ELENA KOSSOVSKAJA

... AUS RUSSLAND

FILMBRIEF

Als Kind freute ich mich immer sehr auf die abendliche Fernsehsendung Gute Nacht, Kleinkinder. Da war man sich sicher, dass man zumindest einmal am Tag einen schönen Trickfilm – in Farbe! – zu sehen bekam. Wir kauften dann auch irgendwann (ich kann mich nicht mehr genau erinnern, ob ich schon zur Schule ging oder noch nicht) einen Farbfernseher; eine grosse Kiste, mit dunklem Holz verkleidet. Man witzelte damals, dass die Japaner diese Fernseher in Massen kaufen würden, um das wertvolle Holz wiederverwenden zu können.

Anno dazumal, in den frühen Achtzigerjahren, gab es nur drei staatliche TV-Sender in der Sowjetunion, die nicht besonders viel Auswahl an Unterhaltung boten. Und es gab kaum Sendungen oder Filme, die nicht in Russland oder einem anderen sozialistischen Land produziert worden waren. Der «Westen» (so nannte man damals alle Länder ausserhalb des Eisernen Vorhangs, egal ob USA, Japan oder Thailand) glich in dieser Zeit einer Fata Morgana – einem unerreichbaren Ort der Sehnsucht. Berichte über ferne Länder und Städte waren rar, Informationen darüber schöpfte man zumeist aus klassischer Literatur. Über Paris erfuhr man Näheres in Dumas’ Die drei Musketiere, über London in Doyles Sherlock Holmes.

Mitte der Achtzigerjahre kamen die ersten Videorekorder und mit ihnen auch die ersten westlichen Filme nach Russland. Neben den grossen staatlichen Kinos, in welchen nur die zugelassenen Filme gezeigt wurden, schossen gegen Ende der Achtzigerjahre die sogenannten Videosalons wie Pilze aus dem Boden. In kleinen fensterlosen Räumen, ehemaligen Kellern oder Lagerräumen, wurden dicht nebeneinander Stühle aufgestellt und ein Filmprogramm angeboten, das von Erotik- bis zu Horrorfilmen reichte; beide Genres waren bis dahin völlig unbekannt. Im staatlichen Fernsehen änderte sich in dieser Zeit jedoch wenig.

In meinen späteren Schuljahren, es waren die frühen Neunziger, eine so mittellose wie auch aufregende Zeit, kamen endlich die ersten Filme über das Leben «drüben» ins russische Fernsehen. Ich erinnere mich noch an die hitzigen Diskussionen mit Klassenfreundinnen über das Schicksal der Helden aus den inzwischen sowohl zahlreichen als auch unendlich scheinenden Fernsehserien. Wie schnell vergingen bloss die langweiligen Schulstunden in den Gesprächen über Eden, Lionel oder die bösartige Gina aus California Clan! Jeden Tag eine Folge – es gab immer genug zu besprechen.

Die postsozialistische Ära begann mit dem Ende des «Stillstands» der Bresch­new’schen Zeit und der Perestroika. Mit dem Verschwinden der staatlichen Regulierung, der Zensur und damit aber auch der gesicherten Finanzierung brach die sowjetische Filmproduktion zusammen. Die Populärkultur hielt zuerst in Form von eingekauften, später immer mehr in Russland produzierten Serien Einzug ins Fernsehen.

Der folgende Überblick über die Serienlandschaft im russischen Fernsehen von 1992 bis heute beruht auf einer subjektiven Auswahl. Mein Ziel ist weniger eine vollständige Übersicht über die populären Filmproduktionen in Russland, vielmehr bin ich daran interessiert, Entwicklungslinien zu skizzieren – parallel zu den politischen und den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte.

