BETTINA SPOERRI

RIO SONATA (GEORGES GACHOTGEORGE GACHOT)

SELECTION CINEMA

Sie hat diese charakteristische heisere, eindringliche Stimme: Nana Caymmi, die der französisch-schweizerische Filmautor Georges Gachot zur Protagonistin seines neuesten Musik-Dokumentarfilms gemacht hat. Eine Art Billie Holiday des brasilianischen Bossa Nova ist die stolze, heute 70-Jährige, eine Lady, eine Identifikationsfigur, Tausenden bekannt durch ihre Lieder, die nicht zuletzt in Telenovelas zu erleben sind. Georges Gachot nähert sich der «Sängerin unter den Sängerinnen Brasiliens», wie sie ihre Kollegen nennen, der Muse Milton Nascimentos sowie der Jugendfreundin und Kommilitonin des klassischen Pianisten Nelson Freire auf behutsame, zurückhaltende Weise. Rio Sonata kombiniert viele von Caymmis Konzertauftritten, Studioarbeiten und Gesangseinlagen mit Interviews von Weggefährten, darunter mit der Komponistin Sueli Costa, der Sängerin Maria Bethânia und Nanas be- kanntem Vater Dorival Caymmi, einer Symbolfigur des Bossa Nova. Etwas enttäuschend knapp abgehandelt wird allerdings Nana Caymmis Ehe in jüngeren Jahren mit Gilberto Gil, der später zum international bekannten Künstler wurde und von 2003 bis 2008 als Kulturminister Brasiliens amtete.

Gachot gibt der Musik viel Raum, erörtert die Geschichte und spürt der Szene des Bossa Nova nach. Neben den Liedern von Eifersucht, Trennung, Abschied und Sehnsucht wird auch die Verbundenheit mit dem Meer, ein grundlegendes Lebensgefühl dieser Musik, mit/in melancholischen und zuweilen sehr malerischen Filmbildern vom Strand­­leben Rio de Janeiros eingefangen (Kamera: Pio Corradi, Matthias Kälin). Rio Sonata ist ein sehr stimmungsvoller Film – manchmal wünscht man sich allerdings ein Nachhaken, ein Insistieren bei schwierigeren Themen. Die Interviewpartner scheinen den Regisseur auf Distanz gehalten zu haben, oder zumindest wird die starke, zerrissene Emotionalität, die da in den Liedern beschworen wird, in den Begegnungen mit den Musikerinnen und Musiker nur wenig erlebbar. Das zarte, innige Gefühl des Bossa Nova bleibt auf diese Weise trotz aller Umsichtigkeit, mit der dieser Film gemacht ist, zwar hörbar in den Interpretationen der Lieder, doch die Leidenschaft der Musik wird durch die vorsichtige Gesamt­inszenierung im Zaun gehalten. Wahrscheinlich aus diesem Grund befriedigt Rio Sonata durchaus die Neugier auf eine der wichtigsten Figuren der brasilianischen Musikgeschichte der letzten Jahrzehnte – und dennoch bleibt das Gefühl eines «missing link»: Es fehlt die Verbindung zwischen der Kunst und dem Leben beziehungsweise der für den Bossa Nova so charakteristischen Gefühlsaufladung, über die in diesem Film so viel gesprochen wird.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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