URS JAEGGI

PROPHETEN IM EIGENEN LAND — DISTRIBUTION UND PUBLIKUMSREAKTIONEN

CH-FENSTER

Niemand schafft Filme für die Büchse; auch der «Groupe 5» nicht. Eines der vielen Dramen schweizerischer Filmschaffenden ist es nun, selber dafür sorgen zu müssen, dass ihre Filme unter ein grösseres Publikum kommen. Dieser Artikel befasst sich mit diesem leidigen Aspekt, aber er versucht auch Gründe für die Publikumsreaktionen auf die Filme der vier Westschweizer Filmautoren zu finden. Verleih und Publikumsreaktionen sind zwei Grössen, die eng miteinander verbunden sind.

Es gibt zwei Möglichkeiten, diesem Thema zu Leibe zu rücken. Auf die erste, das sorgfältige Zusammentragen von statistischem Material, wird hier bewusst verzichtet. Es scheint mir nicht so wichtig zu sein, wie viele Besucher La Salamandre oder L’Invitation in der Schweiz oder im Ausland aufzuweisen haben (obschon dies natürlich für den Produzenten eine entscheidende Frage ist), sondern den Weg aufzuzeigen, den es zurückzulegen galt, bis die Filme überhaupt ins öffentliche Kino kamen. Dabei darf die verhältnismässig rosige Situation, wie sie sich heute für den «Groupe 5» präsentiert, nicht darüber hinwegtäuschen, dass viel Mühe und Initiative zu investieren war, bis der (vorläufige?) Durchbruch gelang. Und es darf auch nicht vergessen werden, dass eine Reihe von Filmen des «Groupe», die für das Kino geschaffen worden sind, weder in der Schweiz noch im Ausland jemals ordentlich projiziert worden sind.

Fragwürdige Grundhaltung der «Branche»

Jeder Filmverleiher weiss, dass Filme mit den Mitteln der Werbung und der Public-Relations lanciert werden müssen. Bloss der neue Schweizer Film sollte von alleine gehen und das Publikum auf Anhieb in die Kinosäle locken. Irgendein Verleiher kaufte, mehr aus einer Art Pflichtschuldigkeit denn aus innerer Überzeugung heraus, einige Kurzfilme und bringt sie in einem Zürcher Kino lieblos zur Aufführung. Das somit keineswegs aufgerüttelte Publikum bleibt vorzugsweise zuhause. Und schon geht unter den Verleihern wie den Kinobesitzern die Maxime durchs Land, dass das schweizerische Publikum den Schweizer Film nicht möge, weshalb er kommerziell uninteressant sei. Das einzige, was den Filmschaffenden in einer solchen Situation übrigbleibt, ist, über den Verleiherverband, den Schweizerischen Lichtspieltheater-Verband und das Departement des Innern ein Abkommen zu erzielen, dass Schweizer Filme nicht den üblichen Distributionsweg über einen Verleiher gehen müssen, sondern von den Autoren direkt an die Kinos verliehen werden können.

Oder dann müssen Autoren erleben, dass die Filme, die sie in einen Verleih gegeben haben, mehr oder weniger liegenbleiben, weil sie als kommerziell unergiebig gelten oder weil die Mittel fehlen, sie richtig herauszubringen. Jean-Louis Roy ist davon besonders betroffen. Sein L’Inconnu de Shandigor wurde von der Parkfilm unter völlig falschen Voraussetzungen auf den Markt geworfen; es fehlte weitgehend jeder Hinweis auf den parodistischen Charakter des Films. Des gleichen Autors immerhin beachtliche Studie Black-Out liegt bei einem Verleiher (Septima), der aus organisatorischen Gründen und wohl auch teilweise deshalb, weil er bei vielen Kinobesitzern in Misskredit steht, nicht imstande ist, den Film in die Lichtspieltheater zu bringen.

