MARTIN SCHAUB

FELLINI: ZEIT UND EWIGKEIT

ESSAY

Das Werk von Federico Fellini ist eine einzige Konfession. In allen seinen Filmen sind autobiographischen Spuren nachzuweisen. Es Hesse sich etwa eine Biographie zusammenlesen: Moraldo verlässt am Schluss von I Vitelloni das Dorf, kommt als «junger Mann» in Rom an (Roma), wird der Journalist in Un’ agenzia matrimoniale, dann Marcello in La dolce vita, schliesslich Anselmi, der Regisseur in Otto e mezzo; dieser Anselmi erinnert sich seiner Kindheit: Titta aus Amarcord tritt schon in Otto e mezzo auf. Und war es nicht Titta, der vom Fenster seines Zimmerleins aus zugeschaut hat, wie das dunkle Zirkuszelt langsam in den Sternenhimmel wuchs (I Clowns)? In Amarcord steht er wieder im gleichen Fensterrahmen; draussen schneit es.

Wer dies Biographie «zusammenliest», wird nicht das Leben Fellinis nachzeichnen. Fellinis Filme sind nicht Autobiographie, sondern Konfession; und wie in der katholischen Beichte Taten und Gedanken gleich schwer wiegen, zählen in Fellinis Filmen Erfahrungen und Träume gleich viel. Seit Otto e mezzo fliesst eines ins andere über.

Erstmals vermischt Fellini die Zeit- und Wirklichkeitsdimensionen in Otto e mezzo, dann in Giulietta degli Spiriti, später in I Clowns und in Roma, der auch nach Amarcord sein vielschichtigster Film bleibt. Die genannten Filme haben — im Gegensatz zu Satyricon und Amarcord — eine gegenwärtige Erzählebene: Anselmi soll einen Film machen, Giulietta soll sich in ihrem Leben zurechtfinden, Fellini soll einen Film über Clowns drehen, er will Rom porträtieren. In den genannten Filmen werden die Jahre 1962, 1965, 1969, 1971 sichtbar. Von der Ebene der Erzählgegenwart gibt es Durchbrüche (oder Einbrüche) in die Kindheit; am Ende dieser Einbrüche steht bereits das gesamte Motiv- und Personenaufgebot von Amarcord. Versuchen wir — unter Umgehung der Komplikationen von Giulietta degli Spiriti — die Welt der Frühe aus Otto e mezzo, I Clowns und Roma zu skizzieren.

Otto e mezzo: der Friedhof; Vater und Mutter; das Internat und die Kameraden; Saraghina, die Strandhure; die Kapelle im Internat und die Beichte; (der Haremstraum).

I Clowns: das Kinderzimmer und sein Fenster; die Mutter; die Bäuerinnen; die Zwergnonne; der Kriegsversehrte; die Kutscher; das Grand Hotel; der Bahnhof; der faschistische Gerarca; das Motorrad; das Billard-Café; Giudizio, der Idiot; das fremde Paar; die Vitelloni.

Roma: die Bäuerinnen mit den Fahrrädern; der Schuldirektor, das Institut; die Lehrerin in Faschisten-uniform; der Schnee; Giudizio; das Mittagessen im Familienkreis; das Kino (Wochenschau mit faschistischem Pomp, faschistische Jugendverbände); die «Messalina»; die Kutscher; der Bahnhof.

Vergegenwärtigung und Verewigung

In Amarcord werden diese Motive und Personen Gegenwart. Das heisst: Fellini verzichtet auf die Inszenierung der zeitlichen Distanz von annähernd 40 Jahren. Er hat «in sich drin» die präsente Vergangenheit gesucht und nach aussen projiziert. Zwar ist Fellinis Stimme zu Beginn noch im Off zu hören. Er spricht Giudizio an: «Was willst du uns sagen? Drück dich deutlicher aus.» Die Gelegenheit, zeitliche Distanz auszudrücken, wird aber nicht wahrgenommen. Vergangenheit ist Gegenwart.

Wäre Amarcord fellinische Autobiographie, wäre «II Borgo» (E Boürg im Dialekt) -— so hätte der Film zuerst heissen sollen — Rimini zu Beginn der dreissiger Jahre; wäre also Amarcord als historischer Film intendiert gewesen, lägen alle Bedenken auf der Hand: gegen die mangelnde Genauigkeit und Übersicht, gegen die Standpunktlosigkeit.