Die Sklavin Isaura (BR 1976, 30 Folgen) war die erste noch zu Zeiten der Sowjetunion ausgestrahlte Telenovela. Die 1988/1989 ausgestrahlte Geschichte über das Leben und den Kampf einer Sklavin in Brasilien um 1870 packte das russische Publikum sofort, und die exotischen Namen und Bezeichnungen gingen in die Alltagssprache über: Seitdem werden die kleinen Datscha-Grundstücke in den städtischen Vororten nach der Telenovela etwas ironisch als «Fazendas» bezeichnet. Die danach gesendeten Telenovelas, Reiche weinen auch (MEX 1979, 244 Folgen) oder Einfach Maria (MEX 1989, 143 Folgen), krempelten das Leben der postsowjetischen Bürger um: Während der Ausstrahlung leerten sich die Strassen des gesamten Landes; Männer, Frauen, Kinder, Alt und Jung eilten zum Fernseher, um die nächste Folge zu sehen und gleich darauf eine mögliche Weiterentwicklung des Plots und die Schicksale der Figuren zu diskutieren. Die Serien brachten eine Ordnung in den Alltag, die ansonsten im postsowjetischen Chaos mit rasender Geschwindigkeit unterzugehen schien. Die Leidenschaften der gut gebräunten Darsteller und die herzzerreissenden Geständnisse halfen zumindest eine Stunde lang über die Ausweglosigkeit ausserhalb des Fernsehbildschirms hinweg; denn mit dem Zerfall des sozialistischen Imperiums verschwand nicht nur die staatliche Kontrolle, sondern auch die vom Staat garantierten sozialen Leistungen, die jedem sowjetischen Bürger einen gewissen Lebensstandard gewährleisteten. Es gab in der Sowjetunion keine Arbeitslosigkeit, auch wenn so jeder nur wenig verdienen konnte. Man wohnte üblicherweise sehr beengt. Wenn man sich aber einige Jahrzehnte lang geduldete, bekam man eine staatliche Wohnung zugeteilt, die nicht bezahlt werden musste. Auch die Ausbildung war jedem, der die Zugangsprüfungen bestand, kostenlos zugänglich. All diese Errungenschaften des Sozialismus, die Klarheit, Ordnung und vor allem Sicherheit brachten, verschwanden, und an ihre Stelle trat nichts Vergleichbares. Der neu gebildete Staat entzog sich beinahe vollständig der sozialen Verantwortung, sodass rasant Grossteile der Bevölkerung verarmten; und dies ohne eine Aussicht auf eine baldige Besserung der Zustände.

Diese ersten Fernsehserien, die alle eine unglaubliche Popularität besassen, sind in die Kulturarchive des postsowjetischen Russlands eingegangen: Vertreter aller Gesellschaftsschichten, aller Geschlechts- und Altersgruppen kannten und schauten sie. Trotz der exotischen Kultur berührten die darin thematisierten Grundgefühle wie Leid und Schmerz, Liebe und Hass jeden – und das in stärkerem Masse, als es die in der gleichen Zeit im westeuropäischen Raum populären USA-Produktionen zu leisten vermochten. Nach den ersten südamerikanischen Telenovelas brach aber auch in Russland die Zeit der amerikanischen Serien an, von denen die erste die Soap California Clan war – mit mehr als 2000 Folgen.

Die Darstellungsarten und -formen der westlichen Produktionen übten in der Folge Einfluss auf die Entwicklung analoger russischer Produktionen aus. Die ab Mitte der Neunzigerjahre entstandenen TV-Serien orientierten sich an «westlichen» Vorbildern und wirkten zunächst wie eine Parodie auf die «coolen» amerikanischen Produktionen; so zum Beispiel die Mini-Fernsehserie Russkij Tranzit (Russischer Transit, sechs Folgen) mit Evgenij Sidihin, einem der ersten russischen Schauspieler, der die Gestalt eines neuen Superhelden, eines russischen «Rambo», prägt. Die Serie weicht allerdings vom westlichen Typus insofern ab, als hier akut gewordene Themen wie das Aufkommen von mafiösen Organisationen in der postsozialistischen Gesellschaft behandelt werden. Der Titelsong stammt zudem von der Kultband DDT, die bis zur Perestroika zu den verbotenen Musikgruppen gehörte.

