JÜRG BÄR

EIN STÜCK FREIHEIT IN DER SCHWEIZ — GESPRÄCH MIT FRANÇOIS SIMON

CH-FENSTER

François-Michel Simon ist in Genf wohnhaft, doch man kann sagen, dass er den grössten Teil des Jahres 1973 anderswo, meist in Paris, verbrachte. Für seine Ferien kehrte er in seine Heimat zurück, und dort, in seiner Wohnung, besuchten wir ihn. Mit dem «wir» soll nicht die Verantwortung auf den Plural der Bescheidenheit abgewälzt werden; wir haben ihn zu zweit besucht.

Das Gespräch mit François Simon kann nicht schlicht und einfach wiedergegeben werden. Es besteht aus Simon und aus Film, aus seinen Aussagen und aus unseren Interpretationen.

Vielleicht ist François Simon ein typisches Kind der welschen Schweiz. Mit kleineren oder grösseren Variationen lässt sich seine Tätigkeit mit jener vieler Schweizer Künstler vergleichen: Die grosse Liebe gilt dem Beruf vorab dann, wenn er in der Heimat ausgeübt wird, aber man nimmt auch andere Orte der Ausübung in Kauf. Simon hat zwei Berufe: Er ist Schauspieler, und er ist Regisseur. Als solcher hat er (im Theater) über fünfzig Stücke inszeniert. Als Darsteller arbeitet er vornehmlich in französischsprachigen Gebieten. Er war auch in Amerika, was als Kontinent zu verstehen ist: mit der «Chinesischen Mauer» von Max Frisch in Montreal (was ihm, am Rande, auch die Gelegenheit geboten hatte, etwas vom Amerika der Vereinigten Staaten zu sehen).

Vor zwei Jahren arbeitete er in Italien. Der Film heisst Corpo d'amore und wurde von Fabio Carpi inszeniert.

Es handelt sich um ein Dreieckstück besonderer Natur: Vater (55 Jahre) und Sohn (15 Jahre), die sich generationenmässig völlig entfremdet sind, finden am Meeresstrand ein Mädchen (25 Jahre), das sich offenbar umbringen wollte. Vater und Sohn verlieben sich in die junge Frau (Mimsy Farmer, geborene Amerikanerin, verheiratet mit einem Italiener), und die gleichgerichtete Liebe trennt sie nicht, sondern führt sie zusammen. Die Gemeinsamkeit von Vater und Sohn wird noch durch ein Verbrechen verkittet. Die Handlung ist abwegig, nicht im Rahmen des Üblichen. Wäre sie «wegig» und «üblich», böte sie das, was wir Schnulze nennen. Doch gerade das ist nicht das Metier von François Simon.

Ihm geradezu auf den Leib geschrieben ist die Rolle des Mephisto, der schlicht «Monsieur» genannt wird, im Fernsehfilm Président Faust. Wenn Simon von der Geschichte erzählt, geschieht das etwas maliziös, wie der Diabolus nun einmal ist, und doch liebenswürdig, wie das dem Schauspieler Simon entspricht. President Faust ist ein Mann von heute, Präsident eines Trusts von Konzernen; er beherrscht die Welt. Die Gretchenfrage ist die gleiche wie bei Goethe: Er sucht das Glück, und was er vom Teufel wünscht, ist ausgerechnet Reinheit. Es wird darum gefeilscht, die Rate wird von 50 Prozent auf zweimal sieben Prozent herabgesetzt. Bitterer Humor, Zynismus lagern über der Situation.

François Simon hat auch eine deutschschweizerische Vergangenheit. Er spielte, in jungen Jahren, in der Bäckerei Zürrer, er stand neben Rasser im Cabaret Kaktus und im HD-Soldat Läppli auf der Bühne. Sein letzter deutschschweizerischer Film ist Der Tod des Flohzirkusdirektors oder Ottocaro Weiss reformiert seine Firma, den Thomas Koerfer sicher mit Seitenblick auf Simon konzipiert hatte.

Dann sprachen wir über den Schweizerfilm im Allgemeinen, und hierbei sollen einige Gedanken von Simon wiedergegeben, zudem aber interpretiert werden; die Verantwortung für die Interpretation darf keineswegs Simon in die Schuhe geschoben werden.

Der Schweizer Film hat im Ausland mehr Erfolg als im eigenen Land. So geschah es in Oberhausen, so geschah und geschieht es in Paris. Es kann auch nicht in Zweifel gezogen werden, dass der Deutschschweizer Film im Welschland viel weniger erfolgreich ist als der westschweizerische im nördlichen Helvetien. Es wäre billig zu behaupten oder gar damit «beweisen» zu wollen, dass die alemannischen Schweizer weniger könnten als die Suisses romands. Simon meint dazu, dass sogar Filme wie Daniel Schmids Heute nacht oder nie und Koerfers Tod des Flohzirkusdirektors mehr Auslands- als Inlandserfolge zu verbuchen hätten. Das Ausland zeigt eine gewisse Neugier für das, was die petits suisses produzieren, gleichgültig in welcher Sprache. Die Franzosen haben sogar für den accent un peu étranger et aimable eine unverkennbare Sympathie.

Dazu kommt als weiteres Moment — und das als Zitat —, «dass der Schweizer Regisseur frei ist, dem Produzenten keine Konzessionen machen muss, auch ohne Stars arbeiten darf». Das gut insbesondere für den «Groupe 5», wo Simon von Fall zu Fall engagiert wurde (Charles mort ou vif, Le Fou, Limitation), wo aber auch ohne Stars gearbeitet werden kann. Angeblich unumgängliche Konzessionen bringen einen Film um, und wenn der Produzent Stars und Story vorschreibt, wird der Drehbuchautor zur Tippmamsell, und der Regisseur hat Sprachrohr-Arbeit zu verrichten; sie werden noch für ihre Namen bezahlt, bestenfalls dafür, dass sie sich im Kampf mit dem und gegen den Produzenten aufreiben. Das sagte Simon nicht so. Das ist die Interpretation von Andeutungen eines Mannes, von dem wir manchmal den Eindruck hatten, er resigniere.

François Simon resigniert nicht. Er wohnt in der Schweiz, kommt immer wieder nach Genf zurück, weil er hier — République et Canton de Genève — die Freiheit findet, ohne die er nicht leben kann. Frei arbeiten zu dürfen ist eine Voraussetzung, eine Bedingung für Filmschaffende, und dieses Stück Freiheit kann in der Schweiz gefunden werden.

Jürg Bär résume et comrnente un entretien qu'il a eu avec François Simon. Simon, l'acteur de cinema, mais aussi le metteur en scène de théâtre à qui l'on doit la présentation d’une cinquantaine de pièces, lui raconte son voyage au Canada, son travail en Italie avec Fabio Carpi qui l'a engage pour son film Corpo d'Amore, enfin la prédilection qu'il ressent pour le rôle de Mephisto qu'il a joué dans le téléfilm Président Faust (diffusé par l'ORTF le 6 janvier 1973).

A propos des films suisses, Simon met en evidence la liberté vis-à-vis du producteur dont le réalisateur peut disposer en Suisse, ce qua est, selon lui, le point de départ de toute rea-lisation cinématographique sérieuse et en particulier de Celles du «Groupe 5».

Jürg Bär
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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