KATHARINA KLUNG

HIER IST ANDERSWO — DIE TERRITORIALE GRENZE IM FILM, EINE IMAGINÄRE TOPOGRAFIE

ESSAY

«Wohin reitest du, Herr?»

«Ich weiss es nicht», sagte ich,

«nur weg von hier, nur weg von hier.

Immerfort weg von hier,

nur so kann ich mein Ziel erreichen [...]

‹Weg-von-hier›, das ist mein Ziel.»

Franz Kafka

Saïd muss sich beeilen. Durch eine enge Gasse läuft er vorsichtig, aber zügig; um nicht zu fallen, stützt er sich mit den Händen an den Mauern rechts und links von ihm ab. Aus der Ferne sind Stimmen zu hören. Immer wieder verschwindet Saïds Körper in den schwarzen Löchern und Schatten der Gasse, bis sich seine Konturen, sein Gesicht langsam im Vordergrund abzeichnen. Immer näher kommt er dem diffusen Raunen, den aufgeregten, fragend-flüsternden Stimmen, zwischen die sich nun auch das Rauschen des Meeres drängt. Eine Schiffshupe verrät Saïd nicht nur, dass er am Hafen von Tanger angekommen ist, sondern auch, dass er weitergehen muss und nicht verharren kann wie die Männer auf der Mauer, die der Unmöglichkeit entgegenblicken, die Strasse von Gibraltar jemals zu durchqueren. In Zick-Zack-Mustern schichten sich die wartenden Lkw vom unteren zum oberen Bildrand auf und bilden eine schier undurchdringliche Festung aus Planen und Containern (Abb. 1). Einer von ihnen muss der Lastwagen von Serge sein, dem Mann, der Saïd zunächst versprochen hat, ihn über die Grenze zu bringen, es ihm dann jedoch bis zuletzt verwehrt: «Schlag dir Europa aus dem Kopf!», waren seine Worte.

Loin (F/ES 2001) zeichnet am Hafen von Tanger eine paradoxe Situation: einen versteinerten Transit-Raum, die territoriale Grenze zwischen Marokko und Spanien. Einzig die «ortlosen»1 Geräusche, die Schiffshupe sowie das Rauschen des Meeres, weisen über das aktuelle Hier-Sein, das physische Gebunden-Sein an diesen «Nicht-Ort»2 des Transits hinaus in die Ferne und lassen das Woanders bereits erahnen. Das Stimmengewirr steht dem unwirtlichen, körperlosen Bild der sich in geometrischen Formationen aufschichtenden Lastwagen antithetisch gegenüber und erzeugt Reibungen zwischen den formlosen, fliehenden Stimmen und dem sich zu einer Fläche verdichtenden Hafen. Um illegal nach Spanien zu gelangen, muss sich Saïd an diesen unwirtlichen Ort begeben, der seinen Körper in die schwarzen Risse zwischen den hellen Rechtecken der Lkw-Planen zwingt und somit einzig eine Fortbewegung in Spalten und Zwischenräumen zulässt. Damit kann sich die Situation des Wartens, des Verharrens nur im Bereich des Nicht-Gesehen-Werdens auflösen. Der Kamera-Blick nimmt die ästhetische Spannung von Fläche und den sie durchdringenden Körper in den Fokus – so zum Beispiel wenn Saïd, begleitet von einem lauten Schleif­geräusch, seinen Körper langsam zwischen zwei Mauerwänden hindurch nach unten schieben muss, um nach einem anschliessenden Einstellungswechsel die visuell zu einer Fläche verdichteten Wände mit seinem Kopf und dem Blick zum Hafen zu durchbrechen (Abb. 2).

Der Film denkt damit eine geopolitische Evidenz der Grenze als Verriegelungs- und Sperrzone mit und schreibt sie in die Visualität der Bilder ein. Europa bleibt somit vorerst eine abwesende «Wunschtopografie»3 für Saïd. Ist die territoriale Grenze also tatsächlich ein Ort der «Arretierung der Kinesis»,4 der Versteinerung der Bewegung, der Undurchlässigkeit, wie es uns die Filmbilder hier suggerieren?

