Die Schweiz hatte dem frühen Film vor allem eines zu bieten: Landschaft. Und damit stand sie nicht allein. Als die Kameramänner in der Anfangszeit des Kinos dieWelt nach geeigneten Sujets durchstreiften, brachten sie in erster Linie Veduten nach Hause: Ansichten natürlicher und städtischer Landschaft. Diese Pleinair-Filme - im Freien gedrehte, dokumentarische Streifen - machten in den ersten 15 Jahren den Grossteil der europäischen Filmproduktionen aus. Nach 1911 gewann der Spielfilm zunehmend an Bedeutung, ohne dass die dokumentarischen Aufnahmen jedoch ganz verdrängt wurden. Ihr geringes Ansehen bei den Filmliebhabern überschattet aber bis heute ihre historische Bedeutung.
In den Ländern, deren Markt zu klein war für eine eigene Spielfilmproduktion, kristallisierte sich der Non-Fiction-Film früh als essenziell für die nationale Kinematografie heraus. So auch in der Schweiz: In den Zehnerjahren entstanden hier die ersten Produktionsfirmen, die unter anderem anlässlich der Landesausstellung 1914 lebhaft konkurrierend in Erscheinung traten.1 Zwischen 1896 und dem Ersten Weltkrieg wurden «Schweizer» Filme sowohl im In- als auch im Ausland produziert. Produktion und Auswertung gingen dabei Hand in Hand. Zum Repertoire, das hauptsächlich bei ausländischen Firmen eingekauft wurde, gehörten seit Beginn des Jahrhunderts Werke, welche hiesige Wanderkinobetreiber selbst herstellten. Dabei wurden möglichst Themen von allgemeinem Interesse berücksichtigt, so etwa das eidgenössische Turnfest, Militärmanöver oder die Fête des Vignerons. Zwischen 1907 und 1910 entstanden die ersten sesshaften Kinos, die ebenfalls eigene Streifen für die Aktualitätenschau produzierten. Gezeigt wurden Feuersbrünste, Flugmeetings oder die Visiten bekannter Persönlichkeiten. Leider haben diese Vorläufer der regionalen und nationalen Kino-Wochenschauen, die sich in den Zwanzigerjahren herausbildeten, kaum materielle Spuren hinterlassen.
Die damals verbreitetsten Bildsujets aus der Schweiz stammten in der Regel nicht aus helvetischer Produktion. Pathé, Gaumont, Eclair, Eclipse, Raleigh & Robert, Urban, Welt-Kinematograph, Cines und Ambrosio hiessen die Firmen, die den Markt mit «unseren» Bildern versorgten.2 Das Interesse dieser Produzenten richtete sich auf Orte, von denen sie glaubten, dass sie bei ihrem Publikum auf besonderes Interesse stossen würden.3 Einen Standardbildkanon legten bereits die ersten Filme über die Schweiz fest, wie die Ansichten des lumièreschen Verkaufskatalogs, die unter Aufsicht von Lavanchy-Clarke zwischen Mai und Oktober 1896 zusammengestellt wurden, belegen. Genf, das Schweizerdorf an der Landesausstellung 1896, Lausanne, Montreux, Zermatt, Interlaken, der Rheinfall sowie Basel gehören zu diesem erhaltenen Korpus, das ein gutes Dutzend Veduten umfasst. Wenn man diese als Etappen einer Reiseroute ansieht, könnte man meinen, die Montage sei unter Aufsicht eines Agenten der Cook-Reisegesellschaft vorgenommen worden, die übrigens Vertretungen in Basel und Genf hatte.
Wie das Buch Filmlandschaft4 am Beispiel der Graubündner Regionen zeigen wird, war das Kino hier zu Lande eng mit der Tourismusentwicklung sowie dem Ausbau von Bahn- und Schiffsverbindungen verknüpft. Die Schweiz kristallisierte sich während des 19. Jahrhunderts als Tourismusland heraus. Dabei kam den Engländern eine Schlüsselrolle zu. Dass es folglich auch vor allem Briten waren, die hier als Erste Filme drehten, verwundert nicht. Über diese quantitative Feststellung hinaus wäre es aber wichtig zu erfahren, inwiefern diese Produktionen sich mit in- und ausländischen Werbeanstrengungen für die Schweiz verbanden und inwieweit sie mutmassliche Zuschauererwartungen bedienten. Das Zielpublikum ging dabei weit über die kleine Gruppe effektiv Reisender hinaus.
