CHRISTINE NOLL BRINCKMANN

DAS GESICHT HINTER DER SCHEIBE

ESSAY

Will man Texte über Spielfilme illustrieren, so kommen theoretisch so viele Photogramme in Frage, wie der Film Kader enthält. Gewählt wird jedoch, überdurchschnittlich oft und ganz unabhängig vom Charakter des Werkes, ein bestimmter Typus: das Gesicht hinter der Scheibe.

Vieles spricht für diese Wahl. Ein solches Bild braucht keinen Kontext, ist unmittelbar verständlich. Es ruht in sich selbst wie ein Porträt, zeigt eine der Hauptpersonen frontal und schweigend. Meist ist es gerahmt durch die Fenstersprossen - doppelt kadriert sozusagen -, so daß es sich wohlkomponiert und statisch allein behaupten kann. Und obwohl der Hintergrund meist eine dunkle Fläche bildet, wirkt es dreidimensional, da die Scheibe ein wenig reflektiert oder von Gardinen gerahmt, von Dunst, Regentropfen oder Schnee markiert ist, so daß eine zusätzliche Ebene entsteht. Neben ihrer Ruhe verweisen solche Porträts zugleich auf Bewegung: Die Figuren sind ans Fenster getreten, für eine Weile dort stehengeblieben, und sie werden sich wieder abkehren. Vielleicht war es ein Geräusch, vielleicht trieb sie eine starke innere Unruhe - das Fensterbild, von seinem filmischen Kontext isoliert, gibt diese Umstände nicht preis.

In der Wirklichkeit sehen wir gelegentlich jemand hinter einem Fenster, der oder die nachdenklich hinausschaut - viele Menschen stehen gern in dieser Pose, oft recht lang, ohne Zeitgefühl, mit sich selbst allein, von ihren Mitbewohnern abgewandt. Daß man ihnen eher selten dabei zusieht, hat mehrere Ursachen. Physikalische zum einen, indem die Scheibe spiegelt und nur partiell transparent ist; außerdem befinden wir uns im allgemeinen zu weit entfernt und viel tiefer als die schauende Figur, so daß wir sie allenfalls klein und verkürzt sehen. Zum andern wählen Menschen, die sinnieren wollen, ein Fenster, in das niemand Einblick hat. Werden sie dennoch entdeckt, verändert sich ihre Haltung, sie nehmen Kontakt zu ihren Beobachtern auf, wenden sich ihnen zu, grüßen und winken. Das Meditieren hinter der Scheibe ist zwar wohlvertraut, da wir selbst oft so stehen, aber visuell eine eher rare Erfahrung, da andere uns davon ausschließen.

Vielleicht ist das der Grund, weshalb die traditionelle Malerei das Gesicht hinter der Scheibe als Motiv nicht kennt. In der Photographie - oder im Dokumentarfilm - kommen solche Kompositionen zwar vor, sind aber typischerweise anders beschaffen als im Spielfilm. Hier gibt es den Typus „anonymer Schnappschuߓ, der fremde Menschen am Fenster zeigt - jedoch in der Verkürzung von unten, wie in der Realität, und oft ist die kontemplative Person nur teilweise hinter der Gardine sichtbar. Oder es handelt sich um Kinder, denen es noch gleichgültig ist, ob man sie beobachtet (Abb. 1). Daneben existiert der Typus „Kunstfoto“, das sorgsam arrangiert ist. Eine Person steht hinter einem (Erdgeschoß-)Fenster, blickt versonnen durch eine staubige oder zum Teil verspiegelte Scheibe, die das Bild grafisch interessant macht; oder die photographierte Person posiert und bringt zum Ausdruck, daß sie sich der Situation stellt. Picasso zum Beispiel (Abb. 2) nimmt Blickkontakt auf, legt die Hände gegen das Glas, macht deutlich, daß die transparente Fläche Distanz gibt, das Innen vom Außen trennt; hält den Kopf weiter hinten, um nicht voll beleuchtet zu sein; signalisiert, daß er jeden Augenblick zurücktreten könnte. Hier bildet die Scheibe eine dünne Membran, die nur im Vordergrund wirklich transparent ist. Wer an die Scheibe tritt, macht sich selber sichtbar, gibt sich den Blicken preis; wer weiter zurückweicht, entschwindet mehr und mehr, entzieht sich.

