PHILIPP JACQUES BAUR

ICH TUE, ALSO BIN ICH!

ESSAY

Paris und zurück

12. April 1960. Die Caravelle aus Zürich ist soeben gelandet. Ein Junge, zwölf Jahre alt, entsteigt gelassen der Maschine. Paris, was für ein magisches Wort. Von seiner Mutter freudig begrüßt, gibt er sich ganz weltmännisch, cool.

Da war sie nun, die Stadt der Lichter. Wie oft hatte er sich diese Begegnung vorgestellt, und jetzt war alles ganz anders, viel schöner. In Begleitung seiner Mutter war Jacques Gut, ein kleiner, quirliger Mann, seines Zeichens Architekt, Kunstmaler und Akademiker.

Zuerst ging es an die Avenue Montaigne in der Nähe der Champs-Elysées zu Besuch bei den liebenswürdigen Patrons seiner Mutter, die als Gouvernante arbeitete. Der alte Herr mochte den Jungen und stattete ihn mit reichlichen Mitteln aus, so daß er sich unbeschwert die neusten Schallplatten von Johnny Halliday kaufen konnte. Museen, aber auch das „Olympia“, wurden zu beliebten Ausflugszielen. Aber ebenso die Filmstudios, z. B. Billancourt. Jacques Gut nahm ihn mit zu seiner Arbeit. Der Junge staunte nicht schlecht, was da so alles echt und falsch war, was glänzte und im Schatten verborgen blieb. Filmstars, die ihm zulächelten, Regisseure und Bühnenarbeiter mit dem unvermeidlichen Mégot im Mundwinkel. „L’atmosphère, l’atmosphère“, hörte man Arletty von irgendwoher rufen.

Die Ferien gingen zu Ende, neue standen vor der Tür. Sie brauchte nur aufgestoßen zu werden, und da war es wieder. Ein Fest fürs Leben, wie Hemingway meinte.

Aus dem kleinen Jungen ist der Autor dieses Artikels geworden, geblieben ist er ein „Paysan de Paris“ Aragons.

Der rote Faden

Schattierungen, Kontraste, Perspektiven, Bewegung, Farben und Strukturen, Symmetrie oder Asymmetrie, Rücksteller oder Prospekt, Licht und Schatten, Kamerawinkel, Fahrten, Schwenker, Zoom, Goldener Schnitt, Innen oder Außen...

Bei der Durchsicht eines Drehbuchs erstelle ich sofort einige Scribbles. Zu ein oder zwei Schlüsseleinstellungen, die klar ersichtlich sind, fertige ich bereits Zeichnungen an, um nicht mit leeren Händen an die erste Produktionssitzung zu kommen. Hier die erste Einschränkung, die sich wie ein roter Faden durch die Arbeit ziehen wird: sofern genügend Zeit vorhanden ist!

Diese kleinen Ergüsse werden vom Buchhalter bis zur Telefonistin ausgiebig betratscht. Opposition auch von kompetenter Seite tut sich kund. In einem solchen Moment ist Durchsetzungs- und Überzeugungskraft noch nicht angesagt, denn es handelt sich lediglich um so etwas wie „Notizen“. Neue Scribbles und Zeichnungen werden angefertigt. Hat man sich nach langen und oft zermürbenden Sitzungen zusammengerauft, werden eine, zwei oder drei Totalansichten in Maßstab und Perspektive farbig aufs Papier gebracht. Die sorgen dann hoffentlich für gute Stimmung in der Runde. Zum ersten Mal sieht der Regisseur seine Ideen zeichnerisch umgesetzt. Davon werden Abzüge gemacht, der Bauplan wird angefertigt, und spätestens jetzt müssen das Atelier und die Bauleute reserviert, Türen, Fenster und Stellwände ins Studio transportiert werden. So langsam kommt alles in Schwung, die Zahnräder greifen.

Geld, Geld, Geld

Jede Produktion ist anders strukturiert. Oftmals gibt es aber Parallelen, die am häufigsten dort anzutreffen sind, wo wenig Geld oder gar keines vorhanden ist. Somit drängt sich ein kurzer polemischer Diskurs auf.

Die permanente Geldknappheit bedeutet einen Rückschritt in das „Cinema copains“, in die Jufi-(Jungfilmer-)Zeit. Fünfzehn bis zwanzig Jahre ist es her, und wir stehen wieder am Anfang! Da diskutieren ein paar Bauern in Bern über Kunst und Kultur, wie wenn es Gemüse wäre. Nur: Gemüse ist hochsubventioniert, wir aber gucken seit Jahrzehnten in die Röhre.