André Téchinés Film verortet sich an einem Schnittpunkt (nicht an einer Grenze) zwischen einer ästhetischen Wirklichkeit, also der Darstellung der Grenze in filmischen Bildern, und der Wirklichkeit der Grenze als einem geopolitischen Konstrukt, dem ein Selbstverständnis von Nation immanent ist. Die Visualisierungstechniken filmischer Grenz-Bilder rufen nicht nur Gedanken an geopolitische Spannungen hervor, wie sie sich beispielsweise in der Regulierung globaler Zirkulationen von Waren und Gütern zwischen dem wirtschaftlich schwächeren Marokko und der starken Handelszone der EU zeigen. Es verbinden sich damit auch Gedanken an Machtmechanismen von Illegalisierung und Kontrolle der Grenzgänger und Migrantinnen, die in ausserfilmischen Kontexten ihren Niederschlag im Schlagwort «Festung Europa» oder in der Parole «Das Boot ist voll!» finden.5 Sie alle transportieren Vorstellungen von Grenzziehungen, die ein Diesseits von einem Jenseits, ein Hier von einem Anderswo trennen. An diesem Schnittpunkt, der bisweilen lediglich Assoziationen erweckt, verbindet sich das scheinbar Unvereinbare, die filmische Fiktion mit einer geopolitischen Wirklichkeit und treten in einen Dialog. Filme entwickeln als kulturelle Texte Denkweisen von territorialen Grenzen, die kulturtheoretische Konzeptionen nicht nur kommunizieren, sondern massgeblich prägen.6 Damit stellt sich die Frage, welche Konzeptionen territorialer Grenzen der Film auf ästhetischer Ebene entwirft. Daran schliesst sich im Hinblick auf den Film Loin die These an, dass der Film mit seiner ihm immanenten Spannung von An- und Abwesenheit die territoriale Grenze als wie auch immer gedachte Entität gar nicht in Erscheinung bringen muss, um sie als Sujet in die Visualität der Bilder einzuschreiben. Auf diese Weise macht der Film mit seiner ästhetischen Eigenlogik Spannungsverhältnisse im Selbstverständnis von Nation und Grenze sichtbar.

Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Szene, in der Serge während der Überfahrt von Europa nach Marokko zu sehen ist und ein Umschnitt den Blick auf das Wasser freigibt. Der Blick geht dabei von der Materialität des Schiffes auf ein ortloses Irgendwo über (das Wasser), bevor daraus schliesslich erneut eine Materialität, das Woanders auftaucht. Die Überfahrt wird filmisch transformiert zu einer Metapher, einem visuell-ästhetischen Transit der Aggregatzustände.

Statt eines fliessenden Übergangs gehen mit dem filmischen Transit, dessen Startpunkt im Gegensatz dazu in Nordafrika liegt, eher visuelle Spannungsverhältnisse von An- und Abwesenheit, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit einher. Dies ist beispielsweise in der oben beschriebenen Szene der Fall, in der Saïd durch die enge Gasse zum Grenzhafen läuft und einmal in einem seitlich einfallenden Lichtstreifen sichtbar wird und ein anderes Mal im Schattenwurf der Mauern verschwindet, oder wenn Saïd den Hafen erblickt, dieser jedoch durch die Position der Kamera visuell abwesend ist. So ist die Topografie der Grenze immer auch mit Attributen – und letztendlich auch Passagen – des Verschwindens, der Unsichtbarkeit sowie des Auftauchens, des Sichtbarwerdens verbunden. In Loin wird dieses Wechselspiel zum ästhetischen Prinzip der Grenzdarstellung und gleichzeitig zur Bewegungsbedingung für Saïd.

Die Grenze – hier, anderswo, überall und weit weg

Die Abwesenheit eines anderen, ausserhalb befindlichen Raumes konstituiert nicht nur das filmische Bild, sondern auch die Topografie der Grenze. Beispielhaft zeigt sich dies schon in Charlie Chaplins Film The Immigrant (USA 1917). Hier nimmt die Kamera in einer Lateralfahrt langsam das ersehnte Ziel in den Blick, das bereits zuvor mit der Metapher des «land of liberty» und mit hoffnungsvollen Blicken der Passagiere auf die Freiheitsstatue angekündigt wird. Doch diese Bilder der Hoffnung werden abrupt unterbrochen, als im Reaction-shot die Frauen und Männer zu sehen sind, die plötzlich mit einem Seil – eine mitgeführte, provisorische Grenzsymbolik – zu einem Bündel zusammengeschnürt werden. Auf diese Weise nimmt die vorherige Kamerafahrt die Grenze bereits vorweg und suggeriert mit der bildparallelen Bewegung die Unerreichbarkeit des Reiseziels.

