BENEDIKT EPPENBERGER

FILMEN OHNE GRENZEN

ESSAY

Jeder kann heute einen Film drehen. Mit einem Filmprojekt filmreif scheitern hingegen bleibt eine Kunst, die nur wenige beherrschen.

2003 reiste ich mit einem Filmproduktionsteam in die Türkei. Es sei gestanden: nur als Gaffer. Nicht Gaffer im Sinne des noblen Berufes eines Beleuchters. Nein, Gaffer im Sinne von sensationslüsternem Zaungast. Weil ich die Protagonisten dieser Unternehmung seit langer Zeit schon kannte, ahnte ich, nein, wusste ich, dass da ein ordentliches Chaos im Verzug war. So wurde ich zum Chronisten einer angekündigten Grenzerfahrung.

Ouvertüre

«Wir sind ja nicht wahnsinnig.» Diesen Satz hat Cihan Inan damals zu Beginn des neuen Jahrtausends immer wieder hören müssen. Filme machen, ja klar, aber bitte kontrolliert und immer geradeaus auf dem Weg nach oben, denn wie gesagt: «Wir sind ja nicht wahnsinnig». Die Hollywood-Legende Sam Fuller meinte einmal:

«95 Prozent aller Filme entstehen aus Frustration, Selbsthass, Überlebenswillen oder für Geld, um das Bankkonto zu füttern. Fünf Prozent, vielleicht auch weniger, werden gemacht, weil ein Mann eine Idee hat. Eine Idee, die er ausdrücken muss.»

Es gibt Schulen, die das Filmemachen lehren. Geschulte Filmer aber starten ihre Karriere oft ... zurückhaltend. Ein falscher Schnitt und man ist geliefert. Das Resultat sind professionelle Filme, von Beginn weg. Und weil das Profes­sionelle das neue Coole ist, dürfen Amateure kaum ran, denn: «Wir sind ja nicht wahnsinnig». Wer pfeift denn heute noch auf Karriereplanung? Wer revoltiert noch gegen den Fetisch Technik, gegen das Drehbuchseminar, gegen die ökonomische Vernunft? 2002 war Cihan dran, alles auf eine Karte zu setzen, um eine für ihn unglaublich wichtige Idee auf die Leinwand zu bringen. Sein Lieblingsfilm hiess damals: The Owl and the Pussycat (Herbert Ross, USA 1970).

Akt eins

Pelotudo sollte der Titel seines Filmes sein. P-e-l-o-t-u-d-o. Entsetzlich, wie das nur schon klang. Als ich den Titel des Filmes zum ersten Mal hörte, erinnerte mich das an die Kinderecke in einem Möbelcenter. Auf die Idee, diesen Namen zu verwenden, war Cihan bei der Skizzierung einer ersten Drehbuchfassung gekommen. «Klingt doch schön», meinte er. «Märchenhaft. Das wird die Gegenwelt. Die Gegenwelt zum schlimmen Hier und Jetzt der Hauptfigur. P-e-l-o-t-u-d-o.» Von Einwänden liess er sich nicht beirren. Auch als er später erfuhr, dass sein Titel im spanischen Homo-Slang den After bezeichnet, blieb er dabei. «Dir ist also egal, wenn dein Land der Glückseligen am Ausgang des Mastdarms liegt?» – «‹Signifié› und ‹signifiant›, ich kenn mich aus ..., ist mir aber scheissegal.»

Cihan, der Secondo mit türkischen Wurzeln, verfügt über einen Mittelnamen: Cihan L. Inan. Das L meint Lenco und wurde aus Dankbarkeit des Vaters gegenüber seinem ersten Schweizer Arbeitgeber, dem rührigen Hersteller von Plattenspielern, zum Bestandteil seines Namens. So viel zur Mythologie vom Zufall der Herkunft. Schon lange vor Pelotudo war Cihan dem Kino verfallen. Doch figurieren in seinem CV weder die obligaten Verbrechen auf Super8 noch existieren die unvermeidlich genialischen Drehbuchskizzen. Auch der Versuch, in einer Filmhochschule unterzukommen, fehlt, und nach umständlich formulierten Filmkritiken aus der Studentenzeit forscht man vergeblich. Immerhin, Cihan verbrachte viel Zeit im Kino und konsumierte Unmengen Videos. Zudem gab es eine Periode als Operateur in einem bemitleidenswerten Berner Kino. Schliesslich aber entwickelte sich bei ihm doch alles zufällig, chao­tisch – ohne viel Interesse für Analyse, Geschichte und Genre. Dass sein Weg zum Film ein Umweg sein würde, wurde spätestens in dem Augenblick klar, als er 1996 aufbrach, um in Deutschland Karriere als Theaterregisseur zu machen. Bevor er ging, versicherte er uns Zurückgebliebenen, dass «das Filmemachen Endziel» bleibe. Jetzt gehe er aber erst mal zum Theater.