Spielfilme sind fiktional und erlauben daher Einblicke, die in der Wirklichkeit unmöglich, unwahrscheinlich, schwer erreichbar oder nicht gestattet sind, in der Photographie nur erhascht (und stillgestellt) oder inszeniert werden können. Fiktionalität beinhaltet ja unbeschränkten Zugriff, da uns das Erdachte, Imaginäre eigentlich keine Beschränkung auferlegt (die Beschränkungen ergeben sich auf anderen Ebenen, durch narrativ-dramatische Erfordernisse, gewählte Erzählstandpunkte, beabsichtigtes Informationsgefälle zwischen Erzählinstanz und Publikum, Realismuskonventionen, technische Limitationen usw.). In der Fiktion ist es daher möglich - und es bildet ihre besondere Attraktivität, vielleicht sogar ihren Kern -, die Personen sowohl von innen wie von außen zu zeigen, sowohl ihre Gedanken und Wahrnehmungen zu enthüllen wie ihnen beim Leben zuzuschauen. Dies hat den psychologischen Roman zum Inbegriff des Fiktionalen gemacht, da er vom Bewußtseinsstrom bis zur beschreibenden Außenbeobachtung jede Form des Zugriffs auf eine Figur wählen kann, um sie zu erschließen. Im Drama - und im Spielfilm - ist es weit schwieriger, ins Innere der Personen vorzustoßen. Verbale Auskünfte über innere Befindlichkeiten in Dialogen und Monologen, gestisch-mimische Äußerungen der Darsteller oder expressive Funktionen der Dekors und der Beleuchtung treten an die Stelle der im Roman üblichen Überschreitung der Subjektgrenzen in das Bewußtsein der Figuren hinein.

Vieles geschieht im Spielfilm mit Hilfe der Suggestion von Subjektivität. Einstellungen sind oft teilsubjektiv, können als persönliche Wahrnehmungen oder als unverstellte Realität gelesen werden, könnten Assoziationen der Personen darstellen oder assoziative Kamerablicke. Wenn eine Figur depressiv ist, wird die Beleuchtung zurückgenommen, es ist dämmrig, es regnet, die Farben wirken stumpf, die Hintergründe verschwimmen im Schatten. Blicken wir einer Figur frontal ins Gesicht, so bedeutet dies eine Aufforderung, hinter die Fassade zu dringen, an ihrem inneren Erleben teilzuhaben, auch wenn das Gesicht ganz unbewegt, ohne faßbare Mimik vor uns steht. Eigentlich handelt es sich bei solchen Großaufnahmen um Ruhepunkte, die aus sich heraus kaum ein neues Verständnis gewähren; sie regen lediglich an, sich in die Person einzufühlen, alle bisherigen Informationen Revue passieren zu lassen und die Regungen, die wir in dieser Situation empfinden würden, in das Gesicht hineinzulesen. Solche Haltepunkte sind für die Entfaltung unserer Empathie von großer Bedeutung.

Ein einschlägiges Beispiel findet sich in Erich von Stroheims Greed (USA 1924). Bei einem Ausflug ans Meer hat McTeague seinem Freund Marcus soeben gestanden, daß er dieselbe Frau liebt: Marcus’ Cousine, die dieser eigentlich selbst heiraten wollte und mit der er seinen Freund vertrauensvoll zusammengebracht hat. Der sentimentale Marcus ist tief getroffen und sieht als einzige Lösung den Verzicht - den er als großzügige Geste ewiger Männerfreundschaft deklarieren wird. Während er diese Entscheidung durchdenkt, sehen wir ihn ans Fenster des Strandcafés treten, in dem sich die beiden unterhalten, und bewegt hinausblicken.