Kamera und Grenze evozieren hingegen auf dem Schiff einen doppelten Blick. Das Seil teilt die zweidimensionale Fläche des Filmbildes horizontal, was ein Oberhalb und Unterhalb zu erkennen gibt. Gleichzeitig entsteht mit dieser Teilung des Raumes die topografische Dialektik eines Hier und eines Anderswo. Dies verdeutlicht das Seil, das sowohl die Trennung als auch den Punkt der «Aufhebung des Hier und Dort» markiert7 und damit die filmisch konstruierte Dialektik von An- und Abwesenheit nachzeichnet, zugleich aber über sie hinausweist. Die Grenze markiert das ästhetische Prinzip filmischer Bilder im Filmbild selbst. Es zeigt damit eine paradoxe Raum- und Blicksituation, die ein filmisches Anwesendes und Abwesendes sowie ein topografisches Hier und Anderswo konstituiert. Allerdings muss bemerkt werden, dass diese Abwesenheit, die sich im filmischen Bild mittels Unsichtbarkeit zu erkennen gibt, nicht mit einer Unsichtbarkeit als dem Gegenteil von Sichtbarkeit gleichgesetzt werden darf. Der Standpunkt der Kamera befindet sich nun in jenem Woanders, von dem die Passagiere getrennt werden. Sie schauen in eben dieses Woanders, das für den Zuschauer- und Kamerablick zwar im Bereich des visuell Abwesenden liegt, damit jedoch nicht unsichtbar ist, sondern sich vielmehr dem Blick und der Imagination noch im Visuellen ankündigt und eine Folie für das Sichtbare bildet.8 Der Zuschauer wird damit wahrhaftig in das topografische Anderswo versetzt, das nun mit einer doppelten Imagination besetzt ist, als das Andere sowie als das visuell Unsichtbare.

In Téchinés Loin hingegen ist die Grenze im Sinne ebendieser trennenden Demarkationslinie gar nicht erst vorhanden, also weder sichtbar, noch in einem «So-Tun-als-Ob» anwesend. Dass es sich um eine Grenzzone handelt, die Marokko von der «Festung Europa» trennt, wird durch die rein visuellen Zustände des Transitorischen, also im Erscheinen und Verschwinden, deutlich. Im Modus des Verschwindens hüllen die Bilder Saïd in den Schutz der Dunkelheit und verstecken ihn auch dann, wenn er eigentlich zur Sichtbarkeit gelangen sollte. So wird Saïd, wenn er durch die enge Gasse läuft, in alternierende Zustände des Erscheinens und Verschwindens versetzt. Oder er verschwindet gar im Erscheinen selbst, wenn die Kamera zwar frontal auf ihn gerichtet ist, er sich jedoch fast vollständig in seine Umgebung einfügt. Dies wird vor allem in den wiederkehrenden Farbspielen und geometrischen Mustern erkennbar, die sich sowohl auf Saïds Kleidung als auch an der Umgebung, am Raum und den Objekten im Hintergrund abzeichnen (Abb. 3).

Damit zeigen die Bilder den Grenzraum in einem Zustand der Indifferenz. Mit den Bildern verbinden sich somit auch Konnotationen wie Gefahrenzone, Illegalität, Schmuggeln und Schleusen, eben eines ungesehenen Transports. In diesem Indifferenzzustand kann sich Saïd zwar schliesslich an Serges Lkw heran­schleichen, damit beschwören die Bilder wiederum die Anwesenheit der Grenze in ihrem Inneren herauf. Das, was in ihnen zur Erscheinung kommt, ist der Grenze vorgängig. Damit kann ein Diktum des Philosophen Bernhard Waldenfels für diesen Zusammenhang fruchtbar gemacht werden. Er schreibt in seinen Überlegungen zur Phänomenologie der Grenze: Das «[...] Da-Sein ist mit Nicht-da-sein durchsetzt.»9 Übertragen auf die filmische Darstellung heisst dies: Die Grenze und mit ihr die geopolitische Konnotation schreiben sich in der oben beschriebenen Szene bereits auch ohne ihre direkte Anwesenheit und Sichtbarkeit in die Visualität der Bilder ein.