Dass heute Soutters Les Arpenteurs und Gorettas L’Invitation einen Verleiher gefunden haben — nota bene einen, der auch Geld in die Produktion der beiden Filme gesteckt hat — darf nicht über die tatsächliche Situation hinwegtäuschen. Die «Branche» ist an jenen Filmen interessiert, von denen sie glaubt, dass sie sich ohne grösseres Risiko kommerziell auswerten lassen. Dass sie sich heute um einen Film von Tanner, Goretta oder Soutter bemüht, nachdem erwiesen ist, dass es für solche Filme ein nicht allzu kleines Publikum gibt, liegt auf der Hand. Der Mut zum Risiko hingegen fehlt auch heute noch weitgehend. Tanner etwa hat seinen La Salamandre im Eigenverleih zum Erfolg geführt, bevor er ihn an den Film-Pool abtrat. Den Beweis, dass mit einem Schweizer Film auch geschäftlich erfolgreich gearbeitet werden kann, hat er antreten müssen. Es ist für die Situation bezeichnend, dass gerade im Anschluss an diesen Erfolg von Seiten des Filmgewerbes der Ruf laut wurde, es seien die Sonderbestimmungen für den Verleih von Schweizer Filmen rückgängig zu machen.

Die Rolle des Publikums

Dass es von Anfang an ein Publikum für den neueren Schweizer Film gegeben hat, stimmt nicht, wenn man einmal von den Cinephilen absieht. Das musste gerade auch der «Groupe 5» erfahren, der seine Filme ja nie für ein elitäres Cineastenpublikum, sondern für das breite Spektrum der «normalen» Kinogänger schuf. — Aber woher sollte es dieses Publikum auch geben? Mit dem Dialektfilm der fünfziger und sechziger Jahre hatte man all jene aus dem Kino getrieben, die vom Film mehr als das Zerrbild einer volkstümelnden Schweiz erwarteten. Sie zurückzuholen, erweist sich nun als weit schwieriger als das Vertreiben. Es sind die Filmautoren selber, die es tun müssen. Dem Filmgewerbe, das sich gerne hinter seiner gewerblichen Struktur entschuldigend versteckt, um dem Risiko auszuweichen, müsste man mit dem kaufmännischen Leitsatz antworten, dass neue Märkte nur erobert, wer auch investiert.

Dass es heute in der Schweiz ein Publikum für den Schweizer Film gibt, darf als bewiesen gelten. La Salamandre ist in den grösseren Schweizer Städten mit Erfolg gezeigt worden und erwies sich auch in der deutschen Schweiz (zumindest in Bern und in Zürich) als Langläufer. Le Retour d’Afrique erreichte bereits ein Publikum von «Kennern», und Gorettas L’Invitation scheint nun auch ein breiteres, vielschichtigeres Publikum zu erreichen. Dass der neue Schweizer Film jetzt «in» ist, dass er als Beispiel schweizerischen Kulturschaffens Anerkennung findet, ist weitgehend das Resultat der Hartnäckigkeit, mit der die Mitglieder des «Groupe 5» immer wieder versucht haben, ihre Filme in die Kinos zu bringen.

Neben der ungünstigen Verleihsituation war ein zweites Hindernis zu überwinden: die Trägheit des einheimischen Publikums, gleichgültig ob welsch oder deutsch, die praktisch gleichzusetzen ist mit der Abhängigkeit von den benachbarten grossen Kulturräumen. Es ist für unsere Situation charakteristisch, dass der Schweizer Film des «Groupe 5» nicht im Entstehungslande entdeckt wurde, sondern in Frankreich. Erst als im westlichen Nachbarland über Tanner, Soutter und Goretta gesprochen wurde, fanden ihre Filme auch hierzulande Beachtung. Propheten im eigenen Lande haben es immer schwer — in der Schweiz ganz besonders.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es keine schweizerische Kultureinheit gibt, mag sie noch so oft beschworen werden, sondern dass Sprachgrenzen immer auch Kulturgrenzen sind. Für den «Groupe 5» ist es offensichtlich wesentlich einfacher, seine Filme in Paris herauszubringen als in Zürich. Daraus werden, nebenbei gesagt, auch die Deutschschweizer Filmautoren ihre Lehren ziehen müssen. Der Sprung über die Sprachgrenzen — nicht nur die schweizerischen — wird erst gelingen, wenn das weite Hinterland des deutschsprachigen Kulturraums «erobert» ist. Dass den Romands der Durchbruch mit dem Spielfilm eher gelungen ist als den Deutschschweizern, liegt in der Hauptsache darin begründet, dass sie früher Produktionsmöglichkeiten fanden, zu einem guten Teil aber auch, dass die Kinosituation in Frankreich wesentlich gesünder ist als in der Bundesrepublik. Immerhin haben gerade die Filme des «Groupe 5» auch in der Deutschschweiz ein Klima vorbereitet, in dem jener Schweizer Film, der Selbstdarstellung und Selbsterkenntnis beinhaltet, gedeihen kann.