Es folgten Jahre in Deutschland. Cihan wurde Regisseur. Ein recht erfolgreicher sogar. Und es gefiel ihm gut beim Theater. Der Mann bewegte sich, doch irgendwo drinnen hielt er an der Vision vom eigenen Film fest. «Es muss doch irgendwie gehen.» Zwischenzeitlich hatte er Schauspieler und Schauspielerinnen um sich geschart. Nicht wenige waren ohne Job und begierig darauf, in einem Spielfilm ihr Talent unter Beweis zu stellen. Als es, zusammen mit der New Economy auch der Kunst an den Kragen ging, kehrte Inan Deutschland vorerst einmal den Rücken. Zurück in der Heimat setzte man ihn, ruck-zuck-zack-zack, auf einen Regiestuhl bei «Tele24». Einfach so. Dort verkaufte er Jobs und Inneneinrichtungen, bis der Sender 2001 geschlossen wurde.

Akt zwei

Kurz darauf war es dann so weit. Cihan hatte alles beisammen, um seinen ersten Spielfilm zu realisieren. Lokalität: «Wir drehen gleich ums Haus meiner Eltern in der Türkei. Ferien und Filmdrehen, eine erstklassige Gelegenheit.» Auch eine Vorlage war vorhanden: «Ich hab da diesen Nick-Cave-Roman im Kopf. Erste Güte. Eine Geschichte, die perfekt in die Türkei passt. Mit Krüppeln, Aussenseitern, Kindern, Nutten, Hexen, Priestern und dem ganzen Trara.» Das technische Personal bestand aus willigen Filmschulabgängern und theatergeprüften Ausstattern, die in ihren Ferien gerne für Cihan gratis weitermalochten. Auch ein überregional bekannter Sprecher – «Gillette, für das Beste im Mann» – schloss sich dem Unternehmen an. Dazu kamen etliche Schauspieler und Schauspielerinnen, die sich darum rissen, ohne Bezahlung an diesem Projekt beteiligt zu werden. O-Ton Cihan: «Unter dem Strich kostet dieser Film eigentlich nix.»

Das Leben des Cihan Inan war schon vor Pelotudo hektisch verlaufen. Nun aber begann eine Phase, in der er auf Überschallgeschwindigkeit beschleunigen musste. Aufgegeben hatte er seine Theater-Engagements in Deutschland nämlich nicht. Gleichzeitig ging er in Zürich einer geregelten Arbeit als Werbedatenerfasser nach. Dazu kamen im Frühling 2001 Führerausweis plus Auto. – «Mercedes, weisst du. Als Türke.» Auf der Nord-Süd-Achse sprengte er damit Rekorde. Das Tempo stieg, und über allem schwebte sein Film, Pelotudo, wie er jetzt offiziell hiess. – «Cihan, du brauchst einen Produzenten.» – «Kann ich mir nicht leisten.» – «Wer macht die Organisation?» – «Ich!» – «Wer schreibt das Drehbuch?» – «Hm, ich.» Noch bis vor Kurzem hatte der Filmgeneralissimo mit einem verkannten Drehbuchgenie zusammengearbeitet. Doch als dieses die knappe Zeit vornehmlich damit verbrachte, Elvis Presley in allen Aggregatszuständen ins Script reinzuwürfeln, war die Trennung beschlossene Sache. – «Weisst du was?», stöhnte Cihan, «ich schreibe das Drehbuch doch lieber selber.»

Aus Ideen wurden Probleme, wurden Bedürfnisse, wurden Forderungen; mehr Leute stiessen zum Projekt, und noch immer bewältigte Cihan das Unternehmen praktisch im Alleingang. Ein Termin da, eine Besprechung dort und eine Begutachtung irgendwo. Seit feststand, dass die Dreharbeiten definitiv im August 2003 stattfinden würden, schmolz die Zeit wie Schnee in der Frühlingssonne. Während seiner Lohnarbeit fiel ihm der Kopf jetzt immer öfter schwer auf die Computertastatur. Red-Bull-Werbung vermengte sich in seinen unruhigen Tagträumen mit fanatischen Priesterreden, an deren Ausformulierung er zuvor, zu nachtschlafener Stunde, gearbeitet hatte.

