FELIX LIEB

DAS ENDE DER PERSÖNLICHKEIT — DIE ALZHEIMER-DEMENZ IM SPIELFILM

ESSAY

Alzheimer: Schreckgespenst einer immer älter werdenden Gesellschaft. Diese wohl bekannteste Form der Demenzerkrankungen wird verursacht durch die zunehmende Zerstörung von Nervenzellen durch Ablagerungen im Gehirn.1 Infolge solcher neurodegenerativer Prozesse gehen die kognitiven Fähigkeiten verloren. Zu Beginn wird das Kurz-, später das Langzeitgedächtnis angegriffen. Auch der lokale und zeitliche Orientierungssinn sowie das Sprachvermögen funktionieren nicht mehr. Der Erkrankte zeigt Persönlichkeitsveränderungen, legt aggressives Verhalten bis hin zur Gewalttätigkeit an den Tag, durchlebt Phasen grosser Unruhe, erkennt selbst nahestehende Personen und zeitweilig auch das eigene Spiegelbild nicht mehr. Eine eigenständige Lebensführung ist irgendwann nicht mehr möglich. Der Betroffene driftet weg, verfällt in Bewegungsarmut und apathische Verhaltensmuster.

Mit der Darstellung der genannten Krankheitssymptome hat die Alzheimer-Demenz als Spiegel gesellschaftspolitischer Konfliktfelder mittlerweile international und transkulturell in Film und Fernsehen Einzug gehalten. Als Motiv im fiktionalen Film ist Alzheimer auf tragische Weise spannend, weil daran eine Vielzahl existenzieller Fragen verhandelt wird. Die Visualisierung des Verschwindens von Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen zeigt deren uneingeschränkte Bedeutung für das Individuum auf. Die Krankheit rüttelt an den Grundfesten zeitlicher Ordnung und der Identität, und doch ist ihr Verlauf nur das Abbild rein biologisch-organischer Unausweichlichkeiten. Gerade damit eignet sie sich als traurig-poetischer Ansatz filmischen Erzählens, innerhalb dessen die unterschiedlichen Facetten des Endlichen neu verhandelt werden.

Konflikte der Zeitlichkeit

Mit der Alzheimererkrankung geraten zeitliche Dimensionen aus den Fugen. Der Krankheitsverlauf erstreckt sich über mehrere Jahre. Filme können dieses ausgedehnte Zeitfenster nur bedienen, indem sie sich auf einzelne Stadien der Krankheit konzentrieren oder einzelne Episoden des Fortgangs aneinanderreihen. In Ashita no kioku (Memories of Tomorrow, Yukihiko Tsutsumi, J 2006), einer japanischen Produktion, die den Verlauf der Krankheit des Geschäftsmannes Masayuki Saeki (Ken Watanabe) parallel zum Heranwachsen seiner Enkeltochter zeigt, bilden Datumsangaben auch für den Zuschauer sichtbare Elemente von Tagebucheinträgen. Auch wenn es dem Patienten schon zu einem frühen Zeitpunkt nicht mehr gelingt, Wochentage korrekt einzuordnen, so symbolisiert die Fertigkeit des Protagonisten, diese Datumseingaben im Tagebuch vorzunehmen, die Fähigkeit, sich in dieser Welt zurechtzufinden und sich selbst zeitlich zu strukturieren. Dass ab einem bestimmten Moment auf diese Inserts verzichtet wird, zeigt das fortgeschrittene Schwinden der Persönlichkeit.

Das ärztliche Diagnosegespräch in Ashita no kioku markiert in diesem Kontext erste Anzeichen einer zeitlichen Desorientierung. Einfache Fragen wie die nach dem eigenen Alter, nach Datum oder Wochentag legen bei Saeki erste Defizite temporaler Definitionsmacht offen. Tarnt die bis dahin nüchterne Inszenierung diese Probleme als Zerstreutheit, verändert sich mit den weiteren vom Patienten zu erfüllenden Aufgaben die Atmosphäre; tiefe langgezogene Töne der Streicher markieren die Bedrohlichkeit der Fehlleistungen Saekis genauso wie die unruhige Nahaufnahme seines Gesichtes im Vergleich zur starren Einstellung auf den Arzt.

