vorgehensweise nicht wiederholen, denn auch bei der Arbeit mit Freunden und Bekannten stellen sich unweigerlich Schwierigkeiten ein, vor allem die, daß sie eben keine Profis sind. Auf jeden Fall war es ein spannendes Experiment, denn in allen Menschen steckt etwas, das sie befähigt zu spielen, und ich lernte paradoxerweise die Beteiligten gerade beim Rollenspiel besser kennen und verstehen. Im Grunde sind wir alle Schauspieler, bestrebt, unsere Rollen immer besser zu spielen. Es ist ja bekannt, daß soziale und berufliche Positionen, bzw. das Erlangen derselben, auch auf den darstellerischen Fähigkeiten jedes einzelnen beruhen. Vor allem in der Welt des Filmes, wo Beziehungen und Kontaktfreudigkeit so essentiell sind, ist eine gewisse Gewandtheit in der Selbstdarstellung unerläßlich. Nicht zufällig hat gerade Woody Allen den Film Zelig geschaffen, dieses perfekte Beispiel der menschlichen Anpassungsfähigkeit (natürlich bis ins Extreme gesteigert). Je zerbrechlicher ein Individuum ist, um so mehr weiß es sich in tausend Formen darzustellen - wie jener berühmte Held der tausend Gesichter. Und darum ist es nicht erstaunlich, daß alle wirklich großen Filmschauspieler äußerst fragile Persönlichkeiten sind. Wenn der Schauspieler zusätzlich auch noch eine Berühmtheit ist, wird die Situation um so komplizierter. Er hat sich eine Art Sonderstatus erarbeitet, und jede falsche Bemerkung wird er als Angriff auf genau diesen Status empfinden.

Sinnbildlich dafür ist in diesem Zusammenhang die Geschichte meiner Begegnung mit einem meiner Helden aus der Kindheit, mit Glenn Ford. Ich hatte ihn für seine Gerechtigkeit und Unbestechlichkeit bewundert. Äußerlich eher zerbrechlich und schwach wirkend, strahlte aus ihm heraus eine innere Kraft.

Nach mehreren mißglückten Versuchen gelang es mir endlich, einen Interviewtermin mit ihm in seinem Haus in Beverly Hills zu bekommen. Ich arbeitete an meinem Dokumentarfilm Our Hollywood Education und hoffte, das Interview in Form eines freien Dialoges und ohne einengende Strukturen gestalten zu können. Meine Mitarbeiter und ich langten beim Tor von Fords Haus an. Das Haus befand sich inmitten eines Gartens, der von einer Mauer und hohen Bäumen umschlossen war. Durch das Gitter konnten wir ein Automobil ausmachen, auf dessen Regenschutz Laub lag. Wir klingelten und warteten aufgeregt. Das Tor begann sich langsam zu öffnen. Wir fuhren mit unserem Auto hinein, und während wir die Auffahrt entlang rollten, die uns zum Haus brachte, mußten wir unweigerlich an Sunset Boulevard von Billy Wilder denken. Wer erwartete uns in diesem Haus? Vielleicht Nora Desmond? Beim Haus angelangt, klingelten wir wieder. Eine rauhe Stimme antwortete: „Warten Sie bitte einen Augenblick.“ Die Türe wurde geöffnet, und zu meiner Überraschung empfing uns Glenn Ford selbst, der im Morgenrock dastand und uns hereinbat. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr auf der Leinwand gesehen und hatte ihn eher jünger in Erinnerung. Wenige Zentimeter vor mir stand unverkennbar Glenn Ford, den Eindruck erweckend, „auf alt geschminkt“ zu sein, und mich beschlich das seltsame Gefühl, anstelle eines menschlichen Wesens eine Wachsfigur vor mir zu haben. Das gleiche eigenartige Empfinden erlebte ich schon einmal bei Papst Giovanni Paolo II. Kaum zu fassen, eine Persönlichkeit, sonst nur von Bildern, vom Fernsehen oder Film bekannt, in Wirklichkeit vor sich zu sehen. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß es sich tatsächlich um Glenn Ford und nicht um eine Figur aus einem Film handelte.

Er wirkte sehr offen und entgegenkommend. Er entschuldigte sich für einen Augenblick, um sich umzuziehen. Wir nutzten die Zeit, um uns einzurichten, setzten die Lichter und stellten die Kamera auf. Alles geschah leise wie in einer Kirche, und tatsächlich erschien uns das Innere des Hauses, wenn auch nicht wie eine Kirche, so doch wie ein Museum. Überall hingen Photographien mit Widmungen von Filmstars, Trophäen, Medaillen und Diplome. Wir atmeten die Luft des wahren Hollywood. Mr. Ford erschien im Trainingsanzug und bat uns, ihn nicht in der Nähe der Bar zu filmen. Wir begannen mit dem Interview. Die erste Frage stellte keine Probleme, denn sie betraf den fortdauernden Erfolg, den er genoß bzw. noch genießt. (Die Frage des Gebrauchs von Präsens oder Vergangenheit tauchte im Verlauf des Interviews immer wieder auf.)

