BETTINA SPOERRI

DEINE STRASSE (GÜZIN KAR)

Eine öde, auswechselbare Strasse in einem Industriegebiet. Metallzäune, Lagerhallen, Waschanlage, Brachen. Eine unwirtliche Gegend. Kein Mensch ist hier zu Fuss unterwegs. Die Kamera positioniert sich an unterschiedlichen Stellen, vermisst die Strasse in einzelnen Ausschnitten. Dann erst werden wir langsam von einer Erzählerin aus dem Off in die Hintergründe des Ortes, seine Geschichte eingeführt, im Zentrum eine brutale Tat, die einem ‹Du› angetan wurde: «Dir blieb die Wahl zu ersticken, zu verbrennen oder aus dem Fenster in den Tod zu springen.»
 
Ende Mai 1993 starben fünf Menschen bei einem Brandanschlag von Neonazis auf ein Haus im westdeutschen Solingen – Saime Genç war die jüngste unter ihnen; das nur vier Jahre alte Mädchen sprang aus dem Fenster, um den Flammen zu entgehen und starb an seinen Verletzungen. 1998 erreichte Rahim Öztürker, damals Vorsitzender des Ausländerbeirats, dass eine Strasse in Bonn den Namen Saime-Genç-Ring erhielt. Allerdings liegt diese Strasse nicht im Zentrum der Stadt, sondern im Aussenquartier Dransdorf, und da in einem tristen neueren Gewerbegebiet.
 
Sieben Minuten nur braucht die Filmautorin Güzin Kar, um in filmischer Klarheit und Stringenz an einen Mord zu erinnern – und gleichzeitig die Art und Weise einer etablierten Erinnerungskultur zu hinterfragen. Deine Strasse ist Anklage, Trauerrede, genaue Beobachtung und Analyse zugleich, minimalistisch komprimiert, in Bild- und Sprachrhythmus präzis durchkomponiert – und dafür erhielt sie verdienterweise den Schweizer Filmpreis 2021 in der Kategorie Kurzfilm.
 
Der Film lädt die scheinbar belanglose Gegenwart der Strasse Bild um Bild und Satz um Satz mit der Bedeutsamkeit des Namens des Rings auf, wobei sie ganz bewusst erst gegen Schluss des Films den Namen des Mordopfers nennt. Die Erzählstimme, in der deutschen Fassung gesprochen von der Autorin Sibylle Berg, bleibt dabei stets ruhig und zurückhaltend, sie spricht zu dem Mädchen und beschreibt ihm seine Strasse. Die Nüchternheit des Tons divergiert mit der beschriebenen Grausamkeit jenes Anschlags und seinen entsetzlichen Folgen – und wirkt letztlich gerade deshalb umso eindringlicher. Güzin Kar gelingt es zudem, das einzelne Verbrechen in den Zusammenhang einer grundsätzlichen und unbequemen Fragestellung zu Erinnerungskultur im heutigen Deutschland zu stellen: Was nützt ein öffentlicher Gedenkort, wenn er derart abgelegen eingerichtet wird – wenn also eines ermordeten Mädchens in Form der Benennung einer Strasse im Industrie-Abseits gedacht wird, zu der sich kaum jemand verirrt, geschweige denn zu Fuss? Ist dies tatsächlich gemeinsames Gedenken – oder nicht vielmehr kollektive Verdrängung? Mit einer überzeugenden künstlerischen Handschrift setzt Güzin Kar Saime Genç mit Deine Strasse in Form dieses gelungenen, konsequenten Kurzfilms ein umso intensiveres, eigenes ‹Denkmal›.
Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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