Die deutsche Produktion Mein Vater (Andreas Kleinert, D 2003), in der die Krankheit des Busfahrers Richard Esser (Götz George) in das Familienglück seines Sohnes Jochen (Klaus J. Behrendt) einbricht und es zunehmend zerstört, verzichtet auf eine zeitlich klar definierte Intervallbeschreibung. Zeit erscheint als schwer zu definierendes, widersprüchliches Moment, gar als Vakuum. Die Belastungen sowohl für den direkt Betroffenen als auch für die Pflegenden artikulieren das subjektive Zeitempfinden als qualvoll und die Zeit als nur langsam vergehend. Je länger die Krankheit das Leben der gesamten Familie bestimmt, desto stärker macht sich Erschöpfung breit und desto tiefer werden die Risse in der im Film vorgeführten familialen Struktur. Auf der anderen Seite ermöglicht erst Morbus Alzheimer eine Annäherung zwischen Vater und Sohn; eine Annäherung, deren Erleben allerdings durch den Verlauf der Krankheit zeitliche Grenzen gesetzt werden. Auf diese Weise wird eine Divergenz zwischen gefühlter und tatsächlich vergehender Zeit aufgebaut. Die Demenz hebt folglich das Ende aus seiner Sequenzialität, aus seiner chronologischen Ordnung, und gibt ihm damit den Anschein einer Unzeitlichkeit, einer Auflösung des Temporalen.

Der Anfang ist das Ende: Eine Hand greift nach spärlich herunterfallenden Schneeflocken, tapsig und unbeholfen – ein kleinkindhaft wirkender Versuch eines älteren Mannes, das Ungreifbare zu ergreifen. Ungelenke Bewegungen, gleich der wenig ausgeprägten, ungeschickten Motorik eines Säuglings. Kindliche Faszination versteckt sich unzureichend hinter einer eher zurückhaltenden Mimik. Die Entdeckung des Schnees poetisiert in Mein Vater eine Charakteristik der Alzheimer-Demenz, die der Psychiater Barry Reisberg unter dem Begriff der «Retrogenese» zusammenfasst.2 Reisberg beschreibt den Verlauf der Krankheit als Umkehrung der Entwicklung des Erkrankten analog zu den Stadien kindlichen Heranwachsens. Der Regisseur Andreas Kleinert unterlegt diese vermeintlich schöne Vorstellung mit einer traurigen Klaviermelodie. Jener letzte Moment verhaltener Glückseligkeit läutet durch seine Endlichkeit das abschliessende Stadium des Abschieds vom Leben ein.

Werden und Vergehen

Die Retrogenese stellt die kindliche Entdeckungsreise dem Verschwinden der Persönlichkeit gegenüber. Die Zielstationen divergieren: Das Ende der Kindheit als Eintritt in das Jugend- oder Erwachsenenalter, als Stadium auf dem Weg zum erwachsenen Menschen, skizziert in seiner demenziellen Umkehrung das Ende der menschlichen Existenz. So steht jene Entdeckung des Schnees in Mein Vater am Ende einer Reihe von Szenen, die Kindwerdung und Vergänglichkeit chronologisch gleichermassen visualisieren. Richards und Olivers (Sergei Moya) gemeinsames Dahinrasen auf dem Mofa synchronisiert eine spassvolle, Generationen übergreifende, jugendliche Revolte im Miteinander von Grossvater und Enkelsohn. Doch die Monotonie der Klänge des Didgeridoos und das anschliessende nächtliche Umherstreifen des Erkrankten im Haus karikieren die Harmonie des vorangegangenen Ereignisses.

Die Gegenüberstellung von Enkel und erkranktem Grosselternteil – meist im kindlichen Spiel vereint – erweist sich in der filmischen Darstellung als wiederkehrende Standardsituation im Angesicht von Reifeprozess, Rückentwicklung und neu entdeckten Persönlichkeitsmerkmalen des Erkrankten. In Ashita no kioku verknüpfen sich Geburt und Heranwachsen der kleinen Mebouki mit dem Leben und Vergehen des Protagonisten. Das harmonische Miteinander von Grossvater und Enkel verkehrt sich in Mein Vater allerdings zum Teil in eine aggressive Opposition mit gewaltsamen Übergriffen des Grossvaters auf seinen Enkel.