Als der Überflieger dann aus seinem Multitasking-Alptraum aufwachte, befand er sich auch bereits auf dem Weg in die Türkei: «Wir gehen mal schauen.» Ihm war bewusst geworden, dass ohne die Auswahl von konkreten Drehorten die Sache nicht gedeihen konnte. «Und wenn wir schon mal da sind, werden wir gleich auch noch alles andere regeln können.» Ehe man sich’s versah, waren Kameramann, Kostümfrau, Tonmann und Requisiteur in einem Billigflieger nach Izmir unterwegs.

Nachrichten von der türkischen Westküste erreichten uns in der Schweiz Zurückgebliebene nur sporadisch. – «Wir sassen in einem Funkloch, echt.» Den spärlichen SMS war zu entnehmen, wie die Geschichte verlief. Die Crew litt mehrheitlich an Lungenentzündung, und Cihan hatte die Tagesschichten zähneknirschend von 24 auf 23 Stunden verkürzen müssen. Mit dem Mietwagen jagte das Expeditionscorps über einsame Strassen an der westtürkischen Küste, um schliesslich beim Bafa-See zu landen. Auf Bildern sah die Gegend tatsächlich imposant aus. Der See, in der Antike noch ein Meeresarm, lag wie Suppe in einer Pfanne zwischen den Ausläufern des Latmosgebirges. Dieses bestand aus ockerfarbigen Bergwülsten, die wie erstarrte Götterspeise aneinander pappten. – «Sieht irgendwie archaisch aus, findest du nicht? Da sind wir per Zufall darauf gestossen. Ideal für unsere Geschichte.» Cihan hatte sich in den Ort vergafft und in Kapikiri – dem antiken Herakleia – gleich alles in die Wege geleitet, damit dort im August eine Bleibe für eine Deutsch-Schweizer-Billigfilm-Crew bereitstehen würde. – «Kein Problem. Die sind so was von scharf auf Pelotudo. Und weisst du was? Sie haben da wilde Pelikane. Die baue ich ins Drehbuch ein.» – «Wieso?» – «Na, weil sie eben da sind.»

Pelikane also hatte er. Dazu kam ein Drehbuch, das den Schauspielern endlich eine Richtung gab. Es wurde zwar weiter eifrig daran herumgebastelt, in groben Zügen aber stand das Szenario. – «Eine schlimme Geschichte. Der Stumme bringt Mutter, Vater und ein unschuldiges Kind um. Trotzdem ist er eigentlich ein Guter. Die tragische Situation macht ihn zum Mörder. Jetzt muss ich aber gleich weiter, die Flugtickets organisieren.» Um Geld zu sparen, appellierte Cihan ans Kulturgewissen der Chefs einer türkischen Billigflug-Airline. «Da erscheint dann auch euer Logo im Abspann, soooo gross. Im Übrigen zeigt bereits das Filmfestival in Izmir viel Interesse an Pelotudo. Überlegt euch doch. Eine einmalige Chance.» Obwohl der Regie-Derwisch Marketing, Organisation und Logistik kurz darauf in fähige Sklavenhände legen konnte, liess es sich nicht länger leugnen, dass ganz ohne Geld wohl wenig gehen würde. Allerdings: Für eine Sammelaktion war es zu spät, und Chancen auf öffentliche Gelder gab es ... keine. Cihan griff also auf seine Privatreserven zurück.

Der Frühling 2003 entwickelte sich gerade prächtig, da traf sich die Crew in Freiburg im Breisgau ein erstes und letztes Mal vor dem Abflug in die Türkei. Männer und Frauen beschnupperten sich, lachten vordergründig und versuchten hintenherum herauszufinden, ob das wohl die geeigneten Leute für einen Billigfilm-Trip in die Türkei waren. Die Schauspieler, leicht hysterisch, konnten es kaum erwarten. Die Techniker, zurückhaltender, brummten Sätze wie «Es gibt noch viel zu tun.» oder «Woher kommt denn der Strom?» Mittendrin Cihan. – «Und du schreibst ein Internet-Tagebuch» – meinte er zu mir. Dann war er wieder weg.