In The Immigrant kann die Grenze in einer topografischen Logik auf dem ortlosen Schiff gar nicht vorhanden sein. Hier wird sie vielmehr als eine imaginäre, beliebige, aber in ihrer physischen Materialität dennoch konkret sichtbare Topografie konstruiert. Die filmische Darstellung öffnet ein Feld wechselseitiger Beziehungen, die aufeinander treffen und sich gegenseitig affizieren. In The Immigrant konstituieren sich zwei im Filmbild gegenseitig bestimmende Verortungen eines Hier und eines Anderswo, die auf dem Schiff, dem «Ort ohne Ort» [lieu sans lieu]10 gemeinsam in einen Zustand der Beliebigkeit übergehen.

Mit der Ästhetisierung des Verschwindens scheint die Grenze in Téchinés Loin auf visueller Ebene nicht nur «weit weg», sie wird zu einer um sich greifenden Unbestimmtheitszone und weitet sich zu einem «Irgendwo», einem «Überall» aus. Damit löst der Film die Grenze von ihrer physischen Materialität, an die man sie durch Vorstellungen von Grenzlinien, Schlagbalken, Zäunen oder Mauern bindet. Das Filmbild versetzt sie nicht nur in einen Raum der Unbestimmtheit, sondern demontiert diesen gleichzeitig, transponiert ihn in einen Zustand der Zerstreuung.

Dieser darf jedoch nicht mit einer Auflösung der Grenzen im Sinne ihrer geopolitischen Bestimmung gleichgesetzt werden. Beide Filme zeigen auf ihre jeweils spezifisch ästhetische Art und Weise gleichermassen die Konstruiertheit und auch Arbitrarität der Grenze als topografische Scheidelinie, auf die bereits Georg Simmel (1908) aufmerksam machte. Mit dem einfachen wie eindringlichen Satz: «Der Natur gegenüber ist jede Grenzziehung Willkür [...]»11, wies er nicht nur indirekt auf die Elemente Erde, Luft und Wasser hin, die vor allem in den besprochenen Filmen eine gewichtige Rolle spielen, sondern auch auf die Variabilität, mit der die Grenzen in Erscheinung treten beziehungsweise überwunden werden können. Die Grenzziehung, diese willkürliche Idee der Geopolitik, hat nicht zuletzt Chaplin erkannt und entsprechend visuell in Szene gesetzt. Zudem wählte er dafür einen prädestinierten Ort, denn wo sonst könnte man so gut einfach eine Grenze ziehen, ist doch das Schiff als schwimmender «Ort ohne Ort» Michel Foucault zufolge auch «das grösste Reservoir für die Fantasie».12

Mit diesen Überlegungen haben wir uns bisweilen den Fragen der Erscheinung der Grenze sowie den Fragen nach der Beschaffenheit eines Hier und eines Anderswo zugewandt. Dabei stellte sich heraus, dass der filmische Blick die Grenze sowohl deutlich, zum Teil auch überspannt in Erscheinung treten lässt, sie damit aber gleichzeitig in den Zustand der Beliebigkeit, der Zerstreuung, kurz: in ein Überall versetzen kann. Es blieben in diesem Zusammenhang jedoch Fragen nach der Art der Grenzüberquerung, des tatsächlichen Transits, offen. Diesen begegnet der folgende Abschnitt unter anderem mit Blick auf die filmische Darstellung der griechisch-albanischen und der mexikanisch-amerikanischen Grenze.