Die in diversen Filmen gezeigte Entdeckung des Schnees kombiniert im Grunde die kindlich intuitive Entdeckungsreise mit dem Winter als Jahreszeit, die ihrerseits die Ruhe des Lebensabends impliziert. Ein Bild, tröstlich und traurig zugleich, eine visuelle Poesie und doch auch realitätsnah, weil sie jenes Stadium repräsentiert, in dem der an Alzheimer Erkrankte nach den Strapazen und aufgewühlten Emotionszuständen, den Stimmungsschwankungen zur Ruhe kommt.

Entgegengesetztes Erinnern

Bei Morbus Alzheimer fällt die Erinnerung an weiter zurückliegende Ereignisse erst zu einem späteren Zeitpunkt der Degeneration zum Opfer, während akute Handlungen, Worte und Informationen keine Chance haben, langfristig abrufbar zu bleiben. Es ist jene schöne Vorstellung der Dauerhaftigkeit zentraler Aspekte unserer Biografie, die durch Alzheimer eine Aufwertung erfährt. In Ashita no kioku steht daher auf dem Spaziergang des Protagonisten durch die Wälder des japanischen Hinterlandes die Reproduktion der Erinnerung daran im Vordergrund, wie er seine Frau in der Töpferwerkstatt kennengelernt hat. Der hohe Wert jenes Handwerks für die eigene und die gemeinsame Biografie erklärt sich erst aus den episodischen Erinnerungen.

Richard Eyre nutzt in diesem Kontext im Biopic Iris (Richard Eyre, GB/USA 2001) über die Schriftstellerin Iris Murdoch das Mittel der Flashbacks als Repräsentation der Erinnerung, um die Chronologie der Zeit aufzuheben. In den Unterwasseraufnahmen der Eröffnungssequenz räkelt sich erst das junge und kurz darauf übergangslos das ältere Paar im Wasser; Vergangenheit und Gegenwart treffen direkt aufeinander, vereinen sich und machen die Episoden jenseits einer zeitlichen Ordnung fühl- und nachvollziehbar. In dem Moment allerdings, in dem der Regisseur nachfolgend die Schönheit der Vergangenheit präsentiert – in Kollision zu dem, was später in der Gegenwart der Demenz daraus wird –, zeigt er die Tragik des Degenerationsprozesses. Und wenn in Mein Vater der Protagonist im Rahmen dieser Dysfunktionalität des Gedächtnisapparates das jüngere Ereignis des Todes seiner Frau vergisst, wird die vermeintliche Schönheit dieser zeitlichen Gegenläufigkeit zerstört.

Der tatsächliche Tod wird als Zeitpunkt des endgültigen Abschiednehmens in seiner Relevanz vom Verlust des Gedächtnisses im Rahmen der Neurodegeneration abgelöst. Abseits der für beide Seiten lang andauernden Strapazen gerät die Angst vor dem Moment, an dem das Vergessen endgültig obsiegt und dabei eine gemeinsam dauerhaft zu erarbeitende Gegenwartserinnerung unmöglich macht, in den Fokus. Nicht mehr das physische, sondern das geistige Ableben als das Ende des Erinnerns und Erinnert-Werdens wird zur Triebfeder des Handelns. In der kinematografischen Aufarbeitung sind Ende und Endlichkeit folglich spätestens in dem Moment allgegenwärtig, wenn Alzheimer als Diagnose einen Namen erhält. Das physische Ableben an sich ist daher nur ein Konstrukt des zu Erwartenden, ein Moment der Erlösung, der in vielen Filmen entweder komplett ausgespart oder in Form von Erlösungsbildern zu Lebzeiten des Erkrankten metaphorisiert wird.

Das Ende der Selbsterzählung

Die Kamera nimmt in Ashita no kioku einen Stapel Tagebücher ins Visier, Repräsentanten der Chronologie von Erinnerungen, schriftlich fixierte Stellvertreter der Nachvollziehbarkeit einer Lebensgeschichte. Die aufgeschlagenen Seiten des zuoberst liegenden Tagebuches sind leer. Sie zeugen in ihrer Unbeschriebenheit vom Verlust des Bewusstseins der eigenen Historie. Symbole der inneren Leere und der Inhaltslosigkeit von Identität.