Waren die in Russland produzierten TV-Serien in den Krisenjahren 1992 bis 1998 noch an einer Hand abzuzählen, so wuchs ihre Zahl nach 1998 schlagartig, als die Wirtschaft sich nach der Rubelkrise langsam zu erholen begann und sich endlich ein Wachstum abzeichnete. Die Episodenserie Ulicy rasbityh fonarej (Die Strassen der zerbrochenen Laternen, ab 1998, 12 Staffeln) spielt in St. Petersburg und stellt die Arbeit der russischen Miliz – so wurde bis 2011 die russische Polizei bezeichnet – ins Zentrum. Die Polizisten darin sind keine Übermenschen mit übernatürlichen Fähigkeiten, sie verfügen auch nicht über eine spezielle Technik. Die Filmbilder der ersten Staffeln wirken sehr realistisch, die Kameraführung erinnert an die in dieser Zeit üblichen täglichen Fernsehdokumentationen über Kriminalität. Die Annäherung an eine russische Realität machte diese Serie überaus beliebt. Viele der inzwischen bekannten Schauspieler wechselten 2004 nach dem Schluss der Dreharbeiten zur fünften Staffel in eine andere Krimi-Serie, die von einer anderen Filmgesellschaft finanziert wurde. Dort behielten sie ihre Filmnamen aus der ersten Serie, was zum juristischen Streit über die Autorenrechte zwischen beiden Filmgesellschaften führte. Doch in den neuen Episoden entwickelten sich die Charaktere immer mehr zu den aus den amerikanischen Vorbildern bekannten schematisch gezeichneten «Superhelden». Das im Volk beliebte Schauspielerteam wechselte anschliessend unter den eigenen Namen (wohl zur Steigerung der filmischen Glaubwürdigkeit) erneut in eine andere Produktion, Litejny 4, die seit 2007 läuft.

Dabei ist die Wahl des Titels für mich als gebürtige Petersburgerin ziemlich merkwürdig: Wenn man bedenkt, dass Litejny Strasse 4 die berühmt-berüchtigte Adresse des sogenannten Grossen Hauses in St. Petersburg ist, in dem heute der russische Geheimdienst FSB untergebracht ist und in dem sich früher die KGB-Zentrale von St. Petersburg befand, wo seinerzeit viele der Andersdenkenden verschwanden.

In der Serie widmen sich die Figuren, in einer Spezialeinheit organisiert und mit den neuesten Errungenschaften der Technik ausgestattet, besonders wichtigen Aufträgen im Dienste des Staates. Das Interieur des Büroraums der Spezialabteilung – ein zweigeschossiger holzvertäfelter Raum mit einem Kamin und einem Billardtisch – scheint eher einem englischen Landhaus aus einem Roman von Agatha Christie entsprungen als der Petersburger Realität. Die den FBI-Agenten ähnelnden «Superspezialisten» bewegen sich ausschliesslich durch eine aufgehübschte, postkartenartige Innenstadt, leben in luxuriösen Maisonettewohnungen, die mit Designmöbeln ausgestattet sind, und fahren teure Autos. Auch der Folgeninhalt verdient einen genaueren Blick: In der vierten Staffel wird eine Künstlergruppe, die eigentlich auf die Art-Gruppe Vojna anspielt, die mit ihren politischen Kunstaktionen weltweit für Aufmerksamkeit und in Russland für juristische Verfolgung sorgte, als Hooligans abgetan. Es wird postuliert, dass jemand keinesfalls ein Künstler sein kann, dessen Werke keinen nachweislich künstlerischen Wert besässen, da ihnen die handwerkliche Qualität fehle, die einem «echten» Kunstwerk eigen sei.

Zwischen 1998 und 2003 wurde eine weitere Superagenten-Serie ausgestrahlt: Agent natsionalnoj bezopasnosti (Der Geheimagent der nationalen Staatssicherheit) ist ein russisches Äquivalent zu James Bond – darauf spielt auch die Intromusik an. Nur sollte die Figur dem russischen Zuschauer viel «sympathischer» sein, weil sie ihm verständlicher als der fremde Engländer und dessen Aufgaben erscheinen sollte. Jede Folge beinhaltet eine in sich abgeschlossene Geschichte. Oft wird der Diebstahl von Geheimdokumenten mit den wissenschaftlichen Untersuchungen von strategischer Bedeutung (etwa Pläne eines atomaren U-Bootes) zum Thema der Episode. Die Anspielung auf die öffentliche Diskussion um die katastrophale Lage der Wissenschaft und die Auswanderung vieler russischer Wissenschaftler, die im westlichen Ausland viel bessere Arbeitsbedingungen vorfinden, sollen somit filmisch widerlegt werden. In der vierten Staffel (2003) wurden der Terrorismus und der russisch-tschetschenische Konflikt zum Hauptthema. Der zweite Tschetschenien-Krieg (1999–2000) und der Terroranschlag auf ein Moskauer Theater 2002, bei dem 900 Menschen als Geiseln genommen wurden, waren dieser Staffel vorausgegangen. Die Verstärkung der gesellschaftlichen Ablehnungshaltung gegenüber den «Schwarzen» (pauschale Bezeichnung aller Kaukasier) und der staatlich verordnete Anti­­- terrorkampf spiegeln sich um das Jahr 2000 in vielen Film-Serien wider.

