SANDRA WALSER

DIE REGIERUNG - MONTAG, DIENSTAG, MITTWOCH UND ZURÜCK (CHRISTIAN DAVI)

SELECTION CINEMA

«Ich habe irgendwann verstanden, dass die Normalen Angst vor mir haben und dass es an mir liegt, auf sie zuzugehen.» Das sagt Mas­simo Schilling, 33 Jahre alt. Er humpelt an sei­nen Krücken. Seine Beine machen beim Gehen schlangenförmige Bewegungen. Bei seiner Ge­burt litt er unter Sauerstoffmangel. Die Eltern Hessen ihn als Kleinkind im Stich, sie wollten «das behinderte Monster» nicht bei sich haben. Massimo ist einer von fünf Behinderten, die bei den Bücheis im «Steinengässli» wohnen. Die acht Mitglieder der Grossfamihe sind grund­verschieden. Aber sie haben die Gemeinsam­keit, dass sie ein Leben führen können fern der strikten Strukturen, in denen sich behinderte Menschen normalerweise zu bewegen haben.

Da ist zum Beispiel Martin. Er galt früher als unheilbar aggressiv und bösartig und wurde von Heim zu Heim gereicht. Oder Roland: Meist ist er bedenkenlos wie ein Kind, und wenn er einmal zu reden beginnt, ist er kaum zu stoppen. Alles, was er will, ist, respektiert zu werden - vor allem von seinen Eltern. Eranco ist gehörlos und autistisch. Er schiesst Fotos, die er nach einem nicht nachvollziehbaren Sy­stem einordnet. Hansi leidet an cerebralen Be­wegungsstörungen. Irene und Heinz Büchel schliesslich sind die Pflegeeltern, Rahel ihre Tochter.

Seit 17 Jahren lebt die heiltherapeutische Grossfamihe nun schon im Toggenburg zu­sammen. Früher verdiente man sich das Geld mit der Landwirtschaft, heute mit der Musik. Zusammen zu musizieren sei von Anfang an zentral gewesen, meint Heinz Büchel. Das ge­meinsame Hobby funktioniere als eine Art Therapie: Keiner der fünf behinderten «Jungs» sei mehr ein «untragbarer» Fall, sei selbstzerstörerisch oder aggressiv. Das Musizieren ist zudem auch Mittel geworden, nach aussen zu treten. Mit ihrem Musiktheater «Die Regie­rung» verzeichnet die Gruppe mittlerweile im In- und Ausland beachtliche Erfolge.

Der 30jährige Ghristian Davi hat die Be­wohner des «Steinengässli» mit der Kamera be­gleitet. Entstanden ist ein äusserst feinfühliges Gruppenporträt: Die eingefangenen Situatio­nen sind oft komisch, manchmal traurig, aber immer voller Lebenslust und einer seltsam an­steckenden Energie. Ganz im Gegensatz, zu an­deren Filmen über Behinderte wird hier nicht mit wohlwollendem Kommentar versucht, Mitleid zu erheischen. Vielmehr kommen die Behinderten selbst zu Wort, als Menschen mit einer eigenen Philosophie - und man hört fas­ziniert zu.

Sandra Walser
geb. 1976, lebt als freie Journalistin und Studentin in Zürich.
(Stand: 2018)
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