Das Bewusstsein der Vergangenheit, der eigenen Geschichte, manifestiert unser Selbstbild. Doch je mehr die kognitiven Fähigkeiten abnehmen, umso sichtbarer wird das Verschwinden des Selbst. Gemäss den Medizinern und Neurowissenschaftlern Boetsch, Stübner und Auer verlieren die Betroffenen durch zunehmende Angriffe auch auf das Langzeitgedächtnis den Bezug zur eigenen Lebensgeschichte.3 Saekis Aufschreiben der eigenen Geschichte in Ashita no kioku ist somit ein auf Dauer erfolgloser Versuch, dem Verlust der eigenen Identität zu entgehen, das Selbstverhältnis zu erhalten, zu bewahren, fortzuführen. Solange Saeki schreibt, ist er im Bewusstsein der eigenen Historie. In jenen Tagebüchern hält er bedeutende Ereignisse und Erinnerungen für sich und für andere fest und fixiert so das, was er einst war, jenseits von dem, was von ihm mit Fortschreiten der Krankheit übrig bleiben wird.

Die Fotowand, die der Film zu Beginn zeigt, die jedoch bereits das finale Stadium der Krankheit vorwegnimmt, erweist sich als visuelle Fortführung des Tagebuchs – kreiert von seiner Frau, die nun die Autorschaft seiner gegenwärtigen Lebensgeschichte übernommen hat. Das Bild ersetzt die Sprache und wird zum Surrogat einer nicht mehr vorhandenen Erzählfähigkeit. Es ist der Konflikt des Erzählens und des Erzählt-Werdens im Kontext einer defizitären Identitätskonstruktion.

In den Filmen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, werden auf dieser Basis nicht selten Darstellungsformen präsentiert, in denen rein nüchtern organische Prozesse als Grundlage einer zuweilen sehr poetischen Aufarbeitung dienen; innerhalb dieser kommen Szenen und Bilder zum Tragen, welche die Endlichkeit als allgegenwärtiges Element weit vor dem eigentlichen Filmschluss thematisieren. Beruf und Berufung als Elemente der Persönlichkeitsbildung werden dabei als Opfer der neurodegenerativen Prozesse thematisiert. Mit dem Verlust des Orientierungssinns nimmt die Krankheit dem Busfahrer Richard in Mein Vater die berufliche Legitimation. Noch einmal bemächtigt er sich nach seiner Zwangspensionierung unerlaubt des grossen Gefährts. Doch die Fahrt endet in einer tristen, wolkenverhangenen Morgendämmerung an einem Flussufer. Es ist das Ende einer Dienstfahrt, ein Bild der Ausweglosigkeit.

Aphasie als klinische Umschreibung von Wortfindungsstörungen visualisiert schliesslich im Biopic Iris den verzweifelten Kampf der Schriftstellerin Iris Murdoch (Judi Dench) um ihre Begabung. Der Film zeigt sie am Strand, wie sie in bedächtigen Bewegungen ein leeres Stück Papier aus dem Notizblock reisst. Ihre Mundwinkel sind traurig nach unten gezogen. Ungewöhnlich lange schaut sie auf den Stift in ihrer Hand, bekundet eine Fremdheit gegenüber ihrem einstigen Arbeitsgerät. In einer symbolischen Geste beschwert Judi Dench die herausgerissenen Blätter mit Steinen, als wolle sie die verschwindenden Worte festhalten. Kurz darauf bittet eine Freundin sie, ein von ihr verfasstes Buch zu signieren. Als sie energisch erst jenes Buch mitsamt dem Stift wegwirft, anschliessend die Steine von den herausgerissenen Blättern entfernt und sie im Wind davonfliegen lässt, bringt sie eine wortlose und doch mit spürbarer Wut vorgetragene Erkenntnis zum Ausdruck, dem sprachlichen Verlust nichts mehr entgegensetzen zu können.