Doch ist Amarcord in erster Linie anderes: Das Städtchen ist eine Chiffre für Abgeschlossenheit; die Jugendlichen sind Chiffren für die Frühe, die Unschuld und die Offenheit. Man muss den Film zunächst einmal nehmen als das, was er ist. Man muss ihn aus seinem eigenen Horizont heraus interpretieren. Wer darüber hinaus geht, muss wissen, dass er eigene Standpunkte vertritt, die Fellini entweder nicht einnehmen kann oder nicht einnehmen will.

Die Idee zu Amarcord, sagt Fellini, sei ihm beim Friseur gekommen. Dösend habe er seinen zu Boden fallenden Nackenlocken nachgeschaut. Ein wenig Altersüberdruss und Sehnsucht nach der Jugend wird man nicht wegdiskutieren können. Mit I Vitelloni (1953) lässt sich Amarcord kaum vergleichen: Dort die Beobachtung der Provinz aus kritischer Distanz — man hat das in Italien «Qualunquismo» genannt: Irgendwer, betrachtet von irgendeinem —; hier nun ein Aufgehen in dieser Welt.

Fellini entdeckt in ihr die «reinen Verhältnisse», seine heutigen Einschätzungen, Vorstellungen, Meinungen in nuce. Er zielt nicht auf die Zeit; er sucht in Zeiterscheinungen das Ewige, Unveränderliche.

Zwei Themenkreise werden abgeschritten, ausinterpretiert, vertieft, «verewigt»: die Frauen und die Abgeschlossenheit. Alle Nebenthemen kann man in diese zwei Kreise einweisen. Die Themen werden — musikalisch — durchgeführt auf einer Art Generalbass: es sind die immer wiederkehrenden Jahreszeiten und die Gegenwart des Todes. Auf diesem Teppich des Unvermeidlichen, zyklisch Wiederkehrenden erscheinen die Themen nicht als historische, datierbare Ereignisse, sondern als Offenbarungen. Schon in Roma hat sich die Philosophie der ewigen Wiederkehr angekündigt. Leben wurde dargestellt als ewiger Stoffwechsel. Auf dem Stoffwechselprinzip fusste Fellinis Optimismus.

Die Frauen

Nachdem Titta von der riesenhaften Tabakhändlerin an die Brust gedrückt worden ist, erkennt er seine Mutter als Frau. «Wie ist dass denn mit Vater und dir gewesen», fragt er im Fieber. Vom ungeschlechtlichen Wesen wird die Mutter zur Frau. Man darf annehmen, dass sich Titta bewusst geworden ist, dass er geboren wurde aus geschlechtlicher Liebe.

Die Volpina, die ihm beim Kuss am Strand die Zunge in den Mund gesteckt hat, die Bäuerinnen, die ihre fetten Hintern über die Fahrradsättel stülpen, die weiblichen Gäste des Grand Hotel, die mit halbentblössten Brüsten auf Männer aus sind, die fernen Traumschönheiten im Kino «Fulgor», die man dann beim Onanieren stöhnend anruft, schliesslich Gradisca mit ihrem reinen Liebesbedürfnis und ihrer schönen Erotik ziehen Zug um Zug den Vorhang vor einem Mysterium weg. Die Tabakhändlerin zieht den Jungen über die Schwelle; nun steht er mit einem Fuss bereits drin, im Leben, noch immer halb ängstlich und halb liebend oder halb zurückgestossen, halb besitzergreifend.

An der Spitze der Wertpyramide steht die Gradisca, an ihrer Basis sind die 30 Frauen des Emirs, die von Eunuchen ins Grand Hotel getrieben werden und nachts den Lügner Biscein zu sich rufen. Sie sind zwar ein orientalischer Traum, aber ein Traum, der mit Fellinis Frauenbild zu tun hat. Die Polarisierung der Frauen in zwei Gruppen, die Huren und die Gnadenbilder, ist durch das ganze fellinische Werk festzustellen. Der Harem in Amarcord ist nicht so weit entfernt von Anselmis Haremstraum in Otto e mezzo, Sowie Gradisca die entfernte Verwandte von Claudia in jenem Film ist.

Wenn — in Amarcord — Gradisca geht, verschwindet für einen Moment die Gnade. Gradisca geht und lässt die Jungen allein zurück. Der eben noch belebte Platz am Meer, Ort der ausgelassenen Hochzeitsfeier, wird zum öden, gottverlassene Niemandsland.

Für Fellini ist die Frau Erniedrigung und Erhöhung des Lebens, Hölle und Himmel. In dieser Polarität werden barockkatholische Prägungen spürbar. Den individualpsychologischen Hintergrund bei Fellini kenne ich nicht; er scheint mir auch weniger wichtig zu sein als Zuordnungen, die hinter Fellini zurückweisen.