Die Kinematografie übernahm vom bereits entwickelten Schweizer Fremdenverkehr die Reiserouten und -Stationen sowie die Sujets. Inzwischen hatte sich der Tourismus vom Alpinismus gelöst und verstand sich als kollektives, doch wohlgemerkt (noch) nicht als Massenphänomen. Gleichzeitig wurden sowohl die internationalen Verbindungen wie auch die Panoramalinien - Seil- und Bergbahnen - ausgebaut. Sommer- wie Winterdestinationen erlebten einen wahren Boom.
Mobilität - filmisch umgesetzt im so genannten Panorama (Travelling), das von einem fahrenden Vehikel aus aufgenommen wurde -, unberührte Berglandschaften, mittelalterliche Städtchen, der moderne Komfort der Hotelanlagen, die neusten Trendsportarten - Skifahren, Skispringen, Bob und Eishockey - sowie Wandern und Autofahren: Die kinematografierte Schweiz gab sich als «Spielwiese Europas»5. Der Berg blieb bei aller Vielfalt aber eines der beliebtesten Bildsujets. Als Beispiel sei hier der Entdeckungs-, Sport- und Bergfilm 4628 Meter hoch auf Skiern. Mit Ski und Filmkamera 1913 auf dem Monte Rosa erwähnt.6 Sepp Allgeier führte die Kamera, der Ingenieur Luis Trenker war darin als begnadeter Skifahrer zu sehen. Der Filmtitel versäumt es nicht, nebst den sportlichen Meriten auch auf die kincmatografische Leistung hinzuweisen.
Diese hervorzuheben, befleissigten sich sowohl die Presse, die selbstreflexive Inszenierung im Film7 sowie die Fotodokumentation über den Dreh in den Filmverkaufskatalogen.
Im Gegensatz zur ideologischen Ausformung des Bergfilms in der Zwischenkriegszeit werden in 4628 Meter hoch auf Skiern allerdings der Effort und die erbrachten Opfer nicht besonders hervorgehoben. Der Berg stellt keine magische Macht dar, und ebenso wenig wird eine Beziehung zwischen sportlicher Leistung und Blut-und-Boden-Ideologie hergestellt. Die Gruppe ist auch keine heroische Gemeinschaft, obwohl die Risiken des Aufstiegs und der Talfahrt nicht zu unterschätzen waren.
Majestätische Berglandschaften wurden mit Vorliebe von einer Hochgebirgshütte aus aufgenommen oder zumindest von Orten, die für eine Viereroder Fünferequipe inklusive schwerer Kameraausrüstung erreichbar waren. Doch selbst wenn ein paar wenige Filmemacher der Vorkriegszeit sich auf den Bergfilm spezialisierten, standen die touristischen Vergnügungen im Mittelpunkt der Filmproduktion. Man porträtierte das Leben in den Kurorten - besonders in den Winterdestinationen.
Der Tourismus in der Schweiz bildete sich nicht nur parallel zu der Entwicklung der Transportmittel heraus, sondern auch über eine Standardisierung der Reiserouten und unter Ausschluss jeglichen Kontakts mit den Einheimischen.8 Letztere wurden nur mehr als Störfaktoren in einer ansonsten unberührten Landschaft oder als inkompetente Informanten empfunden - gleichgültig sowohl den Schönheiten der Natur gegenüber als auch den geschichtlichen Spuren. In dieser Epoche funktionierte die Verbindung Tourismus-Folklore noch nicht.