Das fremde Andere

Der Psychologe Kenneth J. Gergen betrachtet die narrative Identität nie nur als Lebensgeschichte eines Einzelnen, sondern als ein personales Konstrukt verschiedener Haupt- und Nebenfiguren.4 So sind auch Filme im Kontext von Alzheimer nie ausschliesslich als Personenbeschreibungen des Erkrankten zu verstehen; sie beleuchten darüber hinaus das personale Umfeld und dessen Umgang mit der Demenz. Mögen die Persönlichkeitsveränderungen, die Aggressionen und Gewaltausbrüche dabei auf einer neuronalen Degeneration beruhen, so erscheint eine solche Abstraktion der Merkmale oftmals schwierig. Es ist zumindest wahrscheinlich, dass demenzielle Prozesse nicht allein das Selbstbild und das Selbstverhältnis des Patienten in Mitleidenschaft ziehen, sondern auch eine externe Neubewertung der Person und der gemeinsamen Biografie in Gang setzen. Im Zuge der abnehmenden Artikulationsfähigkeit bleibt die Aussicht auf Erfolg genauso offen wie die Person selbst.

Jodaeiye Nader az Simin (A Separation, Asghar Farhadi, IR 2011), kein Werk über Alzheimer im eigentlichen Sinne, schildert in diesem Kontext die Abhängigkeit der Identität der Referenzobjekte vom sich auflösenden Selbstbild. Als Simin (Leila Hatami) im einleitenden Streitgespräch ihrem Mann Nader (Payman Maadi) vorhält, dass sein Vater (Ali-Asghar Shahbazi) ihn nicht mehr erkenne, entgegnet er ihr, dass er jedoch seinerseits durchaus noch wisse, dass er sein Sohn sei. Es ist eine krampfhafte Institutionalisierung der eigenen Person, ein Kampf um die eigene Bedeutung in des Vaters Biografie durch den Sohn. Er übernimmt das Wissen des Vaters, schützt sich so vor dem Identitätsverlust und drückt doch in dieser Emotionalität die Schwierigkeiten aus, die mit dem eigenen Vergessenwerden als Sohn einhergehen.

In Away from Her (Sarah Polley, CA 2006) erweist sich Alzheimer als Triebfeder der Entfremdung eines Ehepaares. So begründet sich die zunehmende Entfernung beider voneinander in Grant Andersons (Gordon Pinsent) übergrosser Erwartungshaltung an die Beziehung und seine Angst vor dem Auseinanderbrechen. «He doesn’t confuse me. He doesn’t confuse me at all», begründet Fiona (Julie Christie) ihre Hinwendung zu Aubrey (Michael Murphy), einem kranken Mann im Pflegeheim, das nun zu ihrem Zuhause geworden ist. Bezeichnenderweise bleibt diese Figur während des gesamten Films stumm und steht damit im Kontrast zum verbalen Druck, den Grant auf Fiona ausübt. Grants gesunde Welt steht der kranken gegenüber, die er mit Ansprüchen überfordert, welche die Person mit fortschreitendem Alzheimer immer weniger erfüllen kann, weil sie deren Zeichen und Hinweise nicht versteht. Im Zuge des allmählichen Gedächtnisverlustes seiner Frau konkurriert die gemeinsame glückliche Vergangenheit sowohl mit vergangenen Verfehlungen als auch mit der Gegenwart – und verliert. Erst als Grant seine Erwartungshaltung revidiert und akzeptiert, dass ihre Handlungen nicht Reaktionen auf seine früheren Fehler sind, und seine eigene Isolation auflöst, findet er einen Bezug zu ihr – und gibt sie frei.