Die Funktion nichtkommerzieller Verleihe und Spielstellen

Die Erfolge des «Groupe 5» — allein Jean-Louis Roy wollte der Durchbruch nie recht gelingen — sind also eine Folge der Einzelinitiative. Dass Tanners Filme heute auch im angelsächsischen Sprachbereich ankommen, ist einzig und allein sein Verdienst. Durch direkte Verbindungen ist es ihm gelungen, seine Filme zu vermitteln. Hier muss gleich beigefügt werden, dass sich sein Erfolg in den USA nicht in klingender Münze ausgezahlt hat. Die Kosten, dort einen Film zu lancieren, sind derart gross, dass Rückflüsse erst spät erfolgen.

Einen kleinen, aber vielleicht nicht unwesentlichen Einfluss auf das jetzt doch wesentlich verbesserte Klima für den Schweizer Film haben zweifellos die nichtkommerziellen Verleihe und Spielstellen ausgeübt. Filmklubs und Institutionen wie das Filmpodium in Zürich oder das Kellerkino in Bern haben sich des Schweizer Films in oftmals idealistischer Weise angenommen. Erinnert werden muss hier etwa an die Initiative des Bon Film Basel, der mit Unterstützung von andern Filmklubs eine Kopie von James ou pas hat Untertiteln lassen, damit sie in den Kinos gezeigt werden konnte. Aber auch die nichtkommerziellen Verleihe, die Kopien in ihre Staffel aufgenommen haben, tragen ein Scherflein zum Verständnis für eine neue schweizerische Kultur bei, indem durch sie eine Feinverteilung in jene Gebiete erfolgt, die der gewöhnliche Verleih, aber auch der einzelne Filmschaffende, aus organisatorischen und Rentabilitätsgründen nicht mehr erreicht.

Sehr spät hat sich das Deutschschweizer Fernsehen der Filme des «Groupe 5» angenommen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass jetzt geerntet wird, was andere gesät haben. In die Funktion des Bahnbrechers jedoch ist das Deutschschweizer Fernsehen — im Gegensatz etwa zu den deutschen Fernsehanstalten, die den Filmen des «Groupe 5» grosse Aufmerksamkeit schenken und ihnen damit auch helfen, den Weg zumindest in die Kommunalkinos zu finden — nie getreten. Diese passive Konsumentenhaltung jenes Mediums, das einen grossen und wesentlichen Teil seiner Programme mit dem Ausstrahlen von Filmen bestreitet, gehört mit zu den grossen Irrtümern, die den Leidensweg eines kompetenten und deshalb beachtenswerten Schweizer Filmschaffens säumen.

RÉSUMÉ:

Urs Jaeggi trace révolution de la distribution des nouveaux films suisses dans notre pays et de l'écho qu'ils ont reçu auprès du public suisse. Il reproche en particulier aux distributeurs établis ainsi qu'à la télévision alémanique de ne pas s'être occupés plus tôt du nouveau cinéma suisse et d'avoir commencé à en tirer profit après les premiers succès.

H rappelle quelques cas de films suisses qui sont mal ou ne sont pas distribués ainsi que le cas de La Salamandre que Tanner dut distribuer lui-même avant que le «Film-Pool» ne s'en charge. Quant au public, de Suisse alémanique avant tout, Urs Jaeggi pense qu'il a été chassé des salles par le vieux cinéma suisse qui reflétait l'image d'une Suisse folklorique. Il s'avère maintenant difficile de le récupérer. L'article se termine par une appréciation du rôle des distributeurs non-commerciaux.

Urs Jaeggi
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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