Ausserdem wird Russlands Unbeliebtheit im Westen zu einem populären Filmthema: Eine angeblich ständige Diskriminierung Russlands in der westlichen Öffentlichkeit soll dem Zuschauer zeigen, dass die eigentliche Überlegenheit Russlands im Westen Ängste provoziert. In der Episode Vremja Tch (Zeitpunkt Tch) verbinden sich die Themen der Terrorbekämpfung und des feindlich gesinnten Westens. Schon eine der ersten Szenen zeigt einen mit Dollarnoten gefüllten Koffer, der für eine kriminelle (möglicherweise muslimische) Gruppierung zur Durchführung eines Terrorakts bestimmt ist. In der darauffolgenden Sequenz stirbt ein Junge bei einer Bombenexplosion auf einem Spielplatz. Die Plakativität der Botschaft wird letztlich nur durch das Feigenblatt der Handlungsspannung, der Suche nach den Tätern, überdeckt.

In einigen beliebten TV-Serien veränderte sich mit der Zeit die Akzentsetzung, wie es zum Beispiel in Banditskij Peterburg (Petersburg der Banditen, 2000–2007, 10 Staffeln) der Fall war. Zu Beginn einer als Reflexion auf die Entmoralisierung und Kriminalisierung der postsozialistischen russischen Gesellschaft gemachten Serie wurde die vereinfachende Aufteilung in Gut und Böse vermieden. In den letzten Staffeln rutschte die Serie jedoch in eine offene Propaganda für die FSB-Strukturen ab, welche die Reste der Mafiosi aus den Neunzigerjahren bekämpfen. Diese filmische Wendung entspricht gewissermassen den neuesten Entwicklungen der Machtverhältnisse in Russland, als der nach 2000 wieder erstarkte Staat die Mafiastrukturen eliminierte und durch den eigenen staatlichen Apparat ersetzte.

Mitte der Neunzigerjahre bekam unsere Familie die Möglichkeit, nach Deutschland auszureisen, und wir nutzten sie in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Wir wussten damals wenig über den deutschen Alltag, Sprache und Kultur waren uns fremd. Es folgten Jahre, die von der grossen Anstrengung gezeichnet waren, uns in eine fremde (und Fremden gegenüber doch eher skeptisch eingestellte) Gesellschaft zu integrieren. In dieser Zeit schwächten sich unsere Verbindungen zu Russland, und wir bekamen die politischen, aber auch die alltäglichen Veränderungen nur bruchstückhaft mit. Dies änderte sich gegen Ende der Neunzigerjahre, als Computer und Internet zu einer Selbstverständlichkeit wurden. Man konnte sich plötzlich ohne grossen Aufwand durch E-Mails, Skype und Nachrichten mit der gesamten Welt verbinden. Man konnte Bücher lesen, Musik hören und Filme schauen, die massenhaft und kostenfrei auf vielen russischen Internetseiten zur Verfügung standen. Ich nahm zu dieser Zeit mein Studium in Berlin auf, hatte auch einige deutsche Freunde. Doch fehlte mir im neu aufgebauten deutschen Leben etwas. Ich begann eines Tages, russische Filme, die man als «leichte Kost» bezeichnen mag, zur Entspannung zu schauen, und merkte bald, dass diese Filme für mich ausserdem einen wunderbaren Ausgleich zum deutschen Alltag bildeten. Zum einem funktionierten sie als Erholung, die simplen Storys und Charaktere verlangten nicht unbedingt nach geistiger Anstrengung, die es im Studium ausreichend gab. Zum anderen boten sie vertraute Bilder von Städten und Menschen, die sich für einige Stunden zu einem Stück Heimat verdichteten. Ich konnte überdies auch die Veränderungen im politischen, familiären und Arbeitsalltag in Russland – filmisch vermittelt – beobachten. So schaute ich immer mehr von den Filmen und korrigierte so das «veraltete» Bild von Russland, das ich zudem bei meinen regelmässigen Russland-Besuchen mit der Realität abgleichen konnte.