Die Kamera erfaßt ihn von außen durch die Scheibe. Es folgt ein Schnitt auf die Strandpromenade mit flanierenden Passanten, dann eine Überblendung aufs freie Meer und zurück auf die Promenade, schließlich wieder ein Schnitt auf Marcus am Fenster (Abb. 3-6). Er hat sich bewußt von McTeague abgewandt, doch die Kamera ignoriert sein Bedürfnis, unbeobachtet zu bleiben, und blickt ihm frontal ins Gesicht. Keiner von den Spaziergängern nimmt ihn wahr, und er interessiert sich auch nicht für sie. Vielmehr geht sein Blick in die Weite, auf das Meer, das er von seinem Standort eigentlich nicht unverstellt, ohne Menschen und Uferbalustrade, sehen kann: eine metadiegetische Einstellung also, die zwar durch die Nähe zum Strand motiviert ist, aber nach den Gesetzen der realistischen Montage an dieser Stelle nicht erscheinen dürfte (daher die Überblendung). Der Blick nach außen erweist sich zugleich als Blick nach innen. Er bietet einen Zugang, der im Grunde nur schwer zu haben und daher sehr kunstvoll inszeniert ist: die Geste der Abwendung zuerst, dann die Preisgabe des Gesichts, wenn auch durch die Scheibe, die gleichsam überwunden werden muß; dann ein Gegenschuß, der zur Metadiegese führt; schließlich erneut das Gesicht, jetzt um die Metaphorik der Meereswellen bereichert; und als nächstes die Entscheidung, die durch den gedehnten Augenblick der Reflexion um so gewichtiger wird. Und gewichtig muß der Verzicht erscheinen, denn er wird im späteren Verlauf der Handlung zu einer primären Komplikation werden.

Etwas anders gelagert ist eine Stelle aus Ivy von Sam Wood (USA 1947). Ein Mann wird von der Frau, die er liebt, des Mordes an ihrem Gatten bezichtigt (den sie begangen hat). In der Untersuchungshaft besucht ihn sein Anwalt. Während ihres Gesprächs schaut der Beschuldigte aus dem Fenster, wendet dem Anwalt den Rücken zu, blickt mit zerfurchter Miene in eine unbekannte Weite (Abb. 7). Sein Gesicht wird von den Sprossen des Fensters gerahmt, ebenso das des Anwalts, beide Personen stehen frontal gestaffelt zur Kamera, obwohl sie miteinander sprechen. Durch diese filmische Anordnung ist der Angeklagte, der eigentlich mit sich allein sein möchte, weil die Gefühle ihn überwältigen, die ganze Zeit den Zuschauerblicken ausgesetzt. Der Film respektiert seine emotionalen Bedürfnisse nicht, obwohl er sie erzählt, sondern bezieht gerade aus der Abwendung der Figur eine besondere Öffnung, indem er sie - diesem zugewandt - dem Publikum präsentiert. Als Beiprodukt dieser Komposition ergibt sich, daß beide Personen simultan sichtbar sind, was eine Auflösung in Schuß/Gegenschuß überflüssig macht und eine ununterbrochene, intensive Beobachtung bewirkt. Ein Gegenschuß aus dem Fenster auf das, was der Beschuldigte sieht, erfolgt nicht. Einerseits ist die Komposition ohnedies komplett, weil der Gesprächspartner als Bezugspunkt im Bild steht; andererseits wirkt die Wendung nach innen um so tiefer, wenn kein Ausblick sie durchbricht.