Kurz vor Abflug stapelten sich im Inan’schen Heim die Rechnungen bereits mehrere Zentimeter hoch. Vorleistungen waren erbracht worden, technisches Material sollte her und alles musste bezahlt werden. Weil überhaupt alles, was er besass, zwischenzeitlich im Film steckte, versuchte er es nun mit Vertrösten und Zusprechen. Mit der Überzeugungskraft eines Teppichhändlers verscherbelte Cihan Optionen auf einen Film, zu dessen Herstellung noch nicht einmal die geeignete Kamera vorhanden war. Wir schlugen deshalb radikalere Formen der Geldbeschaffung vor: Prostitution, medizinische Versuche, Auftragsmord, Drogenhandel. Doch der Filmautor blieb sauber. Deshalb wusste niemand, als wir am 2. August 2003 bereits auf der Gangway des Flughafens Basel-Mülhausen standen, ob die Reise überhaupt zustande kommen würde. Bis heute ist zwar nicht klar, auf welche Deals Cihan sich mit dem Reiseveranstalter eingelassen hatte – die Tickets auf jeden Fall waren da. Die Reise konnte beginnen.

Akt drei

Dramaturgisch entwickelten sich die folgenden vier Wochen erwartungsgemäss ungeordnet. Die Dynamik beim Drehen, dieses allmähliche «Aus-dem-Leim-Gleiten» erinnerte später zeitweise fatal an die Entstehung von Apocalypse Now (Francis Ford Coppola, USA 1979), als im philippinischen Dschungel die Mitglieder einer weit höher dotierten Crew den Verstand verloren. Auch die Dreharbeiten in Kapikiri waren ein Trapezakt ohne Netz. Und weil er wusste, dass er dabei aufs Ganze ging, wandelte sich der wilde Auteur-Darsteller in eine «Bête sacrée», in ein heiliges Biest, das sein Projekt gnadenlos vorwärts peitschte. Tunnelblick. – «Wir haben vier Wochen. Der Drehplan sieht keine Pause vor. Wir haben keine Chance, also nutzen wir sie.»

Als wir in Izmir landeten, da nickte man solche Worte einfach mal weg. Euphorisiert war man und zudem: Hatte Cihan nicht auch Ferien versprochen? Mit zwei Kleinbussen jagten wir alsbald Richtung Südosten, in jenes Dorf, in dem sich nicht wenige Einheimische die Hände rieben ob des Verdienstes, der eine Filmproduktion versprach. Der erste Eindruck war überwältigend. Kapikiri liegt in einer Landschaft, die archaischer nicht sein könnte. Wir sahen das pittoreske Minarett, wir sahen die wunderbar ins Grün eingebettete Pension, wir sahen eine byzantinische Festung, deren Mauern und Türme sich in den Bergen verloren, wir sahen antiken Schutt vor der Hoteltüre, und wir erschauderten ob eines riesigen Sees, dessen Ufer unten an das Dorf reichten. Hier einen Film drehen – wer hätte sich etwas Schöneres ausdenken können?

Der See aber war tot und stank zum Himmel. Sich am Abend nach den anstrengenden Filmarbeiten ins kühle Nass stürzen – Fehlanzeige. Auch sonst war in Sachen Erholung und Ferien Verzicht angesagt. Die Schauspieler logierten zu zweit in kleinen Schwitzhütten, die Bienenkorb-mässig in den antiken Überresten des einstigen Herakleia gruppiert waren. An Schlaf war in diesen Hütten nicht zu denken, was die Einheimischen wussten, weshalb sie selber auf den Dächern der Unterkunft nächtigten. Mit ihrem Schnarchen ersetzten sie das Rattern der fehlenden Klimaanlage. Immerhin waren wir hier, um einen Spielfilm zu drehen. Im dichten Drehplan existierte folgerichtig keine Zeit für Erholung. Wozu also die Gedanken an einen See zum Baden? Ein Zimmer zum Schlafen? Ein Nachtessen zum Geniessen?