Neben dem sprunghaften Ansteigen der Serien-Produktion fand um das Jahr 2000 eine stärkere Differenzierung der Genres statt. Nicht nur in den Krimis, sondern auch in den anderen Serien-Genres wurde zunehmend auf die inzwischen wieder populäre «russische Idee» – die besondere Bestimmung des russischen Volkes und den Zusammenhalt der russischen Nation – rekurriert. Beispielsweise spielt die Sitcom Soldaten (2004–2012) in einer Militäreinheit und erzählt vom Alltagsleben und den Beziehungen zwischen Soldaten und Offizieren. Die Darstellung der Armee als einer harmonischen Einheit kann als schlicht widersinnig bezeichnet werden, denn es war für niemand ein Geheimnis, dass die Realität der russischen Armee den gezeigten Bildern mitnichten entsprach, was unter anderem eine (offiziell allerdings nicht bestätigte) Vermutung erstarken liess, die Serie sei im Auftrag des Verteidigungsministeriums entstanden.

Nicht immer ist die filmische Botschaft jedoch derart transparent: Die seit 2008 ausgestrahlte Serie Gluhar (einerseits Abkürzung von Gluharev, dem Namen einer der Hauptfiguren, andererseits ist es eine umgangssprachliche Bezeichnung für einen nicht gelösten Kriminalfall) berichtet über die Arbeit einer fiktiven Polizeistation in Moskau. Die Serie unterscheidet sich von der Masse ähnlicher Produktionen insofern, als hier die Widersprüche und Probleme der Polizei, die als «kriminellste Organisation» im Land bekannt ist, offen dargestellt werden. Es gibt hier keine klassischen Helden, die Polizisten sind normale Menschen, die Geldprobleme haben und deswegen versuchen, durch kleine Schmiergelder zwecks schnellerer Lösung der Fälle etwas dazuzuverdienen. In der Serie gibt es auch eine negative Figur, Kapitän Karpov (alias Evsjukov, ein real existierender Polizist, dessen kriminelle Tätigkeit erst auffiel, als er betrunken ohne Grund zwei Menschen auf der Strasse ermordete und weitere fünf verletzte), der seine Dienstmacht für kriminelle Tätigkeiten ausnutzt, etwa für Drogenhandel oder Erpressung. Die beiden Pole der «normalen» Polizisten und des kriminellen Karpov erscheinen nur auf den ersten Blick gegensätzlich. Denn sowohl die Erstgenannten als auch Letzterer betreiben Selbstjustiz, weil die widersprüchlichen russischen Gesetze zumeist für die Sicherstellung von Gerechtigkeit nicht ausreichen. Einerseits werden die Unvollkommenheit der Gesetzgebung, die korrumpierte Alltagsrealität und die politischen Interessen zum Thema der Serie, andererseits legitimieren die guten Absichten eines Polizisten – entsprechend der Logik der Serie – die nicht vertretbare Bestrafung oder gar die Ermordung eines Schuldigen. Darauf verweist indirekt der Werbeslogan «Im Dienste des Gesetzes ist es die Hauptsache, Mensch zu bleiben», der die Machtwillkür der «guten» Polizisten rechtfertigt, die sich gegen die «schlechten» in der Serie durchzusetzen wissen.

Auch die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Geschichte in den neueren Serienproduktionen ist eine ambivalente. Ihre Simplifizierung und Romantisierung hängt mit der weitgehend fehlenden Aufarbeitung zusammen. So wird die historische Komplexität nur zu oft auf die Auseinandersetzung der «Roten» mit den «Weissen» reduziert. So auch in der Serie Liquidation (2007, 15 Folgen), die ansonsten eine der wenigen qualitativ hervorragenden Fernsehproduktionen Russlands darstellt – mit einer brillanten Besetzung und einer spannenden Story. Die Serie spielt in Odessa im Jahr 1946. Einer der wichtigsten Handlungsstränge – die Konfrontation des roten Kommissars Gozman mit einer geheimnisvollen Bande, die gegen die sowjetische Macht kämpft und schliesslich erfolgreich vernichtet wird – stellt eine stark verkürzte Geschichte der tatsächlichen Nachkriegsgeschehnisse dar. Möglicherweise wird auf die Ukrainische Aufständische Armee angespielt, die bis in die Fünfzigerjahre in einem Partisanenkampf sowohl gegen den Faschismus als auch gegen die Rote Armee für die Unabhängigkeit der Ukraine kämpfte. Dennoch wird der politische Kontext weitgehend ausgespart und auf eine positive Darstellung der sowjetischen Macht reduziert.

