NOEMI DAUGAARD

THE WALL OF SHADOWS (ELIZA KUBARSKA)

In den abgelegenen Höhen der nepalesischen Gebirge lebt die Familie von Ngada Sherpa, der seinen Lebensunterhalt als Bergführer verdient. Es ist ein Leben geprägt von den Regeln der Natur und des Glaubens. Um den Traum von Sohn Dawa zu erfüllen, entschiedet sich die Familie jedoch dazu, ein religiöses Tabu zu brechen.
 
Beeindruckende Landschaftsbilder, majestätische Berge und die Sage des in der Kirant-Religion heiligen Berges Kumbhakarna machen fast das gesamte erste Drittel dieses Dokumentarfilms aus. Die Kamera ist geduldig, nimmt sich behutsam Zeit zum Beobachten und fokussiert auf Alltagsszenen und Familiendynamiken. Umso krasser ist der Bruch, als ein Helikopter die beschauliche Stimmung durchbricht und zwei russische und einen polnischen Bergsteiger zu den Sherpas bringt. Nicht nur der Helikopter wirkt wie ein Ding aus einer anderen Realität, auch die Ansichten der Europäer kollidieren bald mit denen der Sherpas. Vater Ngada und seine Familie sollen die drei Alpinisten auf ihrer Exkursion begleiten: sie wollen die bisher unbezwungene Ostflanke des heiligen Berges Kumbhakarna besteigen. Die Familie befindet sich im Zwiespalt, einerseits gilt der Berg als Sitz Gottes und ihn zu bezwingen ist verboten, andererseits möchte Sohn Dawa Medizin studieren, ein Studium, das seine Eltern ihm nicht finanzieren können, ohne solche Aufträge anzunehmen. Schlussendlich entscheidet sich die Familie dafür, das Tabu zu brechen und die Alpinisten zu begleiten.
 
Eliza Kubarska begibt sich mit diesem Film nicht zum ersten Mal an die Grenzen des menschlich Möglichen. In ihrem mehrfach ausgezeichneten Film Walking Under Water (PL/GB 2014) dokumentiert sie den Alltag der Ureinwohner der Küsten Borneos, die ihren Lebensunterhalt mit Tiefseetauchen bestreiten und in K2 – Touching the Sky (PL/DE 2015) geht die Regisseurin, die selbst auch Alpinistin ist, dem Schicksal tödlich verunfallter Bergsteiger_innen nach, gemeinsam mit deren Kindern.
 
In The Wall of Shadows steht das Bergsteigen jedoch im Hintergrund, auch wenn der Film einige beeindruckende Aufnahmen der Exkursion zu bieten hat. Vielmehr gelingt es Kubarska in diesem stimmungsvollen Film, den Sherpas eine Stimme zu geben und ihre Lebensrealität zwischen Naturverbundenheit, Glaube und Abhängigkeit von westlichen Auftraggebern zu thematisieren. Besonders prägnant wird die privilegierte Art und Weise dargestellt, wie die Europäer das Bergsteigen angehen, im Gegensatz zur Einstellung der Sherpas, die die Götter und mögliche Unglücke fürchten, aber auf die Arbeit angewiesen sind. Schlussendlich ist dies jedoch vor allem ein Film über die Grenzen der Menschen gegenüber der rauen Natur.
 
Noemi Daugaard
*1990, studierte in Zürich Filmwissenschaft, Anglistik und Kunstgeschichte. Sie ist Doktorandin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und arbeitet in der Forschungsförderung.
(Stand: 2021)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]