THOMAS CHRISTEN / LUZIA VON DESCHWANDEN

DIE BEIDEN MARTIN SCH. UND DER NEUE SCHWEIZER FILM

CH-FENSTER

Der Schweizer Film, will er künstlerisch nicht sterben, wird deshalb den Mut fassen müssen, das schwitzende Alltagsantlitz unseres Volkes zu spiegeln.

ms., Neue Zürcher Zeitung vom 21. Oktober 1958

Film ist nicht Wirklichkeit und nicht Wirklichkeitsersatz. Film ist Licht von einer bestimmten Farbe. Es gibt Filme mit schweizerischen Farben. Und die Mehrheit der Schweizer sieht sie nicht.

sb., Tages-Anzeiger-Magazin vom 7. Februar 1970

Die grundlegende Erneuerung des Schweizer Films in den Sechzigerund Siebzigerjahren ist unter der Bezeichnung «Neuer Schweizer Film» in die Filmgeschichte eingegangen. Wenig bekannt und untersucht sind die publizistischen Umstände, die zeitgenössische Rezeption durch die Filmpublizistik, die diese Erneuerungsbewegung begleiteten. Unsere Darstellung versteht sich als Beitrag zur Erhellung des Prozesses der Filmgeschichtsschreibung anhand des Neuen Schweizer Films. Im Mittelpunkt stehen die Rezensionen und Abhandlungen zweier markanter Kritikerpersönlichkeiten, die als Redaktoren der beiden in Zürich erscheinenden Tageszeitungen Neue Zürcher Zeitung und Tages-Anzeiger während der fraglichen Zeit (Mitte Sechzigerbis Ende Siebzigerjahre) für den Bereich Film verantwortlich waren: Martin Schlappner und Martin Schaub.1 In die Überlegung werden auch Artikel von Mitarbeitenden einbezogen, um weitere Aufschlüsse über den Prozess der «Konstruktion» des Neuen Schweizer Films zu erhalten. Die Ausgangsfragen lauten: Wie wird der Neue Schweizer Film in diesen Veröffentlichungen dargestellt, welche Eigenheiten werden ihm zugeschrieben? Gibt es zwischen diesen beiden Kommentatoren einen Konsens, einen gemeinsamen Nenner oder markante Unterschiede?

Die Protagonisten

Martin Schlappner (1919–1998), promovierter Germanist und Kunsthistoriker, von Zeitgenossen auch als «Filmpapst» bezeichnet, verbringt praktisch sein ganzes Erwerbsleben bei der Neuen Zürcher Zeitung. Er schreibt über Film, aber auch über Fernsehen, Radio, Architektur und Tourismus. Von 1956 bis zur Pensionierung im Jahre 1984 arbeitet er als Redaktor, zunächst im Lokalteil, ab 1969 als Verantwortlicher des neu geschaffenen Beilagenressorts. Sein Hauptinteresse gilt dem Film, wiederkehrende Themen seiner publizistischen Tätigkeit sind der «Ostfilm», Jugend bzw. Religion und Film sowie der italienische Film (insbesondere der Neorealismus). Daneben setzt er sich immer auch mit dem schweizerischen Filmschaffen auseinander.

Schlappner hält als gefragter Filmexperte regelmässig Vorträge, äussert sich im Radio und am Fernsehen,2 hält Gastvorlesungen an verschiedenen Universitäten.3 Er publiziert mehrere Filmbücher und engagiert sich in filmpolitischen Kommissionen. Schlappner ist, ab den Sechzigerjahren, während 25 Jahren Mitglied der Jury der eidgenössischen Filmförderung und später während zwölf Jahren Gutachter für die Jubiläumsstiftung einer Grossbank, die das Sponsoring einheimischer Filmproduktionen bezweckt. Auch bei den von der jungen Generation von Filmschaffenden begründeten Institutionen engagiert sich Schlappner: Er ist Stiftungsrat des Schweizerischen Filmzentrums und erster Präsident der Solothurner Filmtage. Nach seiner Pensionierung publiziert er weiterhin, nun als freier Mitarbeiter, bei der Neuen Zürcher Zeitung; er schreibt aber auch für andere Tageszeitungen, für die Filmzeitschrift Zoom und die Programmzeitung des Filmpodiums der Stadt Zürich. Für seine Tätigkeit als Filmkritiker und Kulturförderer wird Martin Schlappner verschiedentlich mit Auszeichnungen geehrt.

