PATRICK STRAUMANN

HAUT BAS FRAGILE — OSZILLATIONEN DER FRANZÖSISCHEN FILMINDUSTRIE

ESSAY

Between the conception And the creation Between the emotion And the response Falls the Shadow

-T.S. Eliot

Wären Filme Rennpferde, so würden diejenigen, welche auf den Erfolg von Marius et Jeannette (Robert Guédiguian, F 1997) gesetzt hätten, heute über ein Vermögen verfügen. Doch Wettbüros pflegen keine Einsätze auf kulturelle Erzeugnisse anzunehmen, obwohl die Trefferquote in der Kinobranche kaum höher liegen dürfte als diejenige der Zocker und sich der Erfolg eines Filmes auch post festum jeder Normierung verweigert. Die Launen des Marktes, der an der Schnittstelle von Kultur und Ware entsteht, müssen die Produzenten alleine ertragen: Absolvierten die ersten Filme von Robert Guédiguian mit unter 30000 Zuschauern jeweils eine bescheidene Kinokarriere und waren sie allenfalls den Liebhabern des sozial engagierten Melodrams bekannt, so wurde die Marseiller Milieustudie innerhalb eines Jahres von über 2,5 Millionen Zu­schauern gesehen, was in Frankreich einem Mainstream-Publikum entspricht. A la place du cœur (F 1998) wiederum, der darauf folgende Film Guédiguians, liess die Zuschauerschaft kalt. Sämtliche Versuche des Verleihs, mittels grossen Winkens mit dem Zaunpfahl auf das vorherige Werk des Erfolgsregisseurs auf­merksam zu machen, schienen ins Leere zu laufen. In seiner Gunst ist das Kino­publikum offenbar weniger konstant als Don Juan: Selbst wenn ein Film die in ihn gesteckten Erwartungen in einem Verhältnis von 100 zu 1 übertrifft, nimmt dies die Branche mit gemischten Gefühlen wahr. Denn im Echo dieses Glücks­falls klingt bereits die Warnung mit, dass eines Tages genauso gut das Gegenteil eintreffen könnte.

Wieweit lässt sich die Karriere eines Films im Voraus überhaupt definieren? Wer die Frage nach dem Erfolg eines Films in rein finanzieller Hinsicht stellt, findet schnell eine Antwort: Erfolg stellt sich ein, wenn der Ertrag der Film-, Fernseh- und Videorechte (mindestens) den investierten Produktionsgeldern entspricht. Schwerer mit der Frage tut sich, wer sich mit der Machbarkeit eines Kassenschlagers befasst. Wenn sich Gilles Sandoz anschickt, die seit drei Jahren andauernde Erfolgsserie von Agat Films & Cie zu kommentieren, legt er jeden­falls einen beinahe metaphysischen Respekt vor dem Schicksal an den Tag. Die Gesellschaft, die er zusammen mit sechs Teilhabern kollegial leitet, hat nach einem Jahrzehnt Auftragsarbeiten - hauptsächlich für das Fernsehen - seit eini­gen Jahren einen Kinoerfolg nach dem anderen initiiert. Pascale Ferran (L’âge des possibles, F 1996), aber auch Tonie Marshall (Vénus Beauté Institut, F 1998) und Sólveig Anspach (Haut les cœurs!, F 1999) haben Filme gedreht, die jeweils mehr eingespielt als gekostet haben. Seither verfügt Agat Films & Cie über eine Kriegskasse, die Anlass zur Hoffnung gibt, dass die Firma in Zukunft mit zwölf bis vierzehn Filmen einen Zehntel des gesamten französischen Produktions­volumens stellt. Das Ziel ist ambitiös, zumal es die Gesellschaft vorzieht, un­abhängig zu arbeiten und auf verpflichtende Bankkredite zu verzichten. Der Grundton der Filme liegt zweifellos im Trend, doch die strukturelle Ursache für den massiven Publikumserfolg ortet Sandoz zunächst in der Tatsache, dass die Firma ihren Filmen eine adäquate Drehzeit zugesteht - selbst auf die Gefahr hin, dass durch eine Verlängerung des Drehplans Mehrkosten entstehen. Nur so kann die Qualität der Produktion garantiert werden.

