«Vergessen verlängert das Exil. Die Erinnerung ist das Tor zur Erlösung.» Programmatisch stehen die Sätze von Baal Schern Tow, dem Begründer des chassidischen Volksglaubens, an Anfang und Ende von Walo Deubers filmischer Suche nach Spuren des osteuropäischen Judentums in der heutigen Ukraine, dessen Überlebende nach dem Grauen des Holocaust in der Nachkriegszeit auch noch unter Erinnerungsverbot zu leiden hatten. Erst 1989 wurden Dokumente über die Vernichtungsarbeit der Nazis freigegeben, erst seit kurzem dürfen die letzten noch lebenden Zeugen offen über ihre Erlebnisse sprechen. Wegen des Antisemitismus stalinistischer Prägung und der für die offizielle Geschichtsschreibung peinlichen Kollaboration ukrainischer Behörden mit den Nazis war das Thema fünfzig Jahre lang nicht opportun.
Die filmische Vergegenwärtigung dieser untergegangenen Ecbenswelt, der einst fünf Millionen Juden angehörten, geschieht vor allem über die Sprache. Eine sorgfältig ausgewählte und präzis montierte Textcollage jüdischer Autoren - Joseph Roth, Rose Ausländer, Esaak Babel und Manès Sperber -, die als Voiceover den Zeithorizont bis hin zur Jahrhundertwende öffnet, ergänzen die erzählten Erinnerungen der Zeugen, die Deuber aufgesucht hat. Ausgangspunkt aller filmischen Erinnerungsarbeit bleibt jedoch immer die Gegenwart; auf historische Aufnahmen hat der Autor in seinem ersten Dokumentarfilm vollständig verzichtet.
Die filmische Route führt von Lemberg, der einstigen Hauptstadt Galiziens, über Cernovitz bis hin zu kleinen Ortschaften westlich von Kiew. Die Strassenszenen aus dem post-sowjetischen Alltag konfrontiert Deuber mit Texten von Joseph Roth oder Martin Buber, die vom Leben der Juden in der österreichischungarischen Monarchie erzählen, dann mit Auszügen aus dem Lemberger Ghetto Tagebuch von David Kahane über die ersten Vernichtungslager der Nazis. So werden Strassenzüge, Brücken oder Hinterhöfe durch den Textzusammenhang als Schauplätze einstiger Verbrechen erkennbar - und wirken, inmitten alltäglicher Geschäftigkeit, doch nur gleichgültig. Eine wichtige Rolle spielt deshalb die Musik Dimitri Schostakovitschs oder die traditionelle jüdische Volksmusik, die oftmals einen viel direkteren Zugang zu den Dokumenten und den erschütternden Erzählungen der Zeugen ermöglicht oder ihnen etwas entgegenzusetzen vermag. Dabei leistet auch die Montage (Jürg Messmer) viel für den Film: Während man beispielsweise aus dem Kriegstagebuch von Felix Landau erfährt, was sich im Kopf eines Gestapo-Einsatzleiters abspielt, der auf Befehl in einem Waldstück bei Drohobycz an einem Tag 23 Juden erschiesst, begleitet die Kamera drei Angehörige der Opfer an den Schauplatz des Verbrechens, wo einst 12000 Juden umgebracht wurden. Nach einigen Minuten kehren die gezeigten Bilder in rhythmischer Wiederholung unvermittelt wieder, doch diesmal liest Wolfram Berger die Todesfuge von Paul Celan - und man meint, das Gedicht in dieser schmerzhaften Genauigkeit zum ersten Mal zu vernehmen.