Martin Schaub (1937–2003), ebenfalls promovierter Germanist, beginnt seine Karriere als Filmjournalist bei Martin Schlappner und der Neuen Zürcher Zeitung. Auch nach Schaubs Weggang arbeiten die beiden, die über Jahrzehnte im gleichen Haus an der Steinstrasse in Zürich leben, zum Teil an gemeinsamen Projekten, obwohl sie in der Öffentlichkeit eher als Antagonisten wahrgenommen werden. Schaub wechselt 1968 zum (damals politisch deutlich progressiven, «linken») Tages-Anzeiger, wo er später auch zu den Mitbegründern und Redaktoren des viel beachteten Tages-Anzeiger-Magazins gehört. Er wird zum eigentlichen Anwalt des Neuen Schweizer Films. Nicht nur, dass er viele der Filme seiner Altersgenossen und Altersgenossinnen (mit denen er teilweise auch freundschaftlich verbunden ist) bespricht, er lässt sie oft auch selber ausführlich zu Wort kommen. Im gemeinsam mit Schlappner verfassten Buch übernimmt er den Teil über den Neuen Schweizer Film.4 Neben seiner Tätigkeit für den Tages-Anzeiger publiziert er immer wieder in der Weltwoche und verschiedenen anderen in- und ausländischen Zeitungen und Zeitschriften, unter anderen in CINEMA, für das er zudem zehn Jahre lang editorisch tätig ist. Sein Hauptthema ist zunächst der Film, später schreibt er vermehrt über Fotografie und Kunst. Martin Schaub setzt sich nicht nur schreibend immer wieder mit dem Schweizer Film auseinander, er realisiert auch drei eigene Essayfilme: Sieben Briefe (1982), Suchlauf (1985) und Die Insel (1993). Im Jahre 2000 wird Schaub, wie Schlappner einige Jahre zuvor, von der Stadt Zürich für seine allgemeinen kulturellen Verdienste ausgezeichnet.

Der Neue Schweizer Film – Version Schlappner

Der erste explizite Hinweis darauf, dass sich im Schweizer Film nennenswert Neues tut, taucht in der Neuen Zürcher Zeitung in einem Artikel vom 3. Mai 1964 auf. Darin ist die Rede vom «jungen Schweizer Film».5 Die Erneuerung folgt auf eine lang andauernde Krise. Von einer fast zehnjährigen Stagnation des Schweizer Films und von der Gefahr, in eine fatale Krise zu schlittern, hat Martin Schlappner schon sechs Jahre früher in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung gesprochen (NZZ vom 21. Oktober 1958). In seiner präzisen Zustandsdiagnose macht er verschiedene Ursachen der Misere aus. Insbesondere stellt er fest, dass das alte Rezept, sich an literarisch bedeutende Stoffe zu halten, eine kritische Gegenwartsbetrachtung verhindert – womit das Filmschaffen an den Interessen eines sich verändernden Publikums vorbeiziele. Schlappner meint daher, dass der Schweizer Film gut daran täte, vermehrt individuelle Alltagsrealitäten zu thematisieren (NZZ vom 21. Oktober 1958). Bezeichnenderweise ist dieser frühe Artikel mit «Sonntag oder Alltag» betitelt.