Nostalgisch anmutende Spionagefilme gewannen in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre an Popularität. Die Serie Isaev (2009) bezieht sich zum Beispiel auf die legendäre Produktion 17 Augenblicke des Frühlings (1973), einen sowjetischen Kultfilm mit zwölf Folgen, eine der wenigen Serienproduk­tionen der sozialistischen Epoche. Erzählt wird die Geschichte des KGB-Offiziers Isaev, eines sowjetischen Geheimagenten, der im nationalsozialistischen Deutschland als Otto von Stierlitz einen hohen Posten bei der SS bekleidete und Informationen für Moskau beschaffte. Ebenfalls im Jahr 2009 erschien eine kolorierte Version der alten Serie, wobei die kostenaufwendige Kolorierung vom staatlichen Fernsehsender Russland finanziert wurde.

Die TV-Serie Lektor (2012) ist eine der neuesten Spionagefilmproduk­tionen und steht in der Tradition der Filmproduktionen aus der Zeit des Kalten Kriegs. Der Hauptdarsteller, anfangs ein ehemaliger FSB-Agent, wird vom russischen Geheimdienst wieder angeworben, denn ohne seine Talente gelingt es dem FSB nicht, einen amerikanischen Doppelspion ausfindig zu machen. Dabei werden alle Klischees der sowjetischen Ära bedient, alle beliebten Themen des neuen nationalen Kinos durchgespielt, von den geplanten Sabotageakten seitens amerikanischer Geheimdienste bis hin zu israelischen Mossad-Agenten, die einen bekannten russischen Physikwissenschaftler zur Emigration nach Israel zu bewegen versuchen. Auch der Litvinenko-Fall wird hier neu interpretiert: Die Vergiftung des ehemaligen KGB-Agenten im Jahr 2006 in London wird im Film als eine Provokation der amerikanischen Geheimdienste dargestellt, die diese Vergiftung organisierten, um Russland in der internationalen Politikarena zu schwächen. Nicht nur der Inhalt, auch die Darstellungsart, zum Beispiel die Off-Stimme im Vorspann oder das ermüdend patriotische Pathos des russischen Haupthelden, entsprechen den sowjetischen Vorbildern. Die Verbindung zwischen den politischen Entwicklungen in Russland und den darauffolgenden Versuchen, das Image der Machtstrukturen aufzubessern, ist nicht zu übersehen.

Seit Mitte der 2000er-Jahre werden immer mehr Fernsehserien mit einem deutlich propagandistischen Tonfall produziert. Die Parallelen der Filmgeschichten zu den tatsächlichen Ereignissen unterstützen die gewünschte Verknüpfung des Gezeigten mit der Wirklichkeit. Ein populäres Genre ist dabei der Kriminalfilm: Gerade ein Krimi erreicht eine breite Öffentlichkeit und eignet sich deshalb gut für die Verbreitung von Ideen und Wertvorstellungen. Der spannende Plot sorgt für Unterhaltung, der ideologische Hintergrund wird beiläufig registriert. Neben der «Whodunit»-Geschichte kann ein paralleler Geschichtsstrang entwickelt und somit die entspannende Unterhaltung mit den weiteren Themen ergänzt werden. Ganz ähnlich funktionieren auch die Tatort-Produktionen des ARD, in denen die Zuschauer über eine klassische Aufklärung eines Mordes hinaus mit gesellschaftsrelevanten Themen konfrontiert werden.

Die Entwicklung der TV-Serien in Russland verstehe ich als eine gegenseitige Einflussnahme der handelnden Politik, der Vorlieben der Zuschauer und der gegenwärtig akzeptierten Normvorstellungen. Die Formung eines neuen russischen nationalen Patriotismus führte, wie es scheint, zum Bedarf nach neuen Serien, die dem «erstarkten» russischen Bewusstsein schmeicheln. Die Geschichte eines guten (naiven, intelligenten, pfiffigen) Russen, der besser und klüger als all die anderen ist, die Geschichten über gute Polizisten oder faire Gerichte entsprechen zwar nicht der tatsächlichen, jedoch der gewünschten Realität vieler Zuschauer, sodass diese gewünschte Realität gern – wenn auch mit einer Prise Selbstironie – von vielen Zuschauern als eine tatsächlich existierende empfunden wird.

Elena Kossovskaja
*1977, Studium der Architektur an der Universität der Künste, Berlin. Architektin und Architekturkritikerin. Mitarbeit in verschiedenen Architekturbüros in Berlin und als Architekturjournalistin für die Zeitschrift archithese. Seit 2011 Assistenzkuratorin im S AM Schweizerischen Architekturmuseum. Lebt in Basel und Berlin.
(Stand: 2013)
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