GERHART WAEGER

DAS ZITAT ALS STILMITTEL — POETISCHE EVASION UND INTEGRIERTE DIALEKTIK IN DEN ERSTEN DREI SPIELFILMEN ALAIN TANNERS

CH-FENSTER

Das Aufblühen des Schweizer Films Ende der sechziger und anfangs der siebziger Jahre stand vielerorts unter dem Zeichen des Zitats. Dies mag teils in der fehlenden Tradition, teils im spezifischen Charakter des neu entdeckten Mediums seine Erklärung finden. Auffallend ist indessen, wie verschieden das Zitat in den Filmen aus der deutschen und in jenen aus der französischen Schweiz eingesetzt wurde. In der deutschen Schweiz zitierte man nur in den Reportagefilmen, wobei das gesprochene Wort dem Bild gegenübergestellt und durch dieses entlarvt wurde. In diesem Sinne arbeiteten, um nur zwei Beispiele zu nennen, Kurt Gloor in Die Landschaftsgärtner und Georg Radanowicz in 22 Fragen an Max Bill. Schriftzitate im Bild verwendete Jürg Hassler in Krawall, um entlarvende Redewendungen oder Formulierungen in den Aussagen von befragten Personen hervorzuheben und damit indirekt zu kommentieren. Hinter all diesen Versuchen stand als unerreichbares Vorbild Jean-Luc Godard, der Mitte der sechziger Jahre die spielerische Kombination von Bild-, Schrift-und gesprochenen Textzitaten zur Basis seines persönlichen Stils gemacht hatte.

Eine besondere Art des Zitierens entwickelte sich bei den Westschweizer Filmemachern. Bei ihnen wurde, und zwar im Spielfilm, das Zitat völlig in die Handlung integriert, was auf den Zuschauer zunächst nicht als intellektuelle Verfremdung, sondern als Poetisierung wirkte. Das Musterbeispiel für die primär poetisch wirkende Verwendung gesprochener Zitate ist Alain Tanners Charles mort ou vif: Paul, in dessen Haus der Held des Films die wenigen Tage seiner neugewonnenen Freiheit gemessen kann, stellt jeden Tag unter ein zunächst willkürlich gewähltes Motto. In bunter Folge zitiert er dabei Sprichwörter, anonyme und wohl auch selbst erfundene Aussprüche sowie Sätze aus literarischen Werken. Aus dem Spiel wird System: Die Zitate nähern sich allmählich immer deutlicher dem Grundgedanken des Films. Als Charles schliesslich von zwei Irrenwärtern in einer Ambulanz weggebracht wird, zitiert er Gedanken von Saint-Just über das Bewusstsein des möglichen Glücks und des tatsächlichen Unglücks. Und unmittelbar vor dem Wort «Fin» erscheint auf der Leinwand in Versalien der Text: «Vendredi: Rira bien qui rira le dernier. Proverbe.»

Claude Goretta hat in L’Invitation Tanners hier geschilderte Methode des Zitierens in leicht ironischer Weise imitiert: Der von François Simon gespielte Kellner zitiert, wie er gegen seine Prinzipien zum Trinken veranlasst wird, ein «proverbe algoquin», das ebenfalls vom Glücklichsein handelt.

Sparsamer mit gesprochenen Zitaten war Tanner in seinem nächsten Film, La Salamandre. Neben einigen Liedern, die Paul im Verlauf der Handlung zu singen hat, fällt in diesem Werk ein (französisch) gesprochenes Heine-Zitat auf. Es stammt aus dem 31. Kapitel der «Reise von München nach Genua» und handelt, ähnlich wie das Saint-Just-Zitat am Ende von Charles mort ou vif, von der Hoffnung auf die «Freiheitssonne» die die Erde einst glücklicher wärmen werde als die «Aristokratie sämtlicher Sterne». Zunächst enthält auch dieses Zitat (wie jenes von Saint-Just) die Quintessenz des ganzen Filmes, könnte also auch als Motto im Vorspann stehen. Eine Analyse der Situation, in der es gesprochen wird, lässt indessen noch weitere Aspekte erkennen: Paul, ungefähr in der Mitte des Films auf einem Kurzbesuch zuhause, gesteht seiner Frau Lydie, er habe mit Zoe, der Sekretärin seines Freundes Pierre, geschlafen. Lydie nimmt diese Eröffnung gelassen hin und erzählt ihrem Mann ihrerseits, was sie in der Zwischenzeit gemacht habe: nämlich eben das Heine-Zitat gefunden, das sie dann vorliest. Das Heine-Zitat ersetzt somit die an dieser Stelle erwartete eheliche Auseinandersetzung: es «lenkt ab», leitet Pauls Gedanken von seinen momentanen Verstrickungen zu Grundsätzlichem, setzt dem erotischen Abenteuer (das im Film übrigens nicht gezeigt wird und den Zuschauer, der nur von Pauls Zuneigung zu Rosemonde weiss, ebenso überrascht wie Lydie) ein geistiges gegenüber.