Schlappner sieht aber durchaus viel versprechende, wenn auch zaghafte Zeichen einer Entwicklung in die von ihm angedeutete Richtung – bei Max Haufler etwa (NZZ vom 9. Juni 1965) oder Kurt Früh (NZZ vom 16. Februar 1962), vor allem aber bei Henry Brandt, dem er rückwirkend eine Schlüsselrolle beim Übergang vom «alten» zum «neuen» Schweizer Film zuschreibt. Den ethnographischen Blick, den der Regisseur in Quand nous étions petits enfants (1961) auf die Schweiz wirft, bewertet der Kritiker als Pionierleistung, an der sich andere Filmschaffende später gemessen haben (NZZ vom 1. Juni 1976). In La Suisse s’interroge (1964) streift Brandt Themen, die laut Schlappner im Spiel- und Dokumentarfilm zu behandeln wären.6 Offen und wohlwollend beobachtet Martin Schlappner die ersten filmischen Versuche von jungen Filmschaffenden und äussert die Hoffnung, dass von viel versprechenden Talenten wie Fredi M. Murer,7 Alexander J. Seiler oder Rob Gnant eine Erneuerung des Schweizer Films ausgehen werde (NZZ vom 15. Juni 1963). Konsequenterweise fordert er eine stärkere Förderung des Nachwuchses (NZZ vom 18. April 1965).

Das Filmschaffen verändert sich dann effektiv innerhalb von wenigen Jahren dermassen grundlegend, dass die Rede vom Neuen Schweizer Film gerechtfertigt ist. In seinen Filmkritiken in der Neuen Zürcher Zeitung benennt Schlappner vereinzelt, was in seinen Augen das Neue ausmacht, zeigt aber auch auf, wo er Kontinuitäten sieht. Eine frühe Zusammenfassung seiner Sicht auf den Neuen Schweizer Film findet sich im 1968 erschienenen Artikel «Wandlungen im Schweizer Film». Kontinuitäten sieht er nicht nur personell (siehe Brandt u. a.), sondern auch thematisch: Erhalten bleibe, auf den ersten Blick etwas erstaunlich, der Bezug zur Heimat. Doch die Beziehung zu ihrem Land, wie sie die beiden Generationen von Filmschaffenden in ihren Filmen darstellen, könnte laut Schlappner nicht unterschiedlicher sein. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern weigern sich die jungen Filmschaffenden, «das Bild der Schweiz auf den bäuerlichen Heimatfilm oder den Film aus der kleinbürgerlichen und der folkloristisch aussenseiterischen Welt festzulegen».8 Sie versuchen den Spagat zwischen heimatlicher Verwurzelung und internationaler Ausstrahlung. Die jungen Filmer und Filmerinnen suchen «das Gehör des Auslandes aus der Perspektive schweizerischer Situation, die aber nicht mehr als das Besondere, sondern als das Allgemeine erlebt und aufgefasst wird».9 Wo viele Vertreter der Vätergeneration zu Biederschönfärberischem tendieren, setzen sich die Jungen kritisch mit Gegenwart und Alltagsrealität auseinander. Schlappner formuliert das folgendermassen: «Verwendet man den Begriff der Qualität für einmal künstlerisch wertfrei, so wird man getrost sagen dürfen, dass der Schweizer Film in eben diesen ersten zehn Jahren zu einer neuen Qualität gelangt ist: zur Qualität der Aufmerksamkeit und des Engagements gegenüber den politischen und gesellschaftlichen Problemen und Themen unseres nationalen Daseins» (NZZ vom 24. Januar 1975). Neben dem kritischen Blick impliziert diese neue Qualität für Schlappner auch, dass die Filme nicht primär unterhalten wollen,10 sondern vom Publikum ein aktives Mitdenken fordern. «Sie [die jungen Filmschaffenden] wollen einen verpflichtenden Film, und zwar auch dann, wenn er der Unterhaltung dient.»11 Typisch für den «neuen» Film sei auch, dass die Dokumentarfilmschaffenden den Anspruch haben, nicht für die Porträtierten zu sprechen, sondern diese selber reden lassen. Die jungen Filmschaffenden richten ihre Tätigkeit nicht primär kommerziell aus, sie verstehen, so stellt Schlappner fest, Film als Kunst.12 Im Gegensatz dazu sei die Stoffwahl der meisten Vertreter des «alten» Films mutlos und einseitig auf kommerziellen Erfolg ausgerichtet. Künstlerische Experimente würden tunlichst vermieden und das Filmspezifische nicht ausgeschöpft (NZZ vom 21. Oktober 1958).