Als eine der wenigen Personen, die man in den filmischen Landschaftsansichten sieht, tritt der Reisende selbst auf, als einsamer Spaziergänger, manchmal zu zweit oder im Kreise der Familie. Er muss nicht unbedingt in jeder Einstellung präsent sein. Aber er ist da am Rand einer Strassenkurve, die über eine Schlucht hinausragt, oder auf einer Terrasse, die den Blick auf einen Berggipfel freigibt. Er fährt auf dem Edeldampfer dem Ufer entlang, wo sich heitere und unberührte Örtlichkeiten ablösen und neue Hotelpaläste im Grünen prangen. Manchmal werden die Reisenden auch aktiv: Als Seilschaft sieht man sie mit ihren Führern durchs Bild marschieren; als Schlittschuhläufer räumen sie den Schnee von der hoteleigenen Eisbahn, was regelmässig in eine Schneeballschlacht ausartet. Oder man sieht sie als Skifahrer, die allerdings eher komisch wirken, entspricht ihre Technik doch nicht ganz unseren modernen Vorstellungen. Die seltenen Filme, in denen Einheimische auftreten, gehören anderen Genres an. Zum einen stellen diese Sitten und Bräuche in den Mittelpunkt wie La vie sur l’Alpe (Eclipse, F 1910). Zum andern dokumentieren sie die einheimische Manufaktur wie La sculpture sur bois à Brien? (Eclipse, F 1910), der ein halbindustrielles, auf Touristen ausgerichtetes Handwerk porträtiert.
Am Beispiel von drei Persönlichkeiten möchte ich die Entwicklungen des frühen Landschaftsfilms näher erläutern: Elizabeth Aubrey Le Blond und ihre Filme zur Zeit der Jahrhundertwende, die zwei Expeditionen des Kameramanns Frank Ormiston-Smith für die Urban Trading Co. zwischen 1902 und 1906 sowie die Produktionen der Burlingham Films, Montreux, in den Zehnerjahren.
Die erste Frau, die in der Schweiz filmte
Elizabeth Aubrey Le Blond (1861-1934) führt uns in die frühesten Jahre des Kinos zurück. Die Hand voll Filme, die ihr zugeschrieben werden, drehte sie in Sankt Moritz zwischen 1899 und 1900. Ihr kurzlebiges Engagement in diesem Bereich sollte bisher nicht für einen Eintrag in die Annalen der Filmhistorie reichen. Elizabeth Aubrey Le Blond selbst machte kein Aufhebens daraus, und ihre Biografen waren darüber wahrscheinlich gar nicht im Bilde: Sie beschrieben sie als exzentrische viktorianische «Sportswoman» (Fahrrad und Automobil), als Schriftstellerin, die sich auf Reiseberichte spezialisiert hatte, als Fotografin und pionierhafte Bergsteigerin, die mit Vorliebe im Winter unterwegs war, sowie als Gründerin des Ladies’ Alpine Club 1907, dem sie bis zu ihrem Tod als Präsidentin Vorstand.9
Geboren wurde sie als Elizabeth Alice Frances, um dann - ein ums andere Mal verwitwet - Mrs. Burnaby, Mrs. Main und schliesslich, ab 1900, Mrs. Aubrey Le Blond zu heissen. Sie hielt sich, so scheint es, seit den 1880er-Jahren verschiedentlich in der Schweiz auf, besonders in Sankt Moritz. Der General Catalogue of British Books von 1962 führt die Bedeutung ihrer Publikationen vor Augen: Zwischen 1883 und 1913 veröffentlichte sie nicht weniger als acht Werke über die Alpen. Eine erste Nennung in der Geschichte der Kinematografie erhielt sie 1995 im Who’s Who of Victorian Cinema, wo Stephen Bottomore ihr einen Eintrag widmete.