In manchen Filmen erscheint nicht nur eine Person hinter der Scheibe, sondern ein Paar. So zum Beispiel in der berühmten, viel reproduzierten Komposition aus Marcel Carnés Quai des Brumes (Frankreich 1938), in der Michèle Morgan und Jean Gabin gemeinsam in die Morgendämmerung schauen (Abb. 8). Ihre Blicke kreuzen sich nicht. Sie stehen nebeneinander, aber in verschiedenen Fensterflügeln gerahmt, sie rechts hinter einer hochformatigen schmalen Scheibe, er links hinter kleineren quadratischen Feldern, so daß sein Gesicht eng gefaßt ist, während ihre Gestalt mehr Raum hat. Erst das unterste Fensterquadrat verklammert beide parallel. Auf der Scheibe schimmern Tropfen, ein poetisches Licht überhöht die Figuren; ihr Regenmantel und Béret, seine Kappe lassen sie unbehaust aussehen, als stünden sie nicht innen, sondern draußen. Das Bild drückt sowohl die Einsamkeit beider Figuren aus - gerade haben sie sich verliebt, aber über die Unmöglichkeit der Liebe gesprochen - wie ihre emotionale Zusammengehörigkeit in einer Welt, in der man auf jeden Fall verliert. Trotz der Verdoppelung des Motivs ist sein Grundcharakter gewahrt und dramaturgisch genutzt: der suggestive Einblick in eine Person, die ganz bei sich selbst ist.

In Douglas Sirks All That Heaven Allows (USA 1955) hat die verwitwete Carrie auf Drängen ihrer Kinder und auf Druck der Kleinstadtgesellschaft, in der sie lebt, ihren viel jüngeren und nicht standesgemäßen Liebhaber aufgegeben. Am Weihnachtstag fühlt sie sich besonders allein. Zwar erwartet sie Sohn und Tochter zu Besuch, antizipiert jedoch wenig Freude (obwohl sie noch nicht weiß, welche Enttäuschungen der Tag bringen wird). Still und depressiv steht sie am Fenster, als ein Weihnachtsschlitten mit singenden Kindern vorbeikommt, der ihre Lage kontrastiv unterstreicht (Abb. 9). Sirk läßt sie relativ lange stehen und fährt dabei auf das Fenster zu, bis die Großaufnahme erreicht ist, die durch die hellen Sprossen gerahmt wird. Der Blick nach draußen ist doppelt motiviert: durch die Musik und den Schauwert des Schlittens ebenso wie durch Weihnachten als Fest der Nachdenklichkeit und familiären Gemeinschaft. Eigentlich tritt Carrie nicht ans Fenster, um die Kinder zu sehen, sondern steht bereits versonnen dort, und sie bleibt auch stehen, als der Schlitten wieder außer Sicht ist. Der Anblick kollektiver Freude macht sie noch trauriger, die Selbstreflexion einsamer; mangels menschlicher Wärme und Häuslichkeit wendet sie sich nach draußen, in die Schneelandschaft.

Das Haus mit seinen Fenstern verdoppelt, spiegelt metaphorisch das Gesicht und die Augen. So wie der Blick durch die Scheiben ein wenig Einsicht ins Innere eines Gebäudes gestattet, in den privaten Raum der Bewohner, so scheint der Blick in die Augen Zugang zum Bewußtsein eines Menschen zu gewähren: in Umkehrung der Tatsache, daß wir die Welt aus der Warte unserer Subjektivität durch die Pupillen wahrnehmen, die ja durchsichtig sind wie Glas. Eigentlich bleiben sie, aufgrund ihrer Winzigkeit, zwar für den Einblick opak, wirken aber so lebendig, daß man in ihnen lesen zu können glaubt. Filme drücken diese vermeintliche Expressivität oft durch Glanzlichter auf der Iris aus, um einen Funken hinter der Stirn anzudeuten: eine weitere Form der Suggestion subjektiver Prozesse.