Befreiungen

Am Ende von Filmen, die sich mit Alzheimer beschäftigen, steht oftmals ein Befreiungsakt. Dass Jochen seinem Vater am Ende die Haustür aufschliesst und ihn damit aus dem Gefängnis des Hauses entlässt, ist ein Versuch, den familiären Zustand vor der Demenz wiederherzustellen. Richard befreit er von den Fesseln der krankheitsbedingten Gefangenschaft, auch wenn damit aufgrund seiner fehlenden Eigenständigkeit und der Dysfunktionalität des Körpers das physische Ende vorgezeichnet scheint. In dem Moment, in dem er sich, ohne sich umzudrehen, von der Kamera entfernt, distanziert er sich auch von seinem Sohn, entzieht sich dem Blickfeld und der Greifbarkeit. Richards nun unscharfe Konturen im hellen Licht beinhalten die Metaphysik des Sterbens noch zu Lebzeiten. Sie sind zu verstehen als Hinüberdriften in eine andere Welt – und kolportieren doch nur die demenzielle Ungreifbarkeit der Person selbst.

Schliesslich bereiten solche visuellen Metaphern auf eine Existenz der Bezugsperson des Erkrankten jenseits der Demenz vor. Eines der letzten Bilder in En Sång för Martin (Ein Lied für Martin, Bille August, S 2001) über die Beziehung des namengebenden Dirigenten (Sven Wollter) zur Violinistin Barbara (Viveka Seldahl) zeigt, wie sie das Pendel der Standuhr nach seinem Ableben wieder in Gang bringt. Das ruhende Pendel hatte im Kontext der Anstrengungen und der Konflikte den Stillstand der messbaren Zeit, eine Form gefühlter Zeitlosigkeit, symbolisiert. Durch das neuerliche In-Gang-Setzen des Pendels kehren die Mess- und Regulierbarkeit der Zeit zurück. Das Anstossen des Pendels ist zumindest für Barbara das Fortführen des neuen Lebens jenseits der Demenz.

Erinnerungssurrogate

Was bleibt, wenn das Selbstverhältnis ins Wanken gerät und die Krankheit den Selbstbezug des Erkrankten genauso infrage stellt wie die Identität des personalen Umfeldes? Ashita no kioku, Iris und Mein Vater finden repräsentativ für andere Filme beinahe friedliche Lösungen für diesen elementaren Konflikt. Wo die Erinnerung als Mittel gegenseitiger Identitätskonstruktion versagt, wird sie durch Vertrauen ersetzt.

Des Vaters Hand auf der des Sohnes, als sie stumm vor dem Fernseher im vom Feuer ruinierten Haus sitzen, zeigt eine neu gewonnene Nähe, allerdings auf der ungewissen Basis organisch bedingter Defizite. Die verstohlenen Blicke zwischen Vater und Sohn, als Jochen dem Vater zum Schluss die Tür aufschliesst, sind Ausdruck einer Übereinkunft im Angesicht eines von Jochen formulierten Versprechens. Am Ende von Iris durchlebt ihr Mann John Bayley (Jim Broadbent) noch einmal einen in Rückblenden dargestellten demütigenden Moment. In der Erinnerung an schwierige Zeiten in ihrer Beziehung vor der Krankheit sowie die Strapazen mit der Kranken und aus hilfloser Wut darüber, was der, wie er selbst sagt, «fucking best friend Dr. fucking Alzheimer» von der ihm nahestehendsten Person übrig liess, überschüttet der sonst eher sanftmütig dargestellte Charakter seine Frau mit Hasstiraden, schüttelt sie sogar kräftig im gemeinsamen Ehebett. Wenn sich Iris Murdoch im gleichen Moment dennoch an ihn klammert und seine Nähe sucht, betont sie seine Bedeutung für sie. Ihre Annäherung ist schon instinkthaft. Dahingehend wird John Bayley in seiner Identität nicht infrage gestellt. Auch Saeki erkennt die in gebührendem Abstand ihm folgende Person schon längst nicht mehr als seine langjährige Ehefrau. Und doch weist er sie an, den Weg mit ihm weiterzugehen, akzeptiert sie als Begleiterin im letzten Stadium seiner Demenz.