Der Transit, die Grenze und die Räume des Sfumato

Mit Loin wurde deutlich, dass die Bilder auf die Grenze als visuell Abwesendes verweisen können. Doch auch die Passage wird in der filmischen Ästhetik auf ihre je spezifische Art und Weise als eine tatsächliche Reisebewegung, aber auch als visuelle Metapher hervorgebracht und konstituiert. Dies geschieht vor allem im Rückgriff auf die Elemente Luft, Wasser und Erde, die mit den audiovisuellen Ebenen des Films spielerisch eine Verbindung eingehen. So kündigt zu Beginn des Films eine aus dem Off ertönende, «orientalisierende Musik»13 beim Übertritt Serges von Algeciras in Spanien nach Tanger in Marokko bereits das Ziel an, während der Protagonist auf dem Deck der Fähre steht und entgegen der Fahrtrichtung auf ein visuell Unbekanntes schaut. Die Musik begegnet anfangs noch den Geräuschen des Schiffes, dem Rauschen des Wassers, dem Wind. Doch diese Geräusche werden allmählich davongetragen, sodass später allein die Musik zu hören ist. Die auditiven Passagen folgen Serges Blick und einem Umschnitt auf das fahrende Wasser. Was folgt, ist der Transit des Visuellen, ein Ineinandergreifen der Bilder, eine Bewegung innerhalb des Bildes und aus dem Innersten des Bildes heraus. Denn langsam und immer deutlicher kommt aus den Wellen und der aufschäumenden Gischt die Stadt Tanger zum Vorschein. Es entsteht eine Vermischung, ein paradoxes Ineinandergreifen des ortlosen, aufwirbelnden Wassers mit dem scheinbar aus diesem auftauchenden Festland, das den Blick auf Häuser rund um den Hafen der Stadt freigibt. Das Fluide des Wassers verwandelt sich in Verbindung mit der physischen Mate­rialität der Stadt in einen nebligen Zustand, es erscheint transparent, bis es sich schliesslich von der Oberfläche des Bildes ablöst und eine andere Bewegungsform auf festem Grund (Saïd auf dem Fahrrad) deutlich zu erkennen gibt.

Diese ästhetische Überlagerung verschiedener Bildebenen und das so erzeugte Zusammenspiel der Elemente Wasser, Luft und Erde visualisieren nicht nur die filmische Überwindung von Inkommensurabilitäten, sie lösen zunächst auch – zumindest vom Startpunkt Europa aus gesehen – die Grenze auf. In die­sem Zusammenhang wird der Gedanke an das koloniale Erbe Frankreichs evident. Die visuelle Interferenz der einst getrennten Elemente Wasser (das Meer) und Erde (das Ufer, die Stadt), führt in einen Prozess der Transformation und Auflösung des Wassers, zunächst in seine Aggregatzustände – Nebel, Dunst – bis ausschliesslich die Erde zu sehen ist. Das ästhetische Spiel mit den Elementen lässt somit auf eine doppelte Passage schliessen, da der Schärfen- und Elementenverlagerung eine zeitliche sowie räumliche Dimension zugesprochen werden kann.14 Das sukzessive Auftauchen aus den Meerestiefen aus einem Unterhalb, als die zweite Form der Passage, weist darüber hinaus auf eine kulturelle (visuelle) Überlagerung vom Okzident, einst geprägt durch die abendländische Philosophie, Kultur und Mythologie auf den Orient, der auf diese Weise zu einer Projektionsfläche des Okzidents wird.15 So wie die Szene aus einem diffusen Wassergemenge eine Stadt entstehen lässt, so generiert die Kolonialkultur aus einer zerstreuten Vielfalt eine Vorstellung, eine Denkfigur, die als Orient bezeichnet wird. Die territoriale Grenze wird so zwar visuell aufgelöst, regelrecht überschwemmt, was einen reibungslosen Übertritt ermöglicht. Jedoch wird eine andere hervorgerufen, die sich in einer homogenisierenden und stereotypisierenden Differenz von Orient und Okzident zu erkennen gibt.

