DORIS SENN

FAREWELL PARADISE – MEMORIES OF A BROKEN FAMILY (SONJA WYSS)

Familiengeschichten sind selten einfach. Die Filmemacherin stellt sich der ihren in einem schlichten Setting: ihre Mutter, ihr Vater, ihre drei älteren Schwestern – während je zwei Tagen in einem kahlen Raum gefilmt. Ein therapeutisches Setting. Sonja Wyss stellt die Fragen in derselben Chronologie, reicht Fotos oder spielt Tonbandaufnahmen ab – um darüber zu sprechen, worüber weder damals noch danach geredet wurde: die Trennung der Eltern, der Umzug von den Bahamas in die Schweiz, die emotionalen Verletzungen der Töchter während der von Turbulenzen geprägten Kindheit und Jugend.
 
Doch der Reihe nach: Sonja Wyss wurde als Jüngste einer Schweizer Familie auf den Bahamas in den Sechzigern geboren. Der Vater war Manager, die Mutter verantwortlich für Haus und Kinder. Eine Bilderbuchfamilie. Sonja war dreieinhalb, als ihre Mutter Dorine Hals über Kopf mit den Mädchen in die Schweiz reiste – in der Hoffnung, dass ihr Mann Ueli sich ‹besinnen› und nachkommen würde. Es folgte eine traumatische Zeit, in der die Mädchen erst mit der Mutter allein lebten, die – rundum überfordert – die Töchter bald und ohne Vorwarnung fremdplazierte. Ueli kehrte dann tatsächlich in die Schweiz zurück und versuchte ein familiäres Reset. Ein Fehlschlag: Er lernte eine Frau kennen – die Mutter wurde erneut aus der Bahn geworfen, die Töchter blieben bei ihr und waren doch sich selbst überlassen.
 
Sehr offen sprechen nicht nur die Eltern, sondern auch die Schwestern Kati, Chriggi und Bettina davon, wie sie jene Zeit, bestimmte Momente und Geschehnisse erlebten. Vieles ganz unterschiedlich – und doch prägend, wenn nicht traumatisierend. Einzelnes wurde verdrängt – anderes völlig anders interpretiert. Vieles wird erstmals ausgesprochen, Erinnerungen und Wahrnehmungen prallen aufeinander. Etwa wenn die Mutter findet, dass sie bei ihren Töchtern einen Prozess der Selbstermächtigung angestossen habe, während diese es vor allem als schmerzhafte Überforderung erlebten. Der Vater wiederum war für die eine Tochter trotz Abwesenheit ein Vertrauter und Freund, für die andere ein gänzlich Fremder...
 
Farewell Paradise ist der zweite Langfilm von Sonja Wyss – die in Amsterdam lebt – nach Winterstilte (NL 2008), einem experimentellen Drama, in dem eine Mutter mit ihren vier Töchtern in einer Berghütte lebt. Dieser erschliesst sich nun, vor dem Hintergrund ihres jüngsten Werks, wie neu. Dabei erzählt Farewell Paradise Erschütterndes – und endet doch mit einem Happy End: Die Schlusseinstellungen zeigen die Eltern mit je neuer Partnerin, neuem Partner – die Töchter mit ihren Familien. Die Anspannung, die sich während der Gespräche zeigte, ist aus den Gesichtern verschwunden – das aktuelle Glück überstrahlt die schmerzlichen Erinnerungen, die dennoch weit entfernt davon sind, verheilt zu sein.
Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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