1976 haben dieselben Parlamentarier eine Arbeitslosenversicherung für Freischaffende verschlampt und behauptet, „da sei kein Handlungsbedarf“. Heute ist eine Mehrzahl der freischaffenden Filmer am Rande des Ruins. Was soll die Verankerung des Kulturartikels in der Bundesverfassung, wenn die „classe politique“ in Bern wieder einen „Filmriߓ inszeniert?

Wenn wir Filmer von der Sorge um die nackte materielle Existenz befreit wären, könnten wir uns endlich mit den „wichtigen und großen Themen“ (Prof. Alexander Bardini, Warschau) auseinandersetzen. Wir müßten uns nicht weiter mit kruden Alpensagen herumschlagen, da seit Fredi M. Murers Höhenfeuer eh alles hervorragend gesagt ist!

Vom Makro- in den Mikrobereich

Zum eigentlichen Beispiel einer sechsteiligen Fernsehserie. Der Mitarbeiterstab für a) Regie, Produktion, Design und Ausstattung; b) Styling/Requisiten, Garderobe, Maske und Bau; c) Kamera, Assistenz, Licht und Ton sowie d) Postproduktion kann schnell auf zwanzig bis dreißig Leute anwachsen. Film ist Teamarbeit, so gut, so recht. Ab jetzt sollte Kommunikation einer der praktizierten Begriffe sein. Sollte! Wie oft habe ich erlebt, daß Exponenten des Teams sich spinnefeind waren. Machen wir uns nichts vor, zu kleinen Scharmützeln kommt es immer wieder, nur, eine permanent schlechte Stimmung ist einer solchen Arbeit aufs äußerste abträglich.

Die Spar-Orgien verschiedener Produktionsleiter tun ein weiteres dazu. Sparen ist das verflixte Wort im Art Department. Wie soll man sparen, wenn kaum oder gar kein Geld vorhanden ist? Aber diese Frage wurde ja schon gestellt. Kaum je gehört habe ich von Sparmaßnahmen bei der Technik: Was der Kameramann will, das bekommt er auch. Das ist gut so, bitte aber nicht auf Kosten des Decorbudgets.

Zurück zu den Zeichnungen. An einer perspektivischen Zeichnung plus Grundrisse und Möblierung arbeite ich schon mal einen Tag und eine Nacht durch, das heißt wiederum, das muß bezahlt werden. Da noch Pläne für das Atelier, Farbentwürfe für Decor/Styling/Requisitcn, Maler und Installationen (Wasser, Licht) festgeschrieben werden, nimmt das schon eine ganze Reihe von Tagen in Anspruch. Die Requisitenliste, sofern nicht vorhanden, muß von der Stylistin angefertigt und mit der Regie besprochen werden. Die Spielrequisiten müssen besonders beachtet werden und, wo nötig und erwünscht, mehrfach zur Hand sein. Für eine größere Produktion ist ein Zeichner/Illustrator dringend vonnöten, da der Ausstattungsleiter zu oft unterwegs am Organisieren ist. In Absprache mit dem Kameramann (Objektive, Farben, Schattierungen usw.) und Regie (Konzept, Look usw.) sollten zumindest die Plots und die Key-Shots zeichnerisch genau festgelegt werden. Die Unterlagen dazu sind unter anderem Fotos von locations, Polas von Gegenständen und Videos von Landschaften. Zusammen mit dem Aufnahmeleiter muß man sich um Dreherlaubnisse, Logistik, Strom und Wasseranschlüsse kümmern.