Ihre filmische Tätigkeit ist in zwei zeitgenössischen Texten verbürgt: In einer Ausgabe von Animated Photography von Cecil Hepworth von 1900 - einem der ersten Werke, die dem Kinematografen gewidmet sind - findet man eine Bemerkung über ihre «interesting subjects [...] of snow sports in alpine regions». Und eine Ausgabe des Verkaufskatalogs der englischen Firma Williamson, im Herbst 1902 erschienen, liefert eine Liste von «Ansichten» sowie acht Filmkader. Unter dem Titel «Winter Sports in the Engadine» werden zehn Filme angeboten, die im Ganzen zwischen 165 und 200 Meter lang sind (von einer Gesamtdauer zwischen neun und elf Minuten). Jede einzelne Ansicht bestand vermutlich aus einer ungefähr einminütigen Einstellung - wie das für die Streifen um 1900, sei es Spiel- oder Plein-air-Film, üblich war. Alle diese Filme führen die sportlichen Aktivitäten der Gäste des Kurorts vor: eine Schneeballschlacht, Pferdeschlitten, Bob (die berühmte Cresta Run), Schlitteln, Schlittschuhfahren («the celebrated Canadian skater, Mr. Vail») und Hockey. Einzig das Skifahren fehlt. Gleichzeitig wurden auch bestimmte Lokalitäten wie das Hotel Kulm oder das Restaurant Belvoir namentlich vorgeführt. Ein Teil dieser Sportarten - auf Amateurniveau - findet sich im Buch Winter Sports in Switzerland (1913) von E.F. Benson wieder, worin Elizabeth Aubrey Le Blond Fotosequenzen über verschiedene sportliche Aktivitäten sowie Naturaufnahmen veröffentlichte. Die Filme wurden im Thermalkurort Sankt Moritz gedreht, dessen touristische Entwicklung in den 1870er-Jahren einsetzte und das sich um die Jahrhundertwende als Winterkurort etablieren konnte.10
Pittoreske Schweiz: Frank Ormiston-Smith
Während die Hintergründe der Produktion von Mrs. Aubrey Le Blond noch weitgehend im Dunkeln liegen - war es ihre persönliche Initiative? Ein Auftrag? Hat sie die Kamera selbst geführt oder sie delegiert wie Lavanchy-Clarke an Constant Girel? Wie kamen ihre Filme in den Williamson-Katalog? -, gehört der im Folgenden beschriebene Cineast eindeutig zur Gruppe professioneller Kameramänner, die um 1900 aktiv waren.
Die 1903 gegründete Produktions- und Verkaufsfirma von Charles Urban brachte bis 1906 rund tausend Filme auf den Markt, darunter ein Grossteil Plein-air-Streifen. Die Schweiz nimmt darin einen ihrem touristischen Renommée in England entsprechenden Platz ein. Einer der wichtigsten Kameramänner der Firma, Frank Ormiston-Smith, war im Auftrag von Urban bereits im September 1902 auf dem Montblanc und dem Schreckhorn gewesen.11 Uns interessieren hier allerdings nur die Produktionen des Urban-Katalogs von 1903. Dort nehmen die Schweizer Filme von Ormiston-Smith, «the eminent mountaineering photographer», einen besonderen Platz ein, der ganz und gar nicht der heute verbreiteten Meinung vom anonymen Kurbeldrehcr entspricht - einer Vorstellung, in der sich mehrere hartnäckige Vorurteile konzentrieren, sei es in Bezug auf die mutmassliche Anspruchslosigkeit der Kameraarbeit, die Abwesenheit eines Regisseurs oder die Indifferenz gegenüber dem filmischen Vokabular, sobald es sich nicht um ein fiktionales Werk handelt.
Die Wertschätzung des Kameramanns als Autor eines Films misst sich am Wert der Bilder, die er von den Alpen, aus Kanada, aus Russland oder Japan zurückbrachte. Die Darstellung im Urban-Katalog belegt dies: Die Werke werden in zahlreichen Filmabbildungen evoziert, ihre Sujets in Fotografien festgehalten. Dabei handelt es sich vermutlich weniger um Filmkader als um Fotos, die parallel zum Film aufgenommen wurden; manchmal dokumentieren sie den Dreh. Die Filme sind nach Kategorien aufgeteilt: «The Wintry Alps»; zwei Gruppen, die mit «Picturesque Switzerland» überschrieben sind; «The Matterhorn conquered by the Bioscope» und «Ascent of the Jungfrau».
