ANDREAS TALANOW

THE LUNAR COURSE OF MY LIFE (VALERIE BÄUERLEIN)

In Japan gibt es immer mehr junge Menschen, die aus verschiedenen Gründen vollkommen zurückgezogen leben und sich der Teilnahme an der Gesellschaft mit ihrem hohen Druck und ihren strikten Erwartungen verweigern. Valerie Bäuerlein portraitiert in ihrem Dokumentarfilm diese ‹hikikomori› genannten Betroffenen und eines der spezialisierten Therapiezentren, das stellvertretend für die vielen anderen im ganzen Land steht. Sie legt damit den ersten dokumentarischen Langfilm zu diesem Thema vor, das ausserdem in verschiedenen Fernsehreportagen und Kurzfilmen thematisiert sowie in den Spielfilmen Loner (Park Jae-sik, KR 2008) und Hikikomori (Sophie Attelann, FR 2018) bearbeitet wurde.
 
The Lunar Course Of My Life erzeugt von Anfang an grosse Neugier beim Zuschauer, mehr über die Protagonisten zu erfahren, auch indem sie das Kernthema des Films nicht auf einen Schlag vorsetzt, sondern es mosaikartig zusammensetzt: In der ersten Szene spricht beispielsweise nicht einer der Betroffenen, sondern sein Vater, und auch nur über einzelne Aspekte des Problems – das Syndrom als Solches wird zunächst gar nicht adressiert.
 
Die Filmemacherin interveniert dabei nicht, stellt keine Fragen; sie ist strikt Beobachterin. In einigen Szenen werden so die teilweise überkomplexen Überlegungen der Menschen zum richtigen Zusammenleben deutlicher, als es mit Interviews je möglich wäre: etwa, als Patienten des Yoka-Yoka-Therapiezentrums mit grosser Ernsthaftigkeit darüber diskutieren, wo der würdevollste Sitzplatz für einen fiktiven Vorgesetzten oder Kunden wäre, mit dem sie allenfalls in ihrem zukünftigen Arbeitsleben in einem Taxi sitzen. In einer anderen Szene quälen sich Teilnehmer beim Üben der Schönschrift und mit der Frage, wieviel Druck auf das Papier den Schriftzeichen die grösste Lebendigkeit einhaucht.
 
Die Arbeit des Therapiezentrums führt rührend vor Augen, wie eine ganze Gesellschaft um ihre Jungen kämpft. Die meisten Einstellungen zeigen Menschen in engen, fensterlosen Räumen und artikulieren somit nur schon visuell eine Last, die die gesamte Gesellschaft zu bedrücken scheint. Nur in manchen Szenen fehlt uns Zuschauern anfangs noch die Orientierung, und wir wissen nicht, wer die Figur ist, die wir gerade sehen und was sie tut.
 
Es ist erstaunlich, dass die ‹Zurückgezogenen› – anders als die Bezeichnung es erwarten lässt – Bäuerleins Kamera so bereitwillig an sich heranlassen; sie werden oft ganz aus der Nähe beobachtet. Vieles, was sie sagen, ist überraschend offen; sie haben den Mut, unvorteilhafte, bedrückende Details auszusprechen, und wir bekommen so im Verlauf des Films eine Ahnung davon, auf welche Weise und wie sehr diese jungen Frauen und Männer leiden.
 
Schön, dass Valerie Bäuerlein bei allem Schmerz auch Hoffnung aufkommen lässt, als sie gegen Ende des Films zeigt, welche farbenfrohen und kraftvollen Bilder eine der Betroffenen malt, die sichtbar machen, wieviel Leben eigentlich in ihr steckt.
Andreas Talanow
*1984, Masterstudium der Kulturanalyse und Filmwissenschaft an der Universität Zürich, berufliche Stationen in akademischer Stabsarbeit, im Medien- und Kulturschaffen; lebt und arbeitet in Zürich.
(Stand: 2020)
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