Nicht der Sucher, sondern der Finder ist gefragt

Jeder Film spielt in einer Zeit: Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Für einen Farbfilm sollte immer zuerst ein Farbschema entwickelt werden. Soll ein Film in Pastelltönen oder in kräftigem Kolorit gehalten sein? Soll die Farbe „kontraproduktiv“ eingesetzt werden? Soll in Sepia gedreht werden (ganz schön modern wieder), soll man leicht unter- oder überbelichten? All das muß abgeklärt werden. Anhand einer Farbskala werden die Tönungen bestimmt und dann sofort Auszüge auf Originalgrund - z. B. Tapete, Holzböden, Verputz usw. - angefertigt. Anschließend werden Collagen fabriziert, die einen genauen Hinweis auf Stoffart, Muster, Qualitäten, aber auch Machart und Stil geben. Die Möblierung der einzelnen Sets anhand von Zeichnungen und Fotos rundet das Ganze ab. Dies wird auf Karton aufgezogen und gebunden oder auf geschäumtem Halbkarton zum Präsentationsständer ausgearbeitet. Das sind nun die gültigen Referenzen, die unter keinen Umständen ausgeliehen oder verlegt werden sollten. An diesem Punkt angelangt, kann man einen Test-Decobau anfertigen lassen. Probeaufnahmen mit den Schauspielern in Originalkostümen und Probedrehs für das Filmmaterial sind somit angesagt. Der Ausstattungsleiter hat seine Stilsicherheit, seine Architekturkenntnisse, sein Organisations- und Kommunikationstalent unter Beweis gestellt. Kostüm- und Kleidersprache, handwerkliches Talent, Verhandlungsgeschick und Mehrsprachigkeit dürfen ebenfalls keine Fremdwörter sein. Sich ständig in Mode, Kunst, Reisen (andere Länder, andere Sitten), Malerei, Literatur, Musik und natürlich Film weiterzubilden sollte keine Anstrengung bedeuten. So hat sich meine Bibliothek in den letzten paar Jahren verzehnfacht, und davon sind ein nicht unwesentlicher Teil Sach- und Fachbücher. Sich in Landes-, Stadt- oder Regionalbibliotheken auszukennen ist ebenfalls hilfreich. Auch der Rückgriff auf Zeitungsarchive ist immer wieder für eine brauchbare Überraschung gut.

Ausgangspunkt für alle Arbeiten ist das Drehbuch. Dies gilt für alle Beteiligten. Was aber, wenn das Drehbuch kurz vor den Dreharbeiten zum dreizehnten Mal umgeschrieben wird? Ja, dann wird’s schwierig! Die intensive Suche nach Drehorten ist abgeschlossen, Drehplätze sind gebucht, kleinere An- oder Umbauten stehen vor der Vollendung, Renovationen an alten Häusern und Wohnungen sind veranlaßt (Claude Goretta, Si le soleil ne revenait plus). Wie weiter? Da hilft nur ein klärendes Gespräch. Kommunikation! Die zwei besten Argumente, dafür oder dagegen, sind: Zeit und Geld! Der Ring schließt sich wieder.

Wenn die Macher machen könnten...

Regisseure, die mehr der Literatur zuneigen, geben dem Art Department und seinem Vorsteher oft sehr viele Freiheiten. Leute wie Stanley Kubrick neigen vermutlich eher dazu, den Designer bzw. Ausstatter zu ihrem Assistenten zu machen, um die eigenen Ideen zu verwirklichen. So gibt es im Film 2001 - a Space Odyssey Dekorationen, die oft ohne wesentliche Handlung und ohne Dialog sind. Man könnte sagen, daß einige Filme mehr einem Roman gleichen, andere einem Gemälde.

Architekt, Set Designer, Art Director. Schon mit diesen paar Begriffen tut man sich schwer. Bis vor ein paar Jahren wurde er auch der Bühnenbildner genannt. Für das Theater die richtige Bezeichnung. Im Film, wo alles so schnelllebig ist, habe ich meine Zweifel bezüglich deren Richtigkeit. Sicherlich ist er/sie aber Leiter/in des Art Departments, Entwerfer und Designer des Looks eines Filmes. Er muß mit dem Regisseur die Produktion überzeugen, Geld für sein Tun lockerzumachen, was eine verdammt schwierige Sache bei unseren Verhältnissen sein kann. Bei einer übrigens schönen Produktion von vier TV- Spots ist es mir so ergangen, daß ich bei einem Budget von wenigen tausend Franken immer wieder vortraben mußte und am Schluß eine viermal höhere Summe beieinander hatte. Das hat man den Spots, aber auch der Produktionskasse, angesehen. Einer der Spots erhielt vom ADC (Art Directors Club, Schweiz) eine Auszeichnung. Warum, hebe Herren ADCler, gibt es für Ausstattung und Design keinen Preis, warum sind wir für Euch quantité négligeable, sind wir es doch, die Eurem Arsch ein Gesicht verpassen! Dies nur als kleine Randbemerkung, und nicht böse sein. Immer wieder wird betont Wert gelegt auf die Einhaltung des Budgets, was durchaus auch richtig ist. Wo aber ein zu kleines oder gar keines vorhanden ist, kann auch keines eingehalten werden.

Der Ausstattungsleiter hat etwa dieselben Aufgaben wie die Obenerwähnten. Nur ist er sicher etwas billiger als jene. Er ist eine Person mit Verbindungen und verbindet eben.

Sofern man für den Zeichner Geld lockermachen kann, wäre er eine Gnade für jede Produktion. Er darf aber nur in Absprache mit dem Art Department angestellt werden.