Loin bringt damit zwei Passagen- und Grenzbilder rahmend zur Ansicht. Einerseits zu Beginn die Auflösung der Grenze von Europa kommend sowie andererseits am Ende des Films ihre Zerstreuung und die damit verbundene Ubiquität, Ausweitung und Schliessung bei der Einreise nach Europa. Die mit der Vernebelung einhergehende Auflösung auf der einen bedeutet demnach eine gleichzeitige Schliessung auf der anderen Seite. Die filmische Erscheinung der Grenze scheint nicht nur von einer Dialektik der An- und Abwesenheit, des Sichtbaren und des Unsichtbaren angezogen, sondern auch von den Naturelementen und deren Mischformen. Grenzräume hüllen sich in Nebel, erscheinen auf diese Weise opak und undurchdringlich, gleichermassen imstande, Diffusion und Chaos zu stiften, die Grenzen visuell aufzulösen oder in dieser Art des Sfumato16 sogar erst zur Erscheinung zu bringen und zu schliessen. Die Tendenz des Grenzen-Auflösens, wie sie in Loin geschieht, funktioniert dabei jedoch nur einseitig. Denn die Unterlagerung der Nebel-Wasser-Wolken mit der Stadt Tanger und die mit ihr zu verbindende koloniale Stereotypisierung bringt in ihrer diffusen Erscheinung für die am Ende des Films gezeigte Umkehrung der Fahrt- und Deutungsrichtung bereits die Verdichtung der Grenze zum Ausdruck.

Was bedeutet nun aber eine visuelle Verortung der Grenze in der Art des Sfumato, der Verhüllung des Raumes in einen nebligen Dunst, der Weichzeichnung der Konturen? Diese Art der visuellen Verwischung lässt die Grenze als eine Zone der Überlagerungen oder sogar der Indifferenz, der Unbestimmtheit erscheinen. Die ästhetische Erscheinung der Grenze setzt somit einen Kontrapunkt zu der ihr immanent gesetzten, dichotomen Stabilität. Das aus der abendländischen Tradition der Malerei übernommene und nun filmisch umfunktionierte Prinzip des Sfumato visualisiert die Grenze in der Sichtweise eines dritten Raumes, als eine Zone, die über binäre Unterscheidungen hinausweist und dergestalt das Unbestimmte, das Weder-Noch visualisiert.

In den Filmen aus Angelopoulos’ Trilogie der Grenze stossen wir ebenfalls auf diese Art der Raumverdichtung.17 In Die Ewigkeit und ein Tag (GR / F / D / I 1998) beispielsweise wird der Grenzzaun, der Nordgriechenland von Albanien trennt, in einen eiskalten Nebel gehüllt. Es entsteht ein paradoxes Bild, das die Grenze weder vollständig verschwinden lässt noch eindeutig in Erscheinung bringt. Vielmehr verortet der Nebel sie in einem transitorischen Raum des Weder-Noch zwischen Erscheinung und Verschwinden, in einem Erahnen. Nur schwach scheinen die Konturen und Kontraste der schwarzen, zu Silhouetten reduzierten Körper am Zaun durch den Nebel hindurch. Dies führt dazu, dass der Zuschauer nicht erkennen kann, von welcher Seite aus die Menschen an dem Zaun empor geklettert sind und nun dort verharren. Gleichzeitig lässt der Nebel das Woanders hinter dem Zaun wie in einem Nichts verschwinden. Das visuelle Off wird in das sichtbare Feld des Bildes verlagert. Die Technik des Sfumato suspendiert die Konturen als Markierungen eines Konkreten, Unterscheid- oder gar Messbaren. Mit diesem Bild verbindet sich erneut der Bezug zu den Naturelementen. Da Angelopoulos die Unschärfe an die Elemente und nicht an den Distanzring der Kamera bindet, diese also nicht nach Belieben verändern und verlagern kann, verzichtet er nicht nur auf die Möglichkeit der Raum durchdringenden, virtuellen Bewegung aus dem Bild, sondern auch auf die einer topografischen Bestimmung oder einer transitorischen Figurenbewegung. Die filmischen Bilder bringen die Grenze als Kinesis-Arretierer und schliesslich als ortlose, imaginäre Topografie in Erscheinung. Der Grenzraum verortet sich stattdessen in einem Ausserhalb jeglicher Raum- und Zeitdimen­sionen und einem reinen Innerhalb des Bildes, das den Blick in einem ungewissen Irgendwo verharren lässt. Damit wird deutlich, dass ein visuelles Verwischen nicht mit einer trennenden Auflösung oder Zusammenführung eines «Sowohl-als-auch» assoziiert werden kann, sondern vielmehr mit einem nebligen «Irgendwo» oder drastischer formuliert: einem «Weder-noch».