Üblicherweise ziehen es Produzenten jedoch vor, die Vox populi zu kon­sultieren, wenn es gilt, definitive Entscheidungen über das Profil ihrer Filme zu treffen. Besonders die Sneak Previews sollen heute vor unliebsamen Über­raschungen feien. Die Marketingidee, die darin besteht, das Potenzial eines Filmes mit Hilfe eines repräsentativen Publikums vor dem Kinostart zu prüfen, führt die Filmgeschichte auf einen Präzedenzfall aus den Dreissigerjahren zurück: Damals verhalfen Testvorführungen dem Volksfrontdrama La belle équipe (Julien Duvivier, F 1936) zur Schlusssequenz, in der Jean Gabin eine Männerfreundschaft der sich anbahnenden Liebesbeziehung vorzieht. Doch während heute den Zuschauern mit ausgeklügelter Statistik zu Leibe gerückt wird, wurden bis in die Achtzigerjahre am Publikum allenfalls Stichproben durchgeführt. Jean-Luc Godard soll vor dreissig Jahren das Servierpersonal eines Strassencafés in den Vorführraum gebeten haben, als selbst seine nächsten Mitarbeiter ratlos auf die Syntax seiner Filme reagierten. Die Hoffnung, die Leute von der Strasse würden eher Zugang zu seinen Werken finden als die angehenden Cahiers du cinéma-Redakteure, blieb allerdings unerfüllt. Auch Claude Berri sah sich vor dem Kinostart von Tess (F 1979) zu einer ähnlichen Notlösung gezwungen: Bestürzt ob der Überlänge des Films, dessen Produk­tionskosten seine Firma Renn Productions an den Rand des Ruins gebracht hatten, vertraute er sich seinem Hauswart an. Als ihm dieser empfahl, den Film um ein Drittel zu kürzen, flehte ihn Berri an, dies doch bitte auch Roman Polanski nahe zu legen.

Wer das Phänomen des Erfolgs etwas wissenschaftlicher angehen will, zieht heute Kurven und Zahlen zu Rate. Verleihfirmen pflegen die Filme jeweils drei Gruppen zuzuordnen, die hypothetisch ein Publikum von 30 000, 500 000 oder ungefähr drei Millionen Zuschauern anzusprechen vermögen. Ähnlich wie die Ökonomie, die ihre Prognosen auf Zyklen aufbaut, sollen diese Zahlen eine erste und grobe Einschätzung des Potenzials eines Filmes erlauben - sozusagen als Massleiste, über die sämtliche weiteren Hochrechnungen geschlagen wer­den. So gilt etwa ein ausländischer Film eines unbekannten Regisseurs als erfolgreich, wenn er 15 000 bis 20 000 Eintritte erreicht. 30 000 verkaufte Karten lassen bereits auf eine Ausnahme schliessen. Durchbricht ein Film diese Schall­grenze, wie dies etwa Les fleurs de Shanghai (Taiwan 1998) von Hou Hsiaou Hsien gelang, der in Frankreich knapp 200000 Zuschauer fand, so ist dies als eigentlicher Paradigmawechsel zu werten. Der Film hatte in Cannes einen lauen Empfang erhalten, was einen Verleih normalerweise zur Vorsicht mahnt. Die positiven Pressereaktionen, das Gedächtnis des Publikums, das sich offenbar trotz seines schwer aussprechbaren Namens an die ungefähr zehn bereits ver­liehenen Filme des taiwanischen Regisseurs erinnerte, sorgten jedoch für einen Synergieeffekt, der die üblichen Auswertungsgrenzen eines derartigen Films sprengte.

