FRANCESCO LARATTA

CATTOLICA (RUDOLPH JULA)

SELECTION CINEMA

«Stell dir vor, wir wären hier aufgewachsen. Wir würden Italienisch sprechen und wären wahrscheinlich stockkatholisch. Wir würden genauso aussehen, wären aber ganz andere Menschen.» Irgendwo im südlichen Italien stehen Stefan (Lucas Gregorowicz) und Martin (Merab Ninidze) inmitten eines pittoresken Dörfchens – vor ihnen erstreckt sich ein friedliches Postkartenidyll. Vor zwei Tagen noch kannten sich die zwei Deutschen nicht einmal, nun reisen sie gemeinsam, auf der Suche nach ihrem leiblichen Vater, quer durch Italien. Nach anfänglichen Missverständnissen – Stefan sah in seinem Bruder vorerst einen potenziellen One-Night-Stand –, einer langen Autofahrt Richtung Süden und einem kurzen Aufenthalt im von Touristen überlaufenen Cattolica sind die zwei Suchenden in der ländlichen Umgebung des Städtchens angekommen. Irgendwo hier lebt wahrscheinlich ihr Vater, von dessen Existenz sie ihr Leben lang nichts wussten. Erst nach dem Tod der Mutter, beim Räumen ihrer Wohnung, fielen Martin ein Liebesbrief auf Italienisch, ein Fotoalbum und ein weiterer Brief in die Hände, adressiert an Stefan, den die Mutter damals kurz nach der Entbindung zur Adoption freigegeben hatte – genau neun Monate nach den Strandferien in Cattolica. Dieser Brief offenbart Martin, dass er kein Einzelkind ist, sowie die Wahrheit über seinen leiblichen Vater, einen italienischen Gastarbeiter namens Giuseppe (Giacinto Ferro).

Rudolph Jula, Drehbuchautor und Regisseur, erzählt in Cattolica die Geschichte einer Vatersuche zweier ungleicher Brüder. Emigration, Scheidung, Adoption – Martin und Stefan sehen sich plötzlich mit grundlegenden Identitätsund Familienfragen konfrontiert. Julas Interesse gilt dabei insbesondere den Sehnsüchten, die durch das Aufreissen traditioneller Familienstrukturen und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Veränderungen geweckt werden. Entsprechend steht die schwierige Beziehung der beiden Protagonisten, die aus vollkommen unterschiedlichen Lebenswelten stammen, im Mittelpunkt. Der lockere, den Sinnesfreuden nicht abgeneigte Barkeeper Stefan und der eher introvertierte, geradlinige Martin sind sich zu Beginn nämlich nicht gerade sympathisch. Mit viel Feingefühl begleitet Jula die beiden Brüder auf ihrer Reise, die sie aus einer inneren Notwendigkeit anzutreten scheinen. Ihre eher zögerliche Annäherung, ihre Streitigkeiten und schliesslich die daraus resultierende Freundschaft beziehungsweise Bruderschaft finden Ausdruck in pointierten Dialogen und eindrücklichen Bildern.

Schliesslich entpuppt sich die tatsächliche Begegnung mit ihrem leiblichen Vater als eher nebensächlich – in Wahrheit ist die Reise unabhängig vom Ziel eine biografische Standortbestimmung. So weckt sie in Martin, nach seiner Scheidung in Sachen Liebe leicht verbittert, wieder Lust auf romantische Gefühle – ein nachhaltiger Flirt zeugt davon. Stefan freut sich auf die Rückkehr nach Deutschland. Nicht nur hat er einen Bruder gewonnen, auf ihn wartet auch sein Neffe, mit welchem der frischgebackene Onkel das heimische Fussballstadion unsicher machen wird.

Francesco Laratta
geb. 1977, Studium der Publizistik, Italienischen Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Zürich. Lebt und arbeitet als Kulturjournalist in Zürich.
(Stand: 2006)
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