Von Beginn weg vervielfachten sich die Probleme im Stundenschritt. Und es gab aussergewöhnliche Probleme: Die Schminke zerläuft bei 50 Grad am Schatten. Nicht nur der ratternde Stromgenerator, auch Grillen und Zikaden verwandeln die Tonspur in ein Tollhaus. Frauen dürfen keine der einheimischen Transportautos fahren, die Kamera bekommt einen Hitzeschlag, Dialoge erweisen sich als objektiv idiotisch und Einstellungen lassen sich nicht wie geplant umsetzen. Gut, das alles sind Dinge, womit viele Filmprojekte kämpfen. Anderes hingegen war in jeder Hinsicht einmalig. Arg wurde es beispielsweise, als das türkische Kulturministerium, wo die Filmarbeiten angemeldet hatten werden müssen, den Verantwortlichen für eine persönliche Unterschrift nach Ankara bestellte. Cihan, als Autor-Regisseur-Organisator-Produzent-Vermarkter-Übersetzer musste fahren. 500 km hin, 500 km zurück. Am Abend des nächsten Tages stand er wieder auf dem Set. Hier dann belagerte ihn der Bürgermeister des Ortes, welcher die Kontakte zur lokalen Mafia hielt. Auch deren Einwilligung war unumgänglich und nicht umsonst. Was aber am einen Tag mit Geld besiegelt worden war, galt schon am nächsten Tag nicht mehr. Und wieder musste der Regisseur ran. An Schlaf war nicht zu denken und so sah der Pelotudo-Chef unter den Augen bald aus wie ein Bundesrat nach zwanzig Dienstjahren.

Hindernisse tauchten an erwarteter und an unerwarteter Stelle auf. Jeden Tag musste ein Tagebucheintrag für die Pelotudo-Internet-Seite verfasst werden. Weil eine spanische Schwulenporno-GmbH die Adresse www.pelotudo.com bereits okkupiert hatte, liess man sich im Vorfeld die Anschrift www.pelotudo.info reservieren. Dort stand bereits alles Wissenswerte zum Projekt und bald auch sollten die Daheimgebliebenen täglich erfahren können, wie sich der Film in der Türkei entwickelte. Trotz eingehender Instruktion surften Angehörige und Freunde später nicht korrekt auf .info, sondern auf .com. Man kann sich die Aufregung vor allem der Eltern der Schauspieler leicht vorstellen, die beim Anschauen der Seiten vor lauter Schwänzen den Sohn nicht zu finden vermochten. Waren ihre Augäpfel tatsächlich zur Produktion eines Schwulenpornos in die Türkei gereist?

«Den Disorder irgendwie funktional zum Funktionieren bringen». So sinnfrei hingeblabbert lautete nach etwa drei Wochen die Losung des Regisseurs. Seine Mitarbeiter kämpften derweil mit Motivationsproblemen. Den zerfetzten Strohhut auf dem Kopf, gelang es Cihan aber mit himmelstürmendem Elan die Leute weiter bei der Stange zu halten. Als dann endlich die Menschen spurten, da verweigerten sich die Tiere. Die Pelikane waren ausgeblieben. Im Frühjahr noch präsent – und deshalb im Drehbuch sofort zu einem tragenden Sehnsuchtssymbol verwurstet –, waren die Vögel noch nicht wieder aufgetaucht. Aufregung. «Machen die Winterschlaf?» fragte sich mein ornithologisch völlig überforderter Freund. «Könnte es zur Not nicht auch ein anderer Vogel sein?» fragte der Kameramann. «Wie wär’s mit Hühnern?»

Doch nicht nur die Pelikane verweigerten sich. Schäumten die Bewohner von Kapikiri anfänglich vor Gastfreundschaft über, wurde die Luft mit dem Fortschreiten der Dreharbeiten zunehmend dicker. Ihnen dämmerte allmählich, dass hier blutige Amateure am Werk waren. Auch wenn der irre Schweizer Regie-Derwisch mit Vollendungsdrang vorwärts stürmte, die Menschen in Kapikiri, die Brad Pitt und Heidi Klum erwartet hatten, begannen sich Fragen zu stellen. Gab es da ausser drögem Kunstwillen noch etwas anderes? Die Hitze stieg weiter, während das Klima im Dorf immer ungastlicher wurde. Noch ein letzter Mann war uns wirklich freundlich gesonnen. Dank der Crew lief sein klappriger Gemischtwarenladen prächtig, weshalb im TV beim Eintreten eines Crew-Mitglieds jeweils gleich auf BBC World gezappt wurde. Als der Mann dann plötzlich nicht mehr umschaltete, nahm ich das als Zeichen dafür, dass die Zeit gekommen war, heimzukehren.