Pflichten der Neubewertung

Wann beginnt das Ende? Und von welchem Ende sprechen wir überhaupt? Alzheimer präsentiert speziell im Hinblick auf letztere Frage eine ganze Reihe von Antworten, nur um neue Fragen aufzuwerfen. Und so findet auch die Aufarbeitung von Alzheimer in diversen Spielfilmen, aber auch in Fernsehserien immer neue Bezugspunkte. Jodaeiye Nader az Simin beispielsweise erweist sich als Parabel auf innergesellschaftliches Feindesland mit Alzheimer als Akteur, der die Starre überholter Konventionen und Wertfragen aufbricht. Die Krankheit stellt eine den Gesetzen des Islam gehorchende Frau vor einen unlösbaren Konflikt: Sie soll einem Alzheimerpatienten die notwendige Pflege zukommen lassen und gleichzeitig die Regeln der eigenen Religion nicht verletzen. Auf diese Weise provoziert die Krankheit im Film nicht weniger als den Aufbruch althergebrachter Strukturen und proklamiert eine Anpassung und Neuinterpretation von ethischen, kulturellen und religiösen Regeln, von Konventionen und Normen.

Alzheimer erfordert eine Neubewertung von Ende und Endlichkeit, die allerdings offen und aus einer individuellen Perspektive heraus gestaltet werden muss. In Filmen erweisen sich dabei die Symbolhaftigkeit und die zeitweilige Poesie nicht als Kontrapunkt oder Widerspruch zu den rein organischen Prozessen, sondern bringen die Bedeutsamkeit und Problematik von Morbus Alzheimer näher. Konträr zu einer wissenschaftlichen Analyse betonen sie in kontinuierlich präsentierten Szenarien des Verschwindens die grosse Bedeutung verschiedener Merkmale für unsere Existenz – innerhalb und jenseits der Alzheimererkrankung. Sie proklamieren damit auf dem Hintergrund von Wesensänderungen, dem Verschwinden personaler Geschichte und Erinnerung nicht selten eine Offenheit der Persönlichkeit selbst. Fragen in Bezug auf die Person, ihre Identität bleiben unbeantwortet.

In Die Auslöschung (Nikolaus Leytner, A/D 2013) sagt die Restauratorin Judith (Martina Gedeck), sie stelle mühsam etwas her, nur damit die Zeit alles wieder zerstöre. Jene desillusionierende Beschreibung ihrer beruflichen Eigenschaft als Bewahrende und Reparierende des Urzustands ist Metapher ihrer Situation als Angehörige eines Alzheimer-Patienten, betont die Leiden und die vielschichtige Verzweiflung der Pflegenden und der Angehörigen genauso, wie es die Zeit als feindliches Gebilde ins Zentrum rückt. Alzheimer kehrt das Zeitliche um, zieht das Endliche vor, löst beim Patienten das Zeitgefühl auf. Allein eine (noch nicht in Aussicht stehende) Heilbarkeit kehrt dieses Empfinden um. Dann bedürfen auch die bis zu diesem Zeitpunkt produzierten Filme einer Neubewertung. Bis dahin bleiben sie poetisch tragische Visionen einer kontinuierlichen Endlichkeit.

Die Beschreibung des klinischen Bildes bezieht sich auf zwei wissenschaftliche Quellen: Thomas Boetsch/Susanne Stübner/Stefanie Auer, «Klinisches Bild, Verlauf und Prognose (mit Fallbeispielen)», in: Harald Hampel/Frank Padberg/Hans-Jürgen Möller (Hg.), Alzheimer -Demenz: Klinische Verläufe, diagnostische Möglichkeiten, moderne Therapiestrategien, Stuttgart 2003, S. 73–98; Hans Förstl/Alistair Burns/Rainer Zerfass, «Alzheimer-Demenz: Diagnose, Symptome und Verlauf», in: Hans Förstl (Hg.), Lehrbuch der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie: Grundlagen – Klinik – Therapie, Stuttgart/New York 2003, S. 324–345.

Vgl. Barry Reisberg et al., «Evidence and Mechanisms of Retrogenesis in Alzheimer’s and Other Dementias: Management and Treatment Import», in: American Journal of Alzheimer’s Disease and Other Dementias 17, 4, July/August 2002, S. 202–212.

Vgl. Boetsch, Stübner, Auer (wie Anm. 1), S. 74.

Felix Lieb
*1975 in Böblingen (Deutschland). 2003–2008 Magisterstudium der Filmwissenschaft und Publizistik an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Daneben Videoeditor und freier Autor. Arbeitet derzeit an seiner Dissertation.
(Stand: 2014)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]