Da die Anzahl der verfügbaren Leinwände nicht variabel ist, müssen die Grossverleiher, deren Filme mit mehreren hundert Kopien starten, einen Kom­promiss finden, um eine Frontalkollision mit der Konkurrenz zu vermeiden. Marktgerecht räumt sich meist der Stärkere die Priorität ein - das heisst übli­cherweise jene amerikanischen Produktionen, die ihre Effizienz zuvor auf dem heimischen Markt unter Beweis gestellt haben. Disneys De-facto-Monopol wurde allerdings erst kürzlich unterlaufen, als Spielbergs DreamWorks erst­mals The Prince of Egypt (USA 1998) gegen Mulan (USA 1998) ins Rennen schickte. Auch UFD und Gaumont + Buena Vista brachen im Herbst 1999 das Gentlemen’s Agreement, als zu Beginn der spätsommerlichen Rentrée beide Verleihfirmen Star Wars (George Lucas, USA 1999) respektive Luc Bessons Jeanne d'Arc (F 1999) platzierten. Mit 800 beziehungsweise 500 Kopien, die zusammen fast ein Viertel der insgesamt knapp 4800 Leinwände besetzten, lies­sen sich gewisse kannibalistische Reflexe nicht gänzlich vermeiden. Manchen Filmen gelingt es jedoch, von der Schwäche der Konkurrenz zu profitieren. In der Abwesenheit von zugkräftigen Produktionen wagte beispielsweise der Ver­leih ARP bereits weniger als ein Jahr nach der Lancierung von Taxi (Gérard Pires, F 1998) einen Neustart. Tatsächlich gelang es der Erfolgskomödie, inner­halb von zwei Wochen 100000 zusätzliche Zuschauer zu gewinnen.

Gemeinhin beschreibt die Kinokarriere eines Films eine Kurve, die nach einem steilen Anstieg während des ersten Wochenendes sanft abfällt. Denn in den darauf folgenden Wochen verliert der Film unter Berücksichtigung der wöchentlichen Schwankungen üblicherweise 20 bis 40 Prozent seines Publi­kums. Verzeichnet ein Werk nach der ersten Woche einen Verlust von weniger als zehn Prozent, so ist dies als Erfolg zu werten; Produktionen, die im selben Zeitraum die Hälfte ihrer Zuschauer verlieren, lassen hingegen auf eine krasse Fehleinschätzung ihres Potenzials durch den Verleih und die Marketingexper­ten schliessen. Für den weiteren Verlauf der Karriere eines Films sollen gemäss einschlägigen Untersuchungen - in wachsender Proportion - die Presse, die Besetzung, die Werbung und das Publikumsurteil verantwortlich sein, wobei die Printmedien ungefähr sieben Prozent des Publikums beeinflussen sollen. Je nach Beispiel ist diese generelle Zahl natürlich zu hoch oder zu tief angesetzt: Einer Komödie wie Pedale douce (Gabriel Aghion, F 1996) wird die Presse kaum etwas anhaben können, während kleine Verleihfirmen, deren Promo­tionsbudgets sozusagen inexistent sind, oft auf ein positives Presseecho an­gewiesen sind, um die Existenz ihrer Filme überhaupt erst publik zu machen. Jean-Michel Frodon, der Verantwortliche der Filmseiten der französischen Tageszeitung Le Monde, schreibt den Erfolg von Titanic (James Cameron, USA 1998) jedoch auch der Presse zu, die überwiegend positiv auf das Melodram reagiert hat: Proportional hat Frankreich mit 20 Millionen Zuschauern - genau ein Drittel der gesamten Bevölkerung - dem Schiffbruch eines der höchsten Zuschauerkontingente weltweit geliefert. Diese Zahl ist umso beeindruckender, als für keinen Film in Frankreich vernünftigerweise mehr als sechs Millionen Zuschauer erwartet werden können. Sowohl La grande vadrouille, (F, Oury, 1966, 17 Millionen Zuschauer) als auch Les visiteurs (F, Poiré, 1992, 14 Millio­nen Zuschauer) sind insofern als Ausnahmen zu werten, die trotz ihres zu­schauerfreundlichen Profils das Publikumsverhaltcn als irrational erscheinen lassen.