Auch in Sin nombre (MX / USA 2009) begegnet uns das ästhetische Prinzip des Sfumato. Der Transit erfolgt hier für die Protagonistin Sayra und ihren Vater auf ganz unterschiedliche Weise. Ihre Route erstreckt sich von Honduras über Guatemala und Mexiko in die USA. Nichts darf auf dieser zum Teil lebensbedrohlichen Reise dem Zufall überlassen werden. Die Migration, der Transitstrom scheint deshalb bereits Teil des Lebensalltags der Menschen zu sein. So herrscht auf dem Usumacinta, dem Grenzfluss zwischen Guatemala und Südmexiko ein reger, organisierter Migrationsverkehr. Auf kleinen Booten werden die Flüchtlinge über den Fluss bis zum Güterbahnhof an der südmexikanischen Grenze gebracht. Die territoriale Grenze weitet sich hier zu einer Zone aus. Der Fluss markiert dabei als «natürliche» Grenze den bewegten und bewegenden Raum des Übertritts. Das Festland hingegen bildet den Raum des Unbestimmten. So werden in einer Einstellung, die den Bahnhof in der Nacht zeigt, ästhetische Grenzen wie Konturen und Umrisse verwischt und der Raum der Passage auf diese Weise visuell verdichtet. Eine Gegenlichtaufnahme lässt die Körper auf dem Dach eines Zuges als Silhouetten erscheinen, während die Überbelichtung aus dem Hintergrund ihre Konturen im kalten Blau der Nacht verschluckt und sie in einem weiss-bläulichen Lichtfeld verschwimmen lässt. Sie befinden sich in einem Zustand der Unbestimmtheit, wartend und ausharrend in einem visuellen Nirgendwo. Auf dem Dach des Zuges, an diesem «Nicht-Ort» sind sie weder hier noch dort. Auch in die Visualität dieser Bilder, die Menschen in einer unwirtlichen, absurden Reisesituation zeigen, schreibt sich die Grenze im Sfumato als Hintergrund und Bedingung der Passage ein (siehe Abbildung 4). Ähnlich wie Loin erzählt auch Sin nombre von einer doppelten Passage auf narrativer wie visueller Ebene. Eine kleine Karte vermerkt die Reiseroute und nun bekommt das überbelichtete Bild auch eine kartografische Entsprechung. Der weisse Fleck auf der Landkarte, auf der noch nicht einmal der Zielort New Jersey Platz findet, zeigt das Ungewisse und damit nur ein weit entferntes, weiss-diffuses Woanders, das sich gleichermassen in den visuell zur Erscheinung kommenden Raum der Passage als das Unbestimmte einschreibt. Dies führt letztlich auch dazu, dass sich im Verlauf der Reise nicht nur die durchfahrenen Topografien in fliehende Räume verwandeln, sondern sich auch das Ziel als zeitliche und räumliche Dimension im Sfumato, im Unbestimmten verflüchtigt.

Der weisse Fleck auf der Landkarte, das neblige Woanders hinter dem Grenzzaun, die weissen Planen der Container; sie alle kündigen ein Ziel an, das sich vermutlich «Weg-von-hier» nennt. Dieses «Weg-von-hier» bleibt in allen beschriebenen Filmen eine Imagination, für Saïd eine Wunschtopografie, für Sayra ein weisser Fleck auf der Landkarte und ein weiss-blauer Lichtdunst am vorderen Ende des Zuges. Manchmal ist es eine bestimmte, konkrete Wunschtopografie – Europa zum Beispiel – eine Imagination sondergleichen, manchmal ist es eine Zukunftsvision oder aber auch, wie in den Filmen Angelopoulos’, eine nicht enden wollende Suche.

Michel Foucault, «Die Sprache des Raumes» In: Daniel Defert / François Ewald, Michel Foucault. Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Band I, Frankfurt, 2001, S. 533–538 [zuerst Frz. als Dits et Ecrits I. 1954–1969, Paris, 1994].

Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt, 1994, S.13–52. [zuerst Frz. als Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris, 1992].