Auch Maya Deren verwendet das Gesicht hinter der Scheibe, um die Bewegung aus der sichtbaren Welt in die Unsichtbarkeit des Imaginären einzuleiten - auch wenn ihr experimentelles filmisches Poem, anders als der realistisch-illusionäre Spielfilm, Innen und Außen nicht systematisch trennt. Der berühmte Botticelli-shot aus Meshes of the Afternoon (USA 1943) befindet sich am Beginn der eigentlichen Traumsequenz. Maya Deren, die selbst in ihrem Film auftritt, steht hinter der reflektierenden Scheibe, die Lockenmähne wie eine Venus ums Gesicht, und legt, ähnlich Picasso, die Handflächen von innen gegen das Glas (Abb. 10). Stärker noch als bei Sirks All That Heaven Allows scheint sie vom Haus umfaßt, wirkt das Fenster als Öffnung zu einem privaten inneren Raum. Der Film scheint hier für einen Augenblick stillgestellt, alle Konzentration nach innen gerichtet, so daß das Bild große und eigenständige Kraft erhält. Kein Wunder, daß Maya Deren es als Porträtfoto herauskopiert hat (wenn auch seitenverkehrt) und daß es die Titelblätter zahlreicher Publikationen zum Experimentalfilm ziert.

In mancher Hinsicht sind die Gesichter hinter der Scheibe dem Blick in den Spiegel verwandt, einer Komposition, die sich in vielen Spielfilmen als dramaturgische Alternative dazu findet. Typischerweise markiert der Blick in den Spiegel einen sogenannten private moment, der die Handlung stillstellt. Eine Figur zieht Bilanz oder muß eine folgenschwere Entscheidung treffen; sie betrachtet ihr Spiegelbild, sieht sich selbst in die Augen und verdoppelt sich zugleich für die Zuschauer, indem sie sich in eine eigentliche und eine uneigentliche Erscheinung spaltet. Möglicherweise verrät das Spiegelbild ihr eigentliches Wesen, ist der materielle Körper das Symbol einer Fehlentwicklung, einer falschen Identität geworden - oder umgekehrt, wie bei Dorian Gray. Die Unheimlichkeit jeder visuellen Verdoppelung (die im Volksglauben den Tod Vorhersagen kann) schwingt im Phänomen des Spiegels mit und gibt den Kompositionen besonderes Gewicht. So zum Beispiel in Le Doulos (Jean-Pierre Melville, Frankreich 1962), als Alain Delon sich zuletzt, kurz vor seinem Tod, im Spiegel mustert (Abb. 11). Er weiß, daß er verspielt hat, und sieht sich ein letztes Mal in die Augen.

Interessanterweise kommt in vielen Filmen eine Kombination beider Motive vor: Eine Figur blickt sinnierend aus dem Fenster und erschaut dabei, immateriell und zart und in gedämpften Farben, das eigene Gesicht. Es versteht sich, daß solche Einstellungen aus der Innenperspektive, von diesseits der Scheibe, gedreht sind. Wir blicken auf eine Rückenfigur, schauen mit ihr durch und auf das Fensterglas, um an ihrer Selbstversenkung teilzuhaben. Aufnahmen dieser Art wirken fast noch privater als der Blick in regelrechte Spiegel, weil man das eigene Bild anstelle des Panoramas betrachtet, das Fenster sozusagen mißbraucht, während man vorgibt hinauszuschauen. Außerdem ist das Gesicht meist sehr nah, nicht in der „sozialen“, sondern in der „intimen“ Distanz; und da es verfremdet - und geschönt - wird, gewinnt es etwas Geheimnisvolles, Anziehendes, das dazu aufruft, es mit Augen und Seele zu durchdringen (vgl. Abb. 12 aus La stazione von Sergio Rubini, Italien 1990).