Diese Serien bieten eine so reiche Auswahl an Schweizer Sujets, dass sie - in dieser Konzentration - wohl zu den vielfältigsten des ersten Jahrzehnts gezählt werden können. Die Streifen messen zwischen 15 und 53 Metern (zwischen einer und drei Minuten). Ein paar wenige «specials» haben eine Länge von 76 beziehungsweise 106 Metern (zwischen vier und sechs Minuten). In der Regel handelt es sich um Filme, in denen verschiedene Ansichten aneinander gefügt wurden. Der ausführlichste, A Trip Around the Lake of the lour Cantons, Switzerland, bietet eine vollständige Reiseroute in elf Tableaus (106 Meter) mit Zwischentiteln von «Lake Steamer Leaving Lucerne» bis «Fluellen - End of the Trip». Der Katalog von 1903 bietet insgesamt mehr als 1500 Meter Film, das heisst rund anderthalb Stunden Dauer.
Bis hier hat unsere Rekognoszierung von einem englischen Standpunkt aus stattgefunden. Doch eine Verdankung im Urban-Katalog von 1903 erlaubt es uns, die Seite zu wechseln. Die erste Serie von «Picturesque Switzerland», welche Seen und Landschaften des Berner Oberlands reproduziert, wird dort angepriesen als: «gefilmt von Ormiston-Smith by courtesy of Herr H. Hartmann, Secretary to the Oberländischer [sic] Verkehrsverein of Interlaken». Dieser ist niemand anders als Hermann Hartmann (1865-1932), Vater des Begründers des Schweizer Schul- und Volkskinos, Milton Ray Hartmann. Letzterer war 1903 gerade mal fünf Jahre alt und wird sich in Mein Lebenswerk, in dem er seine Laufbahn beschreibt, noch nach vielen Jahren an diese Dreharbeiten erinnern.12
Obwohl skizzenhaft, sind Hartmanns Erinnerungen sehr wertvoll, helfen sie doch, die Existenz filmischer Aktivitäten in der Schweiz viel früher anzusetzen als bisher angenommen. Zudem legen sie Zeugnis von der Internationalität der Verbindungen ab. Seine Notizen, in welchen der Name der englischen Firma nicht vorkommt, lassen sich auch als eine Art Inanspruchnahme der Autorenschaft interpretieren - weniger in Bezug auf den Film selbst als in einem konzeptuellen Sinn bezüglich Idee und Nutzung im Dienste touristischer Promotion. Allerdings fehlen uns genauere Informationen über die Beschaffenheit der Beziehung zwischen der Urban Trading Co. und dem Berner Oberländer Verkehrsverein sowie Angaben dazu, ob die Filme zu spezifisch werbetechnischen Zwecken ausgewertet wurden - ausserhalb der damals üblichen Vorführungen im Rahmen von Jahrmärkten und Varietésâlen.
Von diesen Filmen bleiben nur Fragmente, die hauptsächlich im Londoner National Film and Television Archive aulbewahrt werden. Bisher waren sie noch nicht Objekt einer spezifischen Studie, obwohl sie seltene filmische Zeugnisse des Wallis, der Alpen oder der Stadt Bern sind und zu den ältesten vorhandenen Aufnahmen dieser Gegenden gehören. Es ist wahrscheinlich, dass der Streifen, der apokryph mit Cervin 1901 betitelt wurde und von der Médiathèque Valais in Martigny als Videokopie hie und da gezeigt wird, die x-te Kopie einer Kopie aus diesem Ensemble darstellt. Die Besteigung des Matterhorns durch Ormiston-Smith fand am 28. September 1903 statt und wird so kommentiert: «The conquest was completed by bioscoping of the marvellous panorama from the actual summit of the Matterhorn, 14 780 feet above the level of the sea.»
Exotische Landschaft Schweiz: Frederick Burlingham
1997 kamen durch einen restaurierten Film der Cinémathèque suisse ganz erstaunliche Bilder aus dem Lötschental wieder in Umlauf. Es sind zweifellos die ersten Aufnahmen dieser Landschaft. Während sich das Interesse Europas auf die monumentale Baustelle der Lötschberglinie konzentrierte, die 1913 eingeweiht wurde (Arbeiten und Einweihung wurden selbstverständlich gefilmt), blieb das Tal grösstenteils unbekannt - ausser im Kreise des Schweizer Alpenclubs sowie unter Volkskundlern, darunter dem Agraringenieur Gottlieb Stehler, der im Film zu sehen ist.