Hier ist vielleicht Zeit für eine Zwischenbemerkung: Wir sprachen weiter oben von der Methode und davon, die Psychologie eines Schauspielers zu studieren, und von der Verletzlichkeit. Das Gespräch mit Glenn Ford wurde zu einem Musterbeispiel dafür, daß sich eine bestimmte Methode nicht einfach beliebig auf jeden anwenden läßt. Tatsächlich hat meine Methode in Gesprächen mit Leuten wie Oliver Stone oder Sally Kirkland funktioniert. Sie funktionierte aber nicht bei Ford. Ich glaubte, eine so offene und freundliche Person hätte keinerlei Schwierigkeiten, über die negativen Seiten eines Lebens als Filmschauspieler in Hollywood zu sprechen. Wir hätten allerdings seine eingangs geäußerte Bitte, ihn nicht in der Nähe der Bar zu filmen, als ein Zeichen seiner Fragilität deuten müssen. Denn als ich ihn fragte, ob er nicht den Eindruck habe, etwas in Vergessenheit geraten zu sein, wurde mir die Unmöglichkeit eines wahren Dialoges mit einem Schlag bewußt. Er weigerte sich, auf diese Frage zu antworten. Und er weigerte sich auch bei der nächsten und bei der übernächsten. Wir unterbrachen das Interview, und ich fragte ihn ganz direkt, ob es denn einen Sinn hätte, weiterzumachen. Er schien das aber sehr zu bedauern und fragte mich, ob es mir denn recht wäre, wenn er mir von seinem Haus und seinen Freunden erzählen würde. Etwas enttäuscht willigte ich ein. Es war kein Dialog mehr, sondern ein Monolog. Er begann von Humphrey Bogart, William Holden, Rita Hayworth, Judy Garland, Charlie Chaplin zu erzählen und wie sie die Abende in seinem Haus zu verbringen pflegten. Unerwarteterweise bekam ich dann aber genau das von Glenn Ford, was ich mir gewünscht hatte. Ohne ihn dazu gedrängt zu haben und deshalb auch viel eindrucksvoller und ohne Zweifel poetischer sprach Glenn Ford von seiner Einsamkeit und von der Vergangenheit. Vielleicht war er sich dessen nicht einmal bewußt, oder vielleicht war es einfach seine schauspielerische Intuition gewesen, die ihn noch einmal dem Film einen Dienst hat erweisen lassen.

erlegen und verwirrt durch das, was vorgefallen war, begriff ich einmal mehr, daß der Film erst dann seine wahre Größe erreicht, wenn es einem gelingt, die Spontaneität des Augenblickes einzufangen. Ich hatte Glück, und ich wußte es zu nutzen.

Mr. Ford verabschiedete sich von allen und bat mich, für einen Augenblick allein mit ihm zu bleiben. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die anderen weg waren, entschuldigte er sich und wollte, daß ich ihm ehrlich sagte, ob ich das von ihm erhalten habe, was ich wollte. Ich bejahte seine Frage. Wir schüttelten uns die Hände, und er kam mir nicht mehr wie eine Wachsfigur vor. Wir verließen den Park seiner Villa, und ich fand mich von neuem verwirrt, da ich wußte, daß ich in einem gewissen Sinn seine Intimsphäre verletzt hatte und, was noch schwerwiegender war, daß ich das öffentlich machen wollte, indem ich es für meinen Film verwendete. Mehrere Monate wußte ich nicht, was ich mit diesem Material anfangen sollte. Vom ethischen Standpunkt aus, schien es mir nicht recht, dieses Dokument zu benützen. Doch während des Schneidens des Films wurde mir die Bedeutung dieser Szene bewußt. Das Opfer, sie beiseite zu lassen, erschien mir zu groß. Mein Egoismus als Regisseur siegte über meine Empfindung der Diskretion.

Epilog

Kürzlich sah ich im Fernsehen eine Talk-Show. Carlo Rambaldi, der „Vater“ von E.T., erklärte dort, daß es heute möglich sei, einen ganzen Film nur mit dem Computer herzustellen, ohne Kamera, ohne Licht, ohne Tonband und ohne Schauspieler. Eine Schauspielerin, ebenfalls Gast in der Talk-Show, fragte besorgt, ob es denn zutreffe, daß man sich dank des Computers bestehender Bilder von z. B. Marilyn Monroe bedienen könne, um diese in immer neuen Filmen spielen zu lassen. Rambaldis Antwort: „Das alles ist möglich.“ Darauf sagte die Schauspielerin kein einziges Wort mehr. Doch sie hätte nicht so besorgt sein müssen, denn auch im Kino der Zukunft wird jeder diejenige Methode anwenden, die ihm zusagt.

(Aus dem Italienischen von Alfred Messerli und Franziska Osolin)

Michael Beltrami
Geboren 1962 in Köln. 1989 Abschluss als Filmemacher an der University of California in Los Angeles. Mehrere Erfahrungen als Regieassistent und Produktionsleiter in Europa und den USA. Seit 1993 arbeitet er als Regisseur von Dokumentationen mit dem Italienischen Schweizer Fernsehen (RTSI) zusammen.
(Stand: 2019)
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