Die Stylistin, eine Zentrifugalkraft. Ein nicht zu unterschätzender Turning-Point. Stilsicher, mit viel Geschmack und noch mehr Organisationstalent ausgestattet, wird sie auch Requisiteurin genannt.

Die Bühnenbauer sind oft in einem Studio fest angestellt und besorgen alle anfallenden Arbeiten. Es sind handwerkliche Alleskönner, Tüftler, Erfinder. Die guten Geister vom Studio. Sie verfügen über einen Stamm von freischaffenden Mitarbeitern und setzen diese nach ihren Fähigkeiten ein.

Ateliers: Schreinerei, Schlosserei, Malerei. Die großen Studios haben sie. Wir greifen auf selbständige Ateliers zurück und erteilen ihnen Aufträge.

„Spätestens ab dieser Zeit springen die Frösche.“

Maler und Malerinnen. Einfach toll, diese Bühnenmalerinnen. Talente. Aus Holz machen sie Eisen, aus alt neu, aus schräg gerade, Licht und Schatten dort, wo Licht und Schatten nie hinkommen würden, usw. Diese Wizzarde des Pinsels verdienen die spezielle Aufmerksamkeit des Ausstatters, denn oft sind sie die letzte Rettung aus dem kreativen Chaos, um schnell dieses oder jenes zu kaschieren oder anzufügen.

Du, ich, wir auch

Die Akademisierung der Filmberufe ist auf breitester Front abzulehnen. Warum soll ein Herrenmodeverkäufer oder eine Köchin nicht Filmemacher/m werden? Eine Ausbildung, wie sie Kunstgewerbeschulen, verschiedene Akademien oder die Stiftung Focal betreiben, ist unbedingt zu unterstützen. Nur über mittlere Reife bzw. Matura Filmschaffende heranzuzüchten ist elitärer Blödsinn und hilft dem Film überhaupt nicht. Offenheit und Toleranz müssen Schulen dazu bewegen, Schüler aufzunehmen, die zum Film wollen.

Überspringen wir an diesem Punkt die eigentlichen Dreharbeiten. Darüber wurde und wird genug geschrieben. Hängen wir zum Schluß den Schluß an.

Am Ende jedes Drehs laufen Freundschaften und Aversionen aus. Das Leben hat gesiegt. Man wird ausgespuckt, der Spuk ist zu Ende. Der Schrittmacher ist wieder der Alltag. Bis zum nächsten Mal. Hoffentlich bald.

Etwas verloren stehe ich jedesmal im Tohuwabohu des einstürzenden Decors. „Sauve qui peut la vie.“ Jetzt sind die Retouren angesagt; Stylisten, Requisiteure sind ein letztes Mal gefordert. Nicht zu vergessen Garderobieren und Kostümbildner. Tonnenweise Material zurückgeschoben. Aber halt, aus welchem Geschäft habe ich nun diesen Leuchter? Die Etikette, der Kleber ist abgefallen oder entfernt worden. Tja, gut dran ist, wer gut organisiert ist. Requisiten reinigen, Kleider aufbügeln, Transportmittel bestellen. Der Laden wird immer leerer. Einsam irrt der Regisseur in den Gängen herum. Der Ausstattungsleiter findet vergessene Requisiten, irgendwo steht eine Flasche Champagner oder auch nur ein Bier. Das Telefon ruft schrill in die Realität zurück. Am anderen Ende des Drahtes: „Wo bleibt meine Einbauküche, seit einer Woche warten wir auf sie?“ Eine Küche kann ja nicht einfach verschwinden. Hektisches Suchen. „Wieso hat die Produktionsassistentin nicht...“ Die Lampe ist beim Küchenhersteller und die Küche beim Lampenheini. Toll! Weil’s so schön war, nochmals von vorn. Tausend Entschuldigungen, drei Flaschen Burgunder glätten die Wogen. Retouren auf die leichte Schulter zu nehmen bedeutet, sich selbst ein schlechtes Zeugnis auszustellen. Die Requisitengeber lohnen es beim nächsten Mal.

Bis zum nächsten Mal!

(Illustrationen von Anna Sommer)

Philipp Jacques Baur
geb. 1948, lebt in Zürich, seit 1981 freischaffender Stylist und Ausstattungsleiter, arbeitete u. a. für Claude Gorettas Si le soleil ne revenait plus und Nicolas Gessners Supertrick, daneben für das Fernsehen, ferner Ausstattungsleitung bei über 50 Werbespots.
(Stand: 2019)
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