In dramaturgischer Hinsicht erfüllt das Heine-Zitat in La Salamandre eine vierfache Funktion: eine inhaltliche, indem es den geistigen Hintergrund des ganzen Films umschreibt, eine psychologische, indem es die potentielle Aggression neutralisiert, eine dialektische, indem es der im Bild gezeigten Gegenwart eine nur im Wort erfassbare Gegenwelt gegenüberstellt, und schliesslich eine literarische, indem es eine Brücke zur Geistesgeschichte schlägt. Betrachtet man die oben erwähnten Zitate aus Charles mort ou vif unter diesen Aspekten, insbesondere in Bezug auf die Situation, in der sie gesprochen werden, so entdeckt man in ihnen die gleiche Schlüsselfunktion.

In Le Retour d’Afrique schliesslich ist das Zitat eindeutig zur Formel der geistigen Evasion geworden: Vincent und Françoise wollen nach Afrika auswandern und brechen in ihrer Heimat alle Brücken ab. Unvorhergesehene Komplikationen veranlassen das Paar dann aber, auf die Emigration zu verzichten und, mit politisch geschärftem Bewusstsein, in der Schweiz eine neue Existenz aufzubauen. Afrika ist für die beiden nie Realität geworden, es existiert für sie nur in Büchern — und in Zitaten aus Gedichten des farbigen Dichters Aimé Césaire. Das gesprochene Zitat ist endgültig zur Formel für eine geistige Gegenwelt geworden, die zwar den Namen «Afrika» trägt, in Wirklichkeit aber jene im Bild nicht sichtbare Dimension meint, in der das Paar zu einer neuen Lebenseinstellung finden kann.

Auch Michel Soutter, dem es in seinen Filmen ebenfalls um die Darstellung einer Gegenwelt und einer poetischen Vertiefung der Realität geht, verwendet gelegentlich das Zitat. Der auf Tonband festgehaltene Schrei eines anatolischen Hirten in Haschisch kann in einem weiteren Sinn als «Zitat» verstanden werden, ebenso die Passagen, die der junge Schauspieler in La Pomme rezitiert. Michel Soutter misstraut indessen dem gesprochenen Wort. «Dire, c'est deformer», zitiert er einmal Alain Bosquet. Er will die anvisierte Gegenwelt nicht wie Tanner mit Hilfe des gesprochenen Zitats ausserhalb des Bildes etablieren, sondern im Bild selbst spürbar werden lassen. Als Ansatz für seine poetisch formulierte Alternative wählt er deshalb nicht das Wort, sondern einen Typus, nämlich den der «fremden Frau»: es ist eine Deutsche in La Pomme, eine Deutschschweizerin in James ou pas, eine Engländerin in Les Arpenteurs. Damit wurde die Dialektik Bild-Wort, die das Werk Tanners durchzieht, durch einen homogenen poetischen Spielraum ersetzt.

RÉSUMÉ:

Gérard Waeger oppose la manière d'introduire des citations des cinéastes romands (intégration de celles-ci au scénario des longs métrages) à celle des réalisateurs de Suisse alémanique (dénonciation du mot par l'image dans leurs courts métrages). Puis il considère les citations littéraires dans les premiers trois longs métrages d'Alain Tanner en étudiant leur contexte dans le scénario. Il conclut: En exprimant l'idée principale du film, en neutralisant l'aggressivité intrinsèque, en opposant un monde idéal au monde réel et en se référant à la littérature universelle, ces citations remplissent une fonction quadruple, à savoir mentale, psychologique, dialectique et littéraire. Pour terminer, l'auteur compare le procédé de Tanner avec celui de Michel Soutter qui, se méfiant des citations, remplace la dialectique de l'image et du mot par un espace poétique homogène.

Gerhart Waeger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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