Auch bei der Herstellung gehen die Jungfilmer und -filmerinnen neue Wege. Einerseits arbeiten sie mit kleinen bis sehr kleinen Budgets. Verbreitet ist daher das Drehen mit 16-mm-Film, der dann auf 35 mm aufgeblasen wird. Beliebt ist zudem lichtempfindliches Filmmaterial, das es erlaubt, ohne aufwändigen und teuren technischen Inszenierungsapparat auszukommen. Die inzwischen zur Verfügung stehenden Handkameras vereinfachen das Filmen, was ebenfalls kostensenkend wirkt.13 Andererseits arbeiten die jungen Filmschaffenden häufig zusammen (cinéma copain), ohne aber eine eigentliche Schule oder Stilbewegung zu bilden: «Eine Schule nach Stil und Aussage gibt es unter diesen jungen Schweizern, deren Ältester um vierzig, deren Jüngste knapp über zwanzig sind, nicht. Der Zusammenschluss hat kein ander[e]s Ziel, als einander zu helfen.»14 Die Zusammenarbeit funktioniert auch über die Sprachgrenzen hinweg. Im Gegensatz zum Alten Schweizer Film, der hauptsächlich in der Deutschschweiz entstand, tragen Westschweizer Filmschaffende massgeblich zum Entstehen des Neuen Schweizer Films bei. Schlappner erkennt im welschen Filmschaffen jener Jahre eine Melancholie und Bitterkeit.15 Er erklärt dies damit, dass die Westschweiz kulturell stärker isoliert sei als die deutschsprachige Schweiz. Deren Filmschaffen wiederum beurteilt er als sozialkritisch aggressiver (NZZ vom 31. Januar 1970).16 Wie Schlappner weiter feststellt, handelt es sich bei den neuen Filmen aus der Deutschschweiz vorwiegend um Dokumentarfilme, die oft eine pädagogische Absicht aufweisen. In der Westschweiz hingegen werden im Vergleich dazu mehr Spielfilme gedreht (NZZ vom 2. Dezember 1972).

Die Stellung, die Schlappner in filmpolitischen Fragen bezieht, ist von Offenheit und Progressivität geprägt. Er befürwortet das eidgenössische Filmgesetz von 1962, das die Produktionsförderung von Dokumentarfilmen – nach der Revision von 1969 auch von Spielfilmen – sowie die Vergabe von Qualitätsprämien ermöglicht. Schlappner, wie erwähnt selber Mitglied der Filmjury, weist auf die dadurch erleichterten Produktionsbedingungen hin, ist sich aber bewusst, dass es sich im Verhältnis zu den Gesamtkosten (selbst eines LowBudget-Films) um nur geringe Beiträge handelt.17 Seiner Meinung nach sollte das Fernsehen stärker in die Pflicht genommen werden und sich vermehrt für das einheimische Filmschaffen engagieren (NZZ vom 23. September 1977). Schliesslich begrüsst Schlappner, im Gegensatz zu anderen Zeitgenossen (insbesondere Schaub), Koproduktionen mit dem Ausland und sieht in dieser zusätzlichen Finanzierungsmöglichkeit keineswegs einen Verrat am Schweizer Film (NZZ vom 22. Juli 1977 und NZZ vom 26. Januar 1979).

Der Neue Schweizer Film – Version Schaub

Martin Schaubs Auseinandersetzung mit dem Neuen Schweizer Film findet sich in einer Vielzahl von Artikeln, zunächst in der Neuen Zürcher Zeitung wie im bereits erwähnten vom 5. Mai 1964 mit dem Titel «Neue Wege im Schweizer Film», später dann im Tages-Anzeiger und im Tages-Anzeiger-Magazin,18 aber ebenso in eigenständigen Publikationen. Wir greifen im Folgenden auf diese Buchpublikationen zurück, weil sie gleichsam die Summe seines Nachdenkens liefern. Wir stützen uns dabei auf den gemeinsam mit Schlappner verfassten Band Vergangenheit und Gegenwart im Schweizer Film (1896–1987): Eine kritische Wertung, in dem Schaub den Teil über den Schweizer Film ab 1963 verfasst hat, wobei er stark auf seinen Beitrag «Die eigenen Angelegenheiten: Themen, Motive, Obsessionen und Träume des neuen Schweizer Films, 1963 bis 1983» zurückgriff, der 1983 in CINEMA (29. Jg.) erschienen ist.