La vallèe de Lötschenthal wurde 1916 von Frederick Burlingham, der 1877 in Baltimore geboren wurde, gedreht. Bei uns tauchte sein Name zum ersten Mal in einer Anmerkung von Hervé Dumonts Geschichte des Schweizer Films13 auf. Es dauerte lange, bis ein Historiker sich der dort zitierten Filmografie in der Zeitschrift Kinema (1911-1919) annahm. Zusätzlich erhielt die Forschung einen Anstoss durch die Hofmann-Sammlung, die 1997 in der Cinémathèque eingelagert wurde, enthielt diese doch zwei fragile Kopien aus der Zeit unter dem Label «Burlingham Films, Montreux»: einen Reisefilm aus Chamonix, Chamonix im Sommer, sowie La vallée de Lötschenthal, der den Untertitel trägt La Suisse inconnue.
Dieser Film gehört insofern nicht zu unserem Thema, als er weder eine Reise noch einen Ort präsentiert, der den Anforderungen des zeitgenössischen Tourismus genügte. So paradox es klingen mag, rückt ihn seine exotische Dimension in die Nähe von Pathé-Filmen, wie zum Beispiel den ein paar Jahre früher von Alfred Machin und dem Basler Safariführer Adam David gedrehten Streifen über die Chillouks im Sudan. Als Burlinghams Film in London unter dem Titel Village Life in the Lötschenthal gezeigt wurde, begann die Zeitschrift Pictures and the Picturegoer vom 28. Oktober 1916 dessen Beschreibung so: «Scenic. One reel. The Lötschenthal, the wildest valley in Europe, is inhabited by a primitive people.» Exotismus - und auch Abenteuer - finden nicht unbedingt nur dort statt, wo wir sie vermuten. Die Bergfilme aus diesen Jahren verdienen es unbedingt, unter diesem Aspekt betrachtet zu werden.
Auch dem Dreh von Erforschungen auf dem Aletschgletscher (1917) haftet ein Touch von Entdeckungsreise an. Für das Filmprojekt «auf dem grössten Gletscher der Welt, ausgenommen der Himalaja und die arktischen Regionen»,14 zählte man sogar auf die Dienste von Schlittenhunden. Es fehlen weder die Anekdoten über das risikoreiche Unternehmen noch die Hervorhebung der Originalität der Bilder, die eine kinematografischc Premiere darstellten.15
Burlinghams filmische Karriere - soweit man das auf Grund des aktuellen Forschungsstands beurteilen kann - basiert zur Gänze auf einem sportfilmischen sowie einem auf Entdeckung ausgerichteten Exploit: Er gelangte vom Ätna (My Dash into the Inferno of the Vesuvius, 23.-28. Dezember 1913) über die Schweizer und französischen Alpen bis zum Indischen Ozean (Het Eiland Romeo, so der niederländische Titel der im Filmmuseum Amsterdam aufbewahrten Kopie [etwa 1920]). Doch seine Produktion besteht längst nicht nur aus sensationellen Aufnahmen. Sie weist auch eine Kontinuität auf bezüglich der Sujets, die zehn Jahre vor ihm Ormiston-Smith für Urban aus der Schweiz nach Hause brachte. Im Übrigen machte Burlingham seine ersten filmischen Schritte für ebendiese Firma sowie für deren Konkurrentin British and Colonial Kinematograph.16 Dort findet man Reiseberichte, pittoreske Ansichten historischer Städte, touristische Sehenswürdigkeiten - von der Bahn aus aufgenommen - sowie das Angebot renommierter Kurorte, darunter ein kostbarer erhaltener Streifen über Loèche-les-Bains: A Wonder Spa in the Alps (1915).
Als sich Burlingham während seiner Schweizer Zeit in Montreux niederliess, beehrte er damit nicht nur einen der berühmtesten Ferienorte in Europa. In Montreux kreuzten sich auch die Bahnen, die in Burlinghams bevorzugte Alpenregionen führten, mit den grossen internationalen Linien. An der Waadtländer Riviera angesiedelt, war dieser amerikanische Globetrotter über mehrere Jahre vielleicht der wichtigste Filmproduzent in der Schweiz. Und er stand dem einzigen unabhängigen Vertrieb vor, der in diesem Ausmass Produktionen herstellte, die von den englischen Firmen British and Colonial Kinematograph, Charles Urban, New Agency Film sowie den amerikanischen Trans Oceanic Film oder Lasky verkauft wurden. Wahrscheinlich ist es nur dem Zufall zu verdanken, dass Burlingham hier seine Zelte aufschlug. Als der Erste Weltkrieg die Reisefreiheit empfindlich einschränkte, entschloss er sich zu diesem wohl von Beginn weg provisorischen Aufenthalt - nicht zuletzt auch als Ausgangspunkt für seine Bergtouren. Nach Ende des Kriegs zog Burlingham weiter.