Doch diese Form der Selbstbetrachtung läßt sich auch umgekehrt, von außen zeigen, als Gesicht hinter der Scheibe, in der sich eine Landschaft spiegelt. Dieses Motiv wird gerne bei Eisenbahnfahrten verwendet und so mit einem Motiv gekoppelt, das ebenfalls die Bewegung nach innen, die Reise zum Ich ausdrücken kann. Zum Beispiel als Anna Karenina (im gleichnamigen Film von Julien Duvivier, England 1948) in Vorahnung kommender Entwicklungen von Petersburg nach Moskau fährt. Noch hat ihre schicksalhafte Begegnung mit Vronsky nicht stattgefunden, aber sie ist emotional gelangweilt, verzweifelt, bereit. Eine Einstellung zeigt Anna von außen durch das Fenster des Zuges, der durch Nacht und Schnee braust (Abb. 13). Wir begreifen, daß sie mit sich allein ist und Bilanz zieht, nicht in die russische Weite hinausblickt, sondern in das eigene Gesicht. Schnee und Rauch, die sich von außen in der Scheibe spiegeln, lagern sich für uns als metaphorische Folie darüber und verleihen dem Bild ästhetische Tiefe.

Ähnlich den fiktionalen Gesichtern hinter der Scheibe, denen wir uns trotz hoher Stockwerke frontal gegenüberbefinden, ist die Einstellung auf Anna Karenina ein sogenannter impossible shot. Dieser Ausdruck, der im Zusammenhang mit der realistisch-illusionären Ästhetik des klassischen Hollywood geprägt wurde, besagt, daß ein solches Bild die Gutgläubigkeit der Zuschauer überstrapaziert, weil sich die Unmöglichkeit, eine bestimmte Kameraperspektive einzunehmen, plötzlich aufdrängt: Es gibt Filme, die das Geschehen durch die Flammen des Kamins aufnehmen, aus der Perspektive einer Regalrückwand oder eines Kühlschranks, in den eine Person hineingreift. Dabei ist es eine Frage der Zuschauersensibilität und außerdem eine Funktion der Konventionalisierung bestimmter Kamerapositionen, ob und wann eine Einstellung als impossible erlebt wird. Genaugenommen ist ja der ganze Spielfilm imaginär und nicht an die Gesetze der Natur gebunden - weshalb er auch nicht mit den physischen Limitationen des Dokumentarfilms kämpfen muß, sondern die Kamera aus der jeweils günstigsten Perspektive auf die Schauspieler richten kann. Im Grunde ist jeder Schuß/Gegenschuß impossible, bei dem abwechselnd aus der Warte zweier Dialogpartner gefilmt wird, ohne daß die Kamera ins Blickfeld gerät.

Sobald man sich dem Gedankenexperiment hingibt, solche Spielfilmsequenzen als dokumentarische anzusehen, springt die filmische Welt aus den Fugen. Doch der fiktionale Raum wird von den Zuschauern nur teilweise aus der Arbeit der Kamera berechnet. Filme rufen nur gelegentlich dazu auf - zum Beispeil wenn sie eine enge Zelle zeigen und die Kamera ausschließlich innerhalb der vier Wände agiert, so daß sich ein klaustrophobisches Gefühl einstellt. Häufiger kommt es vor, daß die Aufnahmeapparatur sich nicht an die physischen Grenzen binden läßt, die von der fiktionalen Architektur behauptet werden. Braucht die Kamera mehr Platz, so zieht man auf dem Set die Wände aus dem Weg, auch wenn sie im Gegenschuß wieder sichtbar werden, und fährt in ein Gelände, das es in der Diegese gar nicht gibt. Die Zuschauer, gut geschult an unzähligen anderen Filmen, wissen, daß sie den diegetischen Raum nicht aus dieser Bewegungsfreiheit konstruieren dürfen. Doch irgendwann, und die Schwelle ist nicht genau definierbar, wirken solche Einstellungen desillusionierend und lächerlich. Manchmal ist der Einzelfall zu dreist, manchmal hat der Film bereits einen Kamerastil etabliert, dem ein bestimmter impossible shot zuwiderläuft.