Doch in Kapikiri war noch längst nicht alles gelaufen. Gegen Ende der vierten Woche eskalierte die Geldfrage. Der Umgangston wurde lauter. Mit heulenden Motoren fuhren zwei dunkle Mercedes-Limousinen aufs Set. Die Fahrer bedeuteten dem Regisseur unmissverständlich, in einen der Wagen einzusteigen. Dann brausten sie davon. Schauspielern und Technikern blieb nichts anderes übrig, als fassungslos mitanzusehen, wie Mr. Pelotudo gekidnappt wurde. Beim nächsten Bankomat musste der übernächtigte Regisseur dann Geld abheben, um damit die «gewissen» Vorleistungen lokaler «Arrangeure» bezahlen zu können. Auf diese Weise konnte Cihan allerdings nur eine von vielen Fraktionen befriedigen. Andere Interessengruppen, die in Pelotudo investiert und dafür ihre Pensionen, Restaurants, Autos und Teppichauslagen in diesem Sommer besonders auf Vordermann gebracht hatten, sahen sich um das erhoffte «Riesengeschäft» geprellt. Nervosität machte sich breit. Die Köchin in der Pension schloss leise ihre Leckereien weg, ihr Mann erhöhte schleichend die Getränkepreise.

Der Zahltag rückte näher, und noch immer waren die Filmarbeiten im Gange. Wie in Trance klöppelte Inan weiter Szene um Szene aneinander. Die Beteiligten waren alle hundemüde. Niemand aber rebellierte. Wenn in aller Herrgottsfrüh Esel, Hahn und Muezzin zu rufen begannen, stand die Crew meist bereits im Feld. – «Ich habe den Film fertig im Kopf. Jede Szene ist da drin», und dabei tippte sich Cihan an den Hirnkasten. «Alles wird gut.» Mit derselben Schnelligkeit, mit der er Zuversicht streute, leerte sich auch sein Geldkonto. Wie wohl würde man den Menschen in Kapikiri beibringen, dass kaum mehr Kohle für sie übriggeblieben war? An ihren Kunstsinn appellieren? Eher nicht. Ein Ehrenopfer bringen?

Als sich die Diskussion darüber bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befand und die meisten Cihan bereits mit Betonschuh am Fuss im See verschwinden sahen, tauchte im letzten Augenblick «ein Onkel» mit Geldkoffer aus Ankara auf. Cihans Eltern in der Schweiz hatten eigenmächtig eine Umschuldungsaktion in Gang gesetzt. Sie verspielten dabei ihre Altersrente und ihren guten Ruf, doch die Crew konnte zahlen und endlich verschwinden. Pelotudo war im Kasten.

Buchstäblich in alle Winde zerstreuten sich die Leute, nachdem sie wieder in Basel gelandet waren. Einige Tage später klingelte das Telefon: – «Wir haben einen Trailer geschnitten. Ich bin schon am Verhandeln. Alle sind begeistert.» Zwar stand der Rauswurf aus seiner Wohnung kurz bevor, doch Cihan träumte bereits vom Eintritt in ganz andere Häuser. – «Festivals wollen Pelotudo buchen. Verleiher reissen sich um Pelotudo.» Ein effekthascherischer Schnellschuss-Trailer hatte ganze (Überzeugungs-)Arbeit geleistet. Die Leute wollten Pelotudo tatsächlich sehen.

Epilog

Mehr als dieser Trailer ist aus den zehn Stunden Material nie geschnitten worden. Die glanzvolle Premiere musste ausfallen, denn Pelotudo gibt es nicht. Alles Filmmaterial wurde gestohlen und blieb seitdem verschollen. Der Koffer mit allem Rohmaterial verschwand auf dem Weg ins Kopierwerk. Die Polizei wurde aufgeboten, eine deutsch-niederländische Esoteriker-Vereinigung pendelte. Erfolglos. Kein Film, nirgends.

Benedikt Eppenberger, Juni 2004/April 2011[SM2]

Benedikt Eppenberger
*1964. Historiker und Comiczeichner, lebt in Zürich und arbeitet als TV-Redaktor und freier Filmjournalist. Veröffentlichte 2006 zusammen mit Daniel Stapfer: Mädchen, Machos und Moneten. Die unglaubliche Geschichte des Schweizer Kinounternehmers Erwin C. Dietrich (Zürich 2006). Verfasste den Beitrag «Nazisploitation Made in Switzerland» für den Sammelband Nazisploitation! The Nazi Image in Low-Brow Cinema and Culture (London/New York 2012).
(Stand: 2012)
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