Ein vergleichbarer Durchmarsch gelingt üblicherweise höchstens Eue Besson, der seit Subway (F 1985) wohl europaweit zum sicheren Wert des Filmgeschäfts avanciert ist. Im Schnitt versammeln seine Filme über vier Millionen Zuschauer allein in Frankreich; für Le grand bleu (F 1987) wurden bis heute zehn Millio­nen Eintritte verkauft. Einzigartig ist indes auch Bessons Konstanz im inter­nationalen Vergleich. Nicht nur in Europa, sondern auch in Nordamerika und Japan spielen seine Filme ein Vermögen ein. 1997 erzielte Le cinquième élément 59 Prozent des Umsatzes der französischen Filme im Ausland, weltweit soll der Film eine Milliarde französischer Francs umgesetzt haben.

Im Grunde beschränkt sich die Aufgabe der Marketingexperten allein dar­auf, das Begehren der Zuschauer zu wecken. Doch eine PR-Kampagne muss intelligent und adäquat angelegt sein. Auch wenn die Werbebudgets grosser Produktionen im letzten Jahrzehnt ins Unermessliche gestiegen sind, vermag ein Werbestratege nicht viel mehr, als einen Impuls zu geben: Er errechnet das spezifische Wirkungspotenzial eines Films und lanciert ihn mit den entspre­chenden Mitteln. Danach verliert er jede Kontrolle. Claude Davy, der in Frankreich für die Kampagne von Astérix et Obélix contre César (Claude Zidi, F 1999) verantwortlich zeichnete, optierte beim Kinostart für eine Strategie, die einem publizistischen Rundumschlag gleichkam. Fotoreportagen in drei gros­sen Wochenzeitungen, die Abendnachrichten von TFi und France 2, zwei Prime Time Shows am Fernsehen und mehrere Stunden Sendezeit auf Radio RTL wurden aufgeboten, um dem Publikum den Film schmackhaft zu machen. Etwas anderes als ein Kassenschlager war gar nicht zu erwarten. Doch in pro­funder Kenntnis seines Metiers erkennt Davy auch die Grenzen seines Ein­flusses: Die Leute sind keine Idioten. Ist ein Film schlecht, erweisen sich auch die Möglichkeiten der PR-Strategen als begrenzt. Eine Kampagne, die mehr verspricht, als der Film halten kann, setzt ihn einem Bumerang-Effekt aus. Denn bereits am Tag nach der Premiere muss jeder Werbefeldzug mit einem Faktor rechnen, der sämtliche Anstrengungen zunichte machen kann: Das Publikum kann sich nicht mehr nur auf Grund von Ausschnitten, sondern in Kenntnis des ganzen Films eine Meinung bilden und diese seinem Umfeld auch kundtun.

Um angesichts dieser unsicheren Sachlage wenigstens ein Minimum an Kontrolle zu behalten, können sich Produzenten auf eine Faustregel besinnen, die ihre Effizienz bereits des Öfteren unter Beweis gestellt hat: Wenn ein Film beim Publikum Anklang gefunden hat, stösst ein Nachfolgefilm a priori auf Interesse. Die Idee eines Sequels, die Produzenten so oft zu verführen vermag, besteht darin, dass der erste Film der Serie als Werbeträger für die nächsten Kapitel genutzt wird. Auch die Kalkulation von Asten.v et Obélix contre César basierte in erster Linie auf den Erwartungen, die ein 200 Millionen zählendes Leserpublikum legitimerweise hegt, wenn die in 85 Sprachen übersetzten Comics auch auf der Leinwand gezeigt werden. Da sich das Konsumverhalten der Kinogänger jedoch von demjenigen der Autokäufer unterscheidet, kann der Raubbau am Zuschauerinteresse auch ins Auge gehen: Allein der (relative) Misserfolg von Les visiteurs II (Jean-Marie Poiré, F 1998) belegt, dass eine akzeptable Idee nicht teile quelle aufgewärmt werden kann, ohne schal zu wer­den. Solche Rückschläge scheinen den Eifer der hoch bezahlten Kopisten aller­dings keineswegs zu dämpfen. Wer Voraussagen wdl, welche Sequels und auch Remakes demnächst ins Kino kommen, muss sich nur die Hitparade der ver­gangenen Jahre vor Augen führen - das Copyright von Le diner de cons wurde wenige Monate nach dem Publikumserfolg nach Amerika verkauft, während die Dreharbeiten zu Taxi II bereits Ende 1999 beendet waren.