Während seines Aufenthalts in der Schweiz zwischen 1912 und 1919 drehte Burlingham nicht weniger als 50 Titel und brachte sie in Umlauf. Die meisten davon entstanden in der Haute-Savoie, im Wallis und im Berner Oberland sowie im Engadin. Zusammen ergeben die in der Zeitschrift Kinema angeführten Streifen (nach Orten aufgelistet) rund 9000 Meter Film, das entspricht etwa achteinhalb Stunden Dauer. Die Länge der Filme bewegt sich zwischen 80 und 400 Metern beziehungsweise zwischen 4 und 22 Minuten.17
Was bereits in Bezug auf die Wertschätzung des Plein-air-Kameramanns in der Hierarchie der kincmatografischen Berufe erwähnt wurde, trifft voll und ganz auf Burlingham zu. Auf dem Titelblatt seines Buchs How to Become an Alpinist wird er als «der Mann, der das Matterhorn filmte», bezeichnet (den Film Besteigung des Matterhorns drehte er vom 1. auf den 2. Juli 1913). Und Burlingham selbst kultivierte das Bild des Cineasten-Abenteurers, des «Sportsman» und Entdeckers. Als Folge der umwälzenden Veränderungen in der Filmauswertung während der Zehnerjahre durch die neuen Kinohäuser traf ein Filmemacher wie er auf vielseitigen Zuspruch und rege Nachfrage: Filmrevuen sowohl für Fachleute als auch für ein Laienpublikum, eine Bildpresse, die sich dem dokumentarischen Bild gegenüber - sei es als Fotografie, sei es als Film - empfänglich zeigte, und nicht zu vergessen die Tageszeitungen, die interessiert waren, über die Dreharbeiten zu berichten oder Einzelheiten über die Besteigung und deren Verfilmung zu schildern. Eine vertiefendere Recherche würde es erlauben, die Geschichte eines der aktivsten Protagonisten der Schweizer Filmhistorie vor den Zwanzigerjahren nachzuzeichnen, der vermutlich einheimischen Unternehmerpersönlichkeiten als Vorbild diente.
Perspektiven
Den zahlreichen Fragen, die auf den letzten Seiten immer wieder aufgetaucht sind, haftet nichts Rhetorisches an. Sie sollen einerseits die Grenzen der bisherigen Erkenntnisse aufzeigen und gleichzeitig Forschungsperspektiven anbieten. Die wichtigste ist diejenige der Beziehung zwischen Film und Tourismus in der Zeit zwischen 1896 und der Mitte der Zehnerjahre. Wie entwickelte sie sich weiter? Welchen Anteil hatte sie an der Diskussion über die filmische Vermittlung einer nationalen Identität, die in den Zehnerjahren begann und noch vordem Dreissigerjahren an Bedeutung gewann?
Eine Geschichte des Films in der Schweiz zu schreiben, heisst, die Elemente zu interpretieren, die eine Recherche an die Oberfläche befördert. Eine solche Recherche muss auch Forschungsarbeiten in Betracht ziehen - wenn sie denn existieren! -, die sich thematisch mit der eigenen überschneiden: auf kultureller, sozialer oder ökonomischer Ebene - sei es die Geschichte des Fremdenverkehrs, der Hotellerie, der Transportmittel, des Sports. Diese Verknüpfungen sind ebenso essenziell wie komplex. Erst eine solche Forschung kann Aufschluss geben über die wichtigsten Produktionskräfte und ihre Beweggründe und macht eine kritische Analyse des Filminhalts überhaupt möglich.
Übersetzung: Doris Senn