Am Anfang und Schluss des Beitrags stehen einige allgemeine Aussagen zum Neuen Schweizer Film, einerseits über die Bruchstelle zum Alten Schweizer Film, andererseits über die Krise des Neuen Schweizer Films, die Schaub um 1980 einsetzen sieht mit dem Auftauchen einer neuen Generation, die sich nicht mehr an den Katalog von Merkmalen und Eigenheiten hält, den Schaub selbst entwickelt hat. Damit ist auch angetönt, dass Schaubs Auseinandersetzung mit dem Neuen Schweizer Film weit über eine Beschreibung oder Charakterisierung hinausgeht und stark normative Züge trägt. Diese besitzt zwar durchaus eine hohe Kongruenz mit der damaligen Filmproduktion, allerdings gibt es einige Punkte, die vor allem aus heutiger Sicht zumindest diskussionswürdig erscheinen.

Schaub geht davon aus, dass der Neue Schweizer Film ein völliger Neuanfang war. Er konstatiert für die Zeit zwischen 1950 und 1970 eine allgemeine kulturelle Malaise in der Schweiz, von der nur die Literatur ausgenommen werden könne. Das Grundübel, das zur Entstehung dieser geistigen und kulturellen Krise geführt habe, sei der Verlust einer Konfliktkultur als Folge der Ideologie der Geistigen Landesverteidigung. Die Folge sei eine Gesellschaft, die selbstgenügsam, rückwärtsgewandt und utopielos ist. Der Autor ortet die gleiche Malaise auch im Schweizer Film – gleichsam als Spiegelbild der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Einen zweiten Missstand sieht Schaub in der Überfremdung der Schweiz vor allem durch amerikanische Filme. Er bezeichnet die Situation als mediale Kolonisation und fordert eine Hinwendung zu den «eigenen Angelegenheiten», die er im Neuen Schweizer Film um 1970 erfüllt sieht: «Im Film und nicht nur im Film hiess und heisst das: Rückeroberung dessen, was eine besinnungslos sich bereichernde Generation ‹freiwillig› abgegeben oder abgetreten oder verkauft hat, Rückeroberung notfalls auch mithilfe eines äusserst primitiven Instrumentariums.»19 Was ist damit gemeint? Martin Schaub betrachtet es nicht als Mangel, dass der Neue Schweizer Film ein «armer» Film ist, im Gegenteil. Es gelte, den herkömmlichen Produktions- und Distributionsstrukturen zu misstrauen. Filmemachen in der Schweiz bedeute nicht nur, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen, Film also auch als Instrument der Kommunikation, der Ideologisierung, der Belehrung zu verstehen und dabei aktualitätsbezogen zu sein, sondern auch ganz prinzipiell dieses Gebiet nicht anderen zu überlassen (den Ausländern, aber auch dem Fernsehen).20 1969 wird als Schlüsseljahr betrachtet, weil sich zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal so richtig zeige, was der Schweizer Film an Themen und Formen erarbeitet habe, während die Jahre zuvor noch eine Phase der «Underground»-Existenz war und der Dialog mit dem Publikum – für Schaub ein wichtiger Faktor – noch gering entwickelt. Die folgenden Jahre bis 1979 nennt er die glücklichsten Jahre des Schweizer Films. Gründe für die hohe Qualität: Es entstehen nicht zu viele Filme, sondern alle müssen wegen der begrenzten Mittel hart erkämpft werden. Dies steigere die Qualität, die sorgfältige Planung und Realisation.