Andere Versuche, der Alchemie des filmischen Erfolgs auf die Schliche zu kommen, gründen wiederum auf einer Marktanalyse. Spätestens seit den hohen Zuschauerquoten von Amadeus (Milos Forman, USA 1994) und Farinelli (Gé­rard Corbiau, F/I 1994) hat sich herumgesprochen, dass Filme, die Musik thematisieren, vom breiten Publikum offenbar genossen werden. Zumal Tous les matins du monde (Alain Corneau, F 1991), der eigentlich einem Roman des Schriftstellers Pascal Quignard nachempfunden war, von derselben Welle getra­gen schien. Filme jedoch, die zeitgenössische Unterhaltungsmusik zum Thema haben, finden, mit der bemerkenswerten Ausnahme von On connaît la chanson (Alain Resnais, F 1997), nur selten ihr Publikum. Ähnlich wie Madonna haben sich auch die französischen Sängerstars wie Mylène Farmer (Laurent Bouton­nât, Giorgino, F 1994) und Vanessa Paradis (Jean Becker, Elisa, F 1994; René Manzor, Un amour de sorcière, F 1997; Patrice Leconte, La fille sur le pont, F 1999) jeweils schwer damit getan, sich im Filmgewerbe durchzusetzen.

Teils mag das daran liegen, dass sich das französische Starsystem seit eini­ger Zeit in der Krise befindet. Eine der letzten Produktionen, deren Konzep­tion sich noch mit Erfolg auf die Besetzung beschränkte, war wohl Borsalino (F 1969). Jacques Derays Film absolvierte eine beachtliche Karriere, obwohl sich die dramaturgische Spannung des Films in erster Linie auf das Konkur­renzverhältnis zu beschränken schien, das den beiden Hauptdarstellern Bel­mondo und Delon auch sonst zugeschrieben wurde. Heute jedoch garantieren selbst die bekanntesten Akteure - Depardieu wie Deneuve, Adjani oder Mar­ceau - kaum mehr Minimalzahlen; Une chance sur deux (F 1998) von Patrice Leconte, der die Borsalino-Besetzung mit Vanessa Paradis aktualisierte, geriet gar zum Fiasko an den Kinokassen.

Der Erfolg ist unberechenbarer denn je - sogar Hollywood, dessen In­dustrie jedes Jahr mit neuen Erfolgszahlen an die Presse gelangt, verfügt bei genauerem Hinsehen kaum über eine bessere Trefferquote als die meisten ande­ren Filmnationen: Nur gerade zehn Prozent der Filme werfen auf dem nord­amerikanischen Markt Gewinn ab - eine Erfolgsfrequenz, die in jeder anderen Branche mit einem sofortigen Investitionsstopp quittiert würde.