Hedwig Wagner, «Grenzpassagen in André Téchinés Loin», in: Mathias Mertens / Volker Wortmann (Hg.), MedienDiskurseGeschichte. Festschrift für Jan Berg, Salzhemmendorf, 2009, S. 103–122.

Hedwig Wagner, «Der Grenzfluss in der imaginären Topographie Angelopoulos’», in: Lorenz Engell / Bernhard Stiegert / Joseph Vogl (Hgg.) Stadt-Land-Fluss: Archiv für Mediengeschichte Bd. 7, Weimar 2007, S. 49–63.

Vgl. Andreas Hepp, Netzwerke der Medien: Medienkultur und Globalisierung, Wiesbaden 2004.

Diese Idee geht auf den Literaturwissenschaftler und Semiotiker Jurij M. Lotman zurück, der die partikularen Analysen literarischer Texte auf das Universelle, also die sie umgebenden kulturellen Kontexte bezog und zurückführte, um auf diese Weise kulturtheoretische Konzeptionen zu generieren. (Vgl. Susi K. Frank u.a. «Jurij Lotmans Semiotik der Übersetzung». in: dies. Jurij M. Lotman. Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Frankfurt 2010, S. 383–416, hier S. 389).

Wagner, «Grenzpassagen in André Téchinés Loin», S. 110

Vgl. Bernhard Waldenfels, «Schwellenerfahrung und Grenzziehung», in: dies.: Vielstimmigkeit der Rede: Studien zur Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt 1999, S. 186–204.

Waldenfels, a.a.O., S. 201.

Michel Foucault, «Die Heterotopien», in: ders.: Die Heterotopien. Les hétérotopies. Der utopische Körper, Le corps utopique, Frankfurt 2005, S. 21 [franz. S. 51] [zuerst als CD Michel Foucault, Utopies et hétérotopies, Paris 2004].

Georg Simmel, «Der Raum und die räumliche Ordnung der Gesellschaft», in: Georg Vubruba / Monika Eigmüller (Hg.), Grenzsoziologie: Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006, S. 21.

Foucault, «Die Heterotopien», S. 21.

Diesen Begriff übernehme ich hier aus dem Aufsatz Hedwig Wagners (2009), da er bereits mit der Passage und der Musik auf die imaginierende Projektion vom Okzident auf den Orient verweist.

Vgl. Tereza Smid, «Jenseits der Aufmerksamkeitslenkung: Narrative und ästhetische Wirkungsmöglichkeiten der Schärfenverlagerung», in: Thomas Koebner / Thomas Meder (Hgg.) Bild­theorie und Film, München 2006, S. 282–296.

Der Orient ist das Werk, eine Konstruktion des Okzidents. So kann die Kritik Edward W. Saids auf den Punkt gebracht werden, die den «Orientalismus als kulturellen Stil im Okzidentalen Denken verortet» (vgl. Reinhard Schulze, «Orientalism: Zum Diskurs zwischen Orient und Okzident», in: Iman Attia [Hg.] Orient- und Islambilder: Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Münster 2007, S. 45–68, hier S. 46 sowie Edward W. Said, Orientalism, New York 1979).

Mit dem Begriff des Sfumato tauchen wir ein in die Welt der malerischen Schärfenverlagerung. Doch wir denken dieses Prinzip noch weiter und verlagern es ins filmische Denken der Grenze und des Grenzraumes. Bernhard Waldenfels hat das Prinzip des Sfumato metaphorisch und gedankenmalerisch auf die Auflösung der Grenze und das Ineinander-Fliessen des einst Separierten übertragen (vgl. Waldenfels a.a.O., S. 189).

Zur Trilogie der Grenze gehören die Filme: To meteoro vima tou pelargou (Der schwebende Schritt des Storches, F / I / GR /CH, 1991), Tou vlemma tou Odyssea (Der Blick des Odysseus, GR / F / I / D / UK / YU/ BA / AL 1995) sowie Mia aioniotita kai mia mer (Die Ewigkeit und ein Tag, GR / F / D / I 1998).

Katharina Klung
*1982, M.A., Studium der Medienwissenschaft und Erziehungswissenschaft in Jena, Doktorandin und Dozentin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich.
(Stand: 2012)
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