In Schaubs Augen ist der Neue Schweizer Film im Gegensatz zum Alten gegenwartsorientiert. Mehr noch: Er fordere eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart (oder auch mit den ungelösten Fragen der Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinreichen). Für diese Auseinandersetzung sucht er oft das Mittel der Konfrontation, der Provokation, um eine Diskussion zu erzwingen. «Ein gewisser pädagogischer Kulturbegriff stand und steht hinter dem grossen Projekt, das eine Generation während fast 20 Jahren durchgezogen hat. Dem schweizerischen Publikum sollte gezeigt werden, dass es Probleme gibt, die niemand für uns löst, dass es Eigenarten gibt, die wir uns nicht auch noch nehmen oder verkaufen lassen sollten, dass die Utopien nicht nur auf fremdem Mist wachsen können.»21

Schaubs Äusserungen sind eine – zumindest aus heutiger Sicht – seltsame Mischung aus progressivem und konservativem Ideengut. Zwar spricht er einerseits von Utopien, anderseits aber von Kolonisation und Überfremdung und von Eigenarten, die die Schweizer sich bewahren sollten. In Bezug auf den Film wird das Andere, Fremde, entweder dämonisiert (als wirtschaftliche und ideologische Kolonisation) oder dann völlig ignoriert, wenn es etwa darum geht, die Einflüsse anderer Erneuerungsbewegungen auf den Schweizer Film aufzuzeigen. Stattdessen konstruiert Schaub seinerseits den Mythos, der Neue Schweizer Film habe sich quasi von Grund auf selbst erschaffen müssen. Richtig ist, dass er vom Alten nicht viel profitieren konnte, auch nicht als Reibfläche, aber die Regisseure des Neuen Schweizer Films kannten sehr wohl die internationalen Innovationstendenzen der späten Fünfziger und Sechzigerjahre. Auch ein Fredi Murer, der – wie er selbst von sich sagt – wirklich vom Land kam und ohne Kinokultur aufwuchs, holte sich seine Filmbildung, etwa als Mitgestalter der Ausstellung Der Film im Kunstgewerbemuseum 1960, bevor er selber Filme realisierte.

Die Zeit nach 1980 wird von Schaub als Krise charakterisiert. Einerseits gerate die mittlerweile etablierte Generation in eine eigentliche Sinnkrise, die sich darin äussere, dass der Trend hin zum Erzählkino, zur Fiktion geht und der Dokumentarfilm, bisher Standbein des Neuen Schweizer Films, an Bedeutung verliert. Ausserdem tendiere die ältere Garde zu Prestige- und Koproduktionen, die die schweizerische Eigenart verwässerten. Die neue Generation im Umfeld der Jugendunruhen von 1980 habe zwar viel Fantasie, aber letztlich nichts zu sagen, zudem gehe sie wenig analytisch vor. Aus diesen Äusserungen wird ersichtlich: Die Entwicklung läuft nicht so, wie der Autor sie sich vorgestellt hat. «Neue Unübersichtlichkeit» heisst das entsprechende Kapitel wenig schmeichelhaft.22 Mit folgendem Satz endet Schaubs Beitrag: «Zu befürchten ist nur, dass sich das wachsende Reflexionsund Theoriedefizit und die grassierende Machermentalität nachteilig, wenn nicht gar fatal auswirken werden.»23

Abschliessender Vergleich

Die beiden Versionen (und Visionen) vom Neuen Schweizer Film, die die Filmpublizisten Schlappner und Schaub entwerfen und im Laufe der Jahre entwickeln, unterscheiden sich nicht grundsätzlich. Wohl aber differieren Stil und Position der beiden Schreibenden und Deutenden zu ihrem Gegenstand. Beide sind gegenüber dem Neuen Schweizer Film aufgeschlossen, eine Linie, die sich auch auf andere Mitarbeitende der beiden Zeitungen (zumindest im Verantwortungsbereich Film) überträgt. Während Schaub die Meinung vertritt, es gebe keine Berührungspunkte zwischen dem Alten und dem Neuen Schweizer Film, gleichsam von einem Nullpunkt ausgeht und den primären Sinn des Neuen Schweizer Films in der Zuwendung zu den eigenen Angelegenheiten und im Korrektiv gegenüber einer kolonisierten und überfremdeten Filmlandschaft ortet, sieht Schlappner stärker Kontinuitäten, bewertet den Neuen Schweizer Film generell mehr im Kontext internationaler Erneuerungsbewegungen und geht nicht von einem «Sonderfall Schweiz» aus.