Insofern haben unabhängige Produzenten gegenüber den grossen Produk­tionsgesellschaften einen schweren Stand. Nur wer aul solide Reserven zurück­greifen kann, vermag eine Reihe finanzieller Niederlagen wegzustecken, ohne den Ruin zu riskieren. Wer den Anschluss an das Publikum verliert, muss sich auf risikoarme Produktionen beschränken, die allerdings selten das Potenzial zu einem Blockbuster besitzen. Gerade bei den Produktionsfirmen mittlerer Grösse lässt sich in dieser Hinsicht eine wechselnde Risikobercitschaft fest­stellen, die in direkter Korrelation zum Cashflow der Gesellschaft steht. Die Produktionsfirma Lazennec, die einst den Ruf genoss, dem Autorenlilm zu industrieller Respektabilität zu verhelfen, machte Ende der Achtzigerjahre mit den Erfolgen von Un monde sans pitié (Eric Rochant, F 1989) und La discrète (Christian Vincent, F 1990) auf sich aufmerksam. Die in Cannes und Venedig errungenen Preise der Regisseure Tran Anh Hung (L’odeur de la papaye verte, F 1993, Cyclo, F 1995) und Mathieu Kassovitz (La haine, F 1999) veredelten die Erfolgsliste und liessen den Produzenten Christophe Rossignon innerhalb weniger Jahre zum angesehensten Talent Scout Frankreichs werden. Doch obgleich gerade die darauf folgenden Filme Eric Rochants wie Les patriotes (F 1994) und Anna Ox (F 1996) in ihrem routinierten Gestus von der grund­sätzlichen Solidität der französischen Filmindustrie zeugten, fügten sie der Firma empfindliche finanzielle Rückschläge zu und zwangen Lazennec, die Verleihstruktur aufzulösen, die ihren Filmen einen ungehinderten Zugang zu den Leinwänden ermöglichen sollte.

Das kühne Unterfangen, das darin besteht, die Kosten eines Filmes in Rela­tion zu seinen Einspielergebnissen zu setzen, ist mithin reich an ausserökono­mischen Erkenntnissen. Zunächst, weil es daran erinnert, dass Filme fürs Kino gemacht werden. Sämtliche anderen Bildträger, selbst wenn sie mittlerweile massiv für die Amortisierung der Produktionskosten - und insofern für die Subsistenz der Filmindustrie - verantwortlich zeichnen, sind allenfalls Repro­duktionen, wie sich Jean-Luc Godard einst ausdrückte. Doch unter den 17 fran­zösischen Filmen (von insgesamt 120 Produktionen), die 1998 ihre Kosten noch während ihrer Kinolaufbahn einspielten und insofern eine perfekte Kohärenz zwischen Kosten und angestammtem Umfeld gefunden haben, befinden sich sowohl Low-Budget-Streifen wie La vie rêvée des anges (Erick Zonca, F 1998) als auch Grossproduktionen wie Les visiteurs II, dessen Produktionskosten auf 155 Millionen Francs beziffert wurden.

Die Qualität eines Films lässt sich weder aus dem finanziellen Gleich­gewicht des Projekts noch aus seiner unmittelbaren Rentabilität schliessen. Auch können Filme sowohl auf Grund ihrer Unterfinanzierung untergehen, als auch an der Indifferenz der Zuschauer scheitern: Erfolge wie Flops sind, bevor die Filme aus der Taufe gehoben werden, unkalkulierbar. Weder Werbe­strategien und Zielpublikumsanalysen noch Zeitgeiststudien und Rezeptden­ken ermöglichen im Voraus, das Profil des Publikums zu zeichnen, das La vérité, si je mens (Thomas Gilou, F 1997) eine Ovation entgegenbringt und Chili con carne (Thomas Gilou, F 1999) verschmäht. Als Charles Tesson, der heutige Redaktionsleiter der Cahiers du cinéma, einen Verleih betrieb, pflegte er unter dem Personal Wetten zu veranstalten. Wer mit seiner Voraussage am krassesten neben die Einspielergebnisse eines neu lancierten Films tippte, musste Champagner kaufen. Damit wurde mehr als ein Misserfolg weggespült.

Patrick Straumann
geb. 1964, studierte Filmwissenschaft, arbeitet als freier Filmjournalist, lebt in Paris.
(Stand: 2018)
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