JEN HAAS

CARCASSES ET CRUSTACÉS (ZOL­TAN HORVATH)

SELECTION CINEMA

Es verwundert nur wenig, dass James Came­rons Hollywood-Grosserfolg Titanic (1997) zu weiteren Arbeiten inspiriert und sinkende Ozeandampfer die Fantasien von Filmema­chern beflügeln. Die meisten Spielfilmklassiker werden früher oder später zu einem komischen Kurzfilmkonzentrat weiterverarbeitet. Zoltan Horvaths Animationsfilm muss deshalb als Groteske des grössten Kinoerfolgs aller Zeiten gesehen werden, die gerade deshalb frisch daherkommt, weil sie sich nicht aut die Liebes­geschichte des «Originals» bezieht, sondern auf ein lang vergessenes Detail des Luxusliner-Alltags: die traurige Existenz der Krusten- und Schalentiere.

Carcasses et crustacés handelt von einer Languste, die, von einem Tiefseetaucher ge­fischt, auf den Tellern der schmatzenden High Society im Erstklass-Speisesaal eines Ozean­dampfers landet. Dort werden gelangweilt Fische filetiert und mit Spezialinstrumenten Schalentiere ausgekratzt. Mitten im Saal drehen in einem Aquarium bunte Zierfische apathisch ihre Kunden. Als das Galadiner beim Nach­tisch angelangt ist, stösst das Schiff mit einem Eisberg zusammen, und alle Mecrcstiere, die zu diesem Zeitpunkt noch leben, dürfen sich auf ein glitzerndes Fest unter Wasser freuen.

Horvath erzählt die Geschichte haupt­sächlich assoziativ. Die absurde Innenwelt des Luxusschiffes kontrastiert mit der rauen Aus­senwelt, der kalten Meeresnacht. Und während sich die verwöhnte Oberschicht in ihrem Fress­gebaren an der Natur zu schaffen macht, nagt die Natur an deren Lebensnerv, wie der witzige Höhepunkt illustriert: Just als auf dem Dessert tisch eine Eistorte flambiert wird und schmilzt, wird der Bug vom Eisberg aufgeschlitzt. Am Schluss wirkt der Schiffsrumpf ähnlich zerstört wie die auf dem Speisetisch aufgebrochenen und leer gesaugten Krebse. Die Natur schlägt zurück.

Inszeniert wird diese bunte Rache­geschichte mit Hilfe von Collagetechnik. I Iorväth verwendet dazu Zeitschriftenschnip­sel, Fotografien, Computerbilder und Film­teile. Dieser bildlichen Collage entspricht aul der Tonspur ein Zusammenschnitt aus Ge­schmatze, Geschlürfe und Gemurmel. Ergänzt wird das Festmahl durch die musikalische Untermalung einer Jazzband. Sowohl Musik als auch Ton unterstützen das Bild hervor­ragend. Carcasses et crustacés ist ein technisch perfekter, böser, kulinarischer Augenschmaus mit gutem Ausgang: der Befreiung der Fische.

Jen Haas
geb. 1968, studierte Soziologie, Film- und Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich und arbeitet als freier Journalist in Zürich.
(Stand: 2018)
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