Die kritische Fokussierung der jüngsten Vergangenheit ist für beide Kritiker neben der Gegenwartsorientierung ein wichtiges Charakteristikum des Neuen Schweizer Films. Unterschiedliche Meinungen bestehen allerdings darüber, wie dies geschehen soll. Während Schaub von einem «Prozess mit den Vätern» spricht und dabei die Mittel der Überspitzung und Provokation für legitim hält, reagiert Schlappner gegenüber dem, was er als Ideologie und Agitation bezeichnet, eher allergisch. Es gibt allerdings nur wenige Fälle, in denen solche Einschätzungen alle anderen Faktoren überlagern würden. Richard Dindos und Niklaus Meienbergs Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. (1976) wäre ein solches Fallbeispiel.

Ein gewichtiger Unterschied besteht im Verhältnis zum Gegenstand und zu den Protagonisten. Während Schlappner bei aller Sympathie immer eine gewisse Distanz und auch Unabhängigkeit wahrt und dabei wahrscheinlich auch ab und zu in Konflikt mit der konservativen Haltung seiner Zeitung geriet, sucht Schaub die Nähe zu den Filmemachern, räumt ihnen in Interviews und auch eigenen Artikeln viel Platz ein. Martin Schaub versteckt seine Sympathien für den Neuen Schweizer Film (oder zumindest für jenen Teil, der seinen Anforderungen entspricht) nicht, im Gegenteil. Seine Artikel besitzen oft Appellcharakter. Im Gegensatz zu Schlappner entwickelt Schaub ein eigentliches Netzwerk an Publikationsmöglichkeiten. Zwar kann man nicht behaupten, dass Schaub bereits zu Beginn der Ära des Neuen Schweizer Films ein Rezeptbuch in der Tasche gehabt habe, doch im Laufe der Zeit entsteht vor allem in den längeren Publikationen doch so etwas wie eine Generallinie, wie denn dieser Neue Schweizer Film auszusehen habe. Grundsätzliche Abweichungen24 können dann schon einer schärferen Kritik unterzogen werden. Schaub sieht sich durchaus auch als Teil des Neuen Schweizer Films.

Den Nachlass von Martin Schlappner verwaltet das Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich, jenen von Martin Schaub die Cinémathèque suisse, Dokumentationsstelle Zürich. Beiden Institutionen danken wir für ihre Unterstützung bei diesem Forschungsvorhaben, ebenso Martin Walder, Gerhart Waeger und Pierre Lachat für ihre Auskünfte.

1967 ist er Redaktor der Filmsendung Kamera und Leinwand des Schweizer Fernsehens, bei der auch Martin Schaub mitarbeitet.

Unter anderem liest er an der Universität Zürich zu «Geschichte und Themen des Schweizer Films» (1975/1976) und «Heimatfilme – neue Filme über die Heimat» (1976/1977).

Martin Schlappner / Martin Schaub, Vergangenheit und Gegenwart des Schweizer Films (1896–1987): Eine kritische Wertung, Zürich 1987.

Es handelt sich um einen Artikel von Martin Schaub, dem weitere Artikel in der NZZ folgen. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass Schaub sich später genau mit diesem Themenschwerpunkt neben Schlappner behaupten kann.

Martin Schlappner, «Wandlungen im Schweizer Film», in: Allgemeine Kinematographen AG (Hg.), Film und Filmwirtschaft in der Schweiz: 1918–1968: Fünfzig Jahre Allgemeine Kinematographen Aktiengesellschaft, Zürich 1968, S. 127–147.