Bei der Figur am Fenster eines oberen Stockwerks, eines Ozeandampfers auf hoher See oder Flugzeugs in der Luft läuft die Rezeption schneller Gefahr, in die technische Vorstellung der Dreharbeiten umzukippen, während ein ebenerdiges Gebäudefenster leichter akzeptiert wird. Dabei herrscht zwischen beiden kein echter, systematischer Unterschied, da in jedem Fall eine unsichtbare, aus der Illusion ausgeschlossene Kamera an einem Ort schwebt, über den die dargestellte, fiktionale Handlung anders verfügt. Was die Fälle unterscheidet, ist lediglich, daß man sich - und die Kamera als Zuschauersubstitut - zu ebener Erde leichter als (unsichtbarer, imaginärer) Zeuge vorstellen kann als in freier Höhe. Auch Voyeure fürchtet man nur im Parterre. Obwohl in keinem Kamerastil explizit festgelegt, scheinen alle Traditionen gern auf Blickpunkte zu rekurrieren, die auch ein menschlicher Zeuge einnehmen könnte. Denn ihnen eignet eine unmittelbare, organische Selbstverständlichkeit, während alle „unmöglichen“ Perspektiven motiviert oder konventionalisiert werden müssen.

So gilt für viele filmische Figuren, die hinter der Scheibe stehen, daß ihre Pose durch Krisen motiviert ist - wie bei Marcus in Greed -, und entsprechend groß ist das Bedürfnis der Zuschauer, in ihren Zügen zu lesen, wie sie das Geschehen emotional verarbeiten: ein Bedürfnis, das stark genug ist, um einen ungewöhnlichen Kamerastandpunkt in Kauf zu nehmen. Er tritt sozusagen als Nebensache hinter der Hauptsache zurück. In anderen Fällen wird die Pose durch Geräusche von draußen motiviert, denen die Personen nachgehen wollen - wie Carrie in All That Heaven Allows -, oder durch die Absicht, nach dem Wetter zu schauen. Und häufig erfolgt ein Gegenschuß aus ihrer Warte, um diese Motivationen zu honorieren, der teils metaphorisch oder atmosphärisch-expressiv genutzt wird, teils eher trivialen Charakter hat. Gerade im letzten Fall fällt auf, daß die Personen oft länger als nötig in ihrer Pose verharren - so als müßten sie aus ihrer Rahmung und Verglasung, ihrer Porträthaftigkeit auch emotional und ästhetisch etwas machen.

In der Tat ist das Gesicht hinter der Scheibe viel relevanter als der Anlaß, der diese Bildkomposition inszeniert hat. Als eine Art gesteigerte Großaufnahme, die stets ein Stück weit zur Annäherung an die Figur verhilft, sie ein wenig fiktionalisiert, scheint das gerahmte Gesicht Inneres preiszugeben. Zugleich steht die Scheibe augenfällig für die Grenze, die überwunden werden muß, will man in die Subjektivität einer Person Vordringen. Eine Verfügbarkeit, die nur imaginär möglich ist, Transparenz und Unerreichbarkeit sind in diesem Glas ausgedrückt. Damit symbolisiert die Fensterkomposition das eigentliche Programm des Fiktionalen, während sie zugleich dazu beiträgt, es zu erfüllen. Nicht umsonst beginnen viele Spielfilme mit einem - geisterhaften, im realen Leben unmöglichen - Anflug und Einstieg der Kamera durch ein hochgelegenes oder sogar geschlossenes Fenster.

Für Anregungen danke ich Till Brockmann, für die Anfertigung der Videoprints Alexandra Schneider.

Christine Noll Brinckmann
geb. 1937 in China, seit 1989 Ordinaria für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Sie gab 1991 das Buch Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre (Frankfurt am Main) heraus.
(Stand: 2019)
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