Ebenda, S. 142.

Ebenda, S. 146.

Ebenda, S. 145.

Was insbesondere für die (Dokumentar-) Filme aus der Deutschschweiz zutreffe (NZZ vom 24. Januar 1975).

Schlappner (wie Anm. 6), S. 145.

Ebenda, S. 133.

Ebenda, S. 135.

Ebenda, S. 142.

Beispielsweise in Charles mort ou vif (1969) von Alain Tanner oder in La pomme (1969) von Michel Soutter.

Schlappner nennt als Beispiele Krawall (1970) von Jürg Hassler, Die Landschaftsgärtner (1969) von Kurt Gloor, Mein persönlicher Beitrag zur Aktion Gesundes Volk (1969) von Peter von Gunten und Ormenis 199+69 (1969) von Markus Imhoof.

Schlappner (wie Anm. 6), S. 135.

Zu erwähnen wäre in diesem Zusammenhang etwa «Enge und Weite: Notizen zum Schweizer Film» (Tages-Anzeiger-Magazin vom 7. November 1970) oder «Das Jahr 10: Wo steht die Schweizer Filmförderung heute?» (Tages-Anzeiger-Magazin vom 27. Februar 1973).

Schaub (wie Anm. 4), S. 76.

Kein gutes Haar lässt Schaub am Schweizer Fernsehen, zumindest am Deutschschweizer. Es werde von visuell wenig talentierten, überhaupt unqualifizierten Mitarbeitern gemacht, vor allem von ehemaligen Lehrern und Leuten vom Radio. Dies mag zwar äusserlich stimmen, ebenso könnte man diese Pauschalisierung aber auch auf den Autor selbst übertragen und sich fragen, ob jemand, der Germanistik studiert hat, etwas von Film verstehe.

Schaub (wie Anm. 4), S. 83.

Der Gerechtigkeit halber muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass Schaub in einer späteren Fassung des Textes, nämlich im Buch Film in der Schweiz (Zürich 1997), etwas mehr Verständnis für das Neue erkennen lässt oder dass er zumindest die globalen Veränderungen der Film- und Medienlandschaft berücksichtigt. Am Ende jenes Buches steht: «Der Schweizer Film hat weder im Land noch im Ausland mehr den ‹exotischen Reiz› des Aufbruchs. Der ersten starken, rebellischen Aufbruchsgeneration ist keine ebenso starke gefolgt, oder sie betätigt sich in anderen Kultursparten, in der bildenden Kunst, der Musik, in der Literatur, auf dem Theater. Der Autorenfilm ist nicht mehr das weltweite freie Feld der Formen, Meinungen und der dazugehörigen Auseinandersetzungen. In den medialen Umwälzungen haben schwache Länder zurzeit keine Chance, auch wenn sie sie nutzen.»

Schaub (wie Anm. 4), S. 198.

«Streitpunkte» bestehen etwa bei diesen Fragen: grössere Budgets, Koproduktionen mit dem Ausland, stärkere Betonung des Erzählerischen, Mischung von Dokumentarischem und Fiktionalem, mangelnde Einbindung des Schweizerischen, Internationalismus.

Thomas Christen
Geb. 1954. Studium der Germanistik, Publizistikwissenschaft, Psychologie und Filmwissenschaft. Dissertation über Das Ende im Spielfilm: vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen (Schüren 2002).

Seit 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Art Cinema, europäischer Film, Filmgeschichte, Narratologie, Selbstreflexivität. Forschungsprojekt über «Formen des filmischen Exzesses» (Habilitation), «Martin Schlappner, die Neue Zürcher Zeitung und der neue Schweizerfilm» sowie Projekt der Herausgabe einer mehrbändigen Einführung in die Filmgeschichte.
(Stand: 2021)
Luzia Von Deschwanden
geb. 1966, Studium der Soziologie, Filmwissenschaft und Wirtschafts und Sozialgeschichte. Hat in Zusammenarbeit mit Thomas Christen den Nachlass von Martin Schlappner aufgearbeitet.
(Stand: 2006)
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