Am deutlichsten wird die Sehnsucht nach der Erlösung durch Frauen beim verrückten Onkel Teo. Sein Schrei nach einer Frau — ausgestossen auf einem Baum, Sinnbild des Lebens und des Mütterlichen — ist ein barockes «De Profundis».

Die Abgeschiedenheit

Auch die Abgeschiedenheit wird dargestellt als Fluch und als Gnade. Die Einsamkeit Tittas und seiner Freunde, Teos Gefangenschaft in sich selbst, die Ehrsamkeit Gradiscas sind nicht nur komisch, im Gegenteil. Die Einsamkeit gehört zu Fellinis Grundmotiven von allem Anfang an: Die Vitelloni, der Bidone, Zampanò und Gelsomina, die drei Hauptfiguren von Un’ agenzia matrimoniale, Marcello, Anselmi, Giulietta: alles Einsame, Eingeschlossene auf der Suche nach Selbstverständnis oder Gnade.

Teo und Tittas Vater philosophieren über die perfekte Form des Eis; das Ei ist Lebenseinschluss. «E Boürg» hätte Amarcord zuerst heissen sollen: Man könnte das übersetzen mit «Das Nest». Im Nest sind die Menschen geborgen, aber sie sind auch einsam. Das grosse Leben zieht an ihnen vorbei. Sie fahren aufs offene Meer hinaus und winken dem «Rex» zu; eben noch waren sie unter sich, nun rufen sie den Menschen auf dem Ozeanriesen zu, doch keiner vernimmt sie. Heimweh und Fernweh liegen in der Szene; das sind nur scheinbar sich ausschliessende Begriffe. (Schweizer verstehen das haargenau.)

In Roma befiehlt der Vater seine Familie auf die Knie, wenn aus dem Radio der päpstliche Segen «urbi et orbi» ertönt. Die Menschen in Amarcord jubeln dem «Rex» und den Faschisten zu. Sie repräsentieren die grosse Welt und sind Versprechen für den eigenen Anschluss an diese Welt, die Hoffnung auf den Zusammenbruch der Mauern, die «Il Borgo» bergen und verbergen. Zum Weiten und Unübersichtlichen haben diese Menschen ein völlig ambivalentes Verhältnis. Einerseits hängen sie am Überblick-baren, an der Heimat eben, andererseits verführt sie das Fremde und Grosse mit Leichtigkeit. Für Fellini wurde der Faschismus nicht in der Enge der Provinz geboren; die Provinzler wurden verführt, so wie sie von den amerikanischen Filmen verführt wurden. Fellini unterschlägt den «Marsch auf Rom».

Noch immer werden Einsamkeit und Enge überspielt mit dem Fest. Auf dem Corso, im Kino, bei der Verbrennung der «Fogarazza», am Nationalfeiertag, bei der Bootsausfahrt, im Café, bei der Hochzeitsfeier feiert sich die Enge; man gibt sich warm. Die Farben werden kalt, wenn die Gradisca geht.

Fellini selbst hat gelernt (am Ende von Otto e mezzo), die Einsamkeit ins Fest umzulenken. Seit jenem Augenblick betont er eher die Lust an der Enge als die Qual. Die Einsamen vor Otto e mezzo warteten auf Erlösung von aussen; nach dem einschneidenden Film aus dem Jahr 1962 wird immerhin die Möglichkeit angedeutet, sie in sich selbst zu finden. Ansätze eines schwer erduldeten Humanismus.

Magie, Traum, Geist der Frühe

Jedes Jahr kommen die «Manine», jedes Jahr wird die Fogarazza verbrannt, der Sommer bringt Gäste, der Herbst Nebel. Mit den Jahreszeiten weist Fellini auf den ewigen Kreislauf der Dinge hin. Vor der «ewigen Uhr» der Jahreszeiten bekommt alles Menschliche ephemeren Charakter, wird die akzidentielle Gestalt unwichtig. Fellini geht direkt auf das Essentielle ein. Historie bietet ihm bloss Material an zur Reflexion und zur Feier des Ewig-Menschlichen.

Streng historisch denkende Zuschauer können zu Fellini nur ein gebrochenes Verhältnis entwickeln. Dem realistischen Historiker fällt es schwer, Fellinis christlich-existentialistischen Ansatz zu adaptieren. Ihn stören Fellinis «blinde» Durchbrüche zu archetypischen Formen, weil sie sich der Interpretation oft halbwegs oder ganz entziehen.

Amarcord regt weniger an zu Reflexionen über die immerhin datierbare Zeit als zu Reflexionen über den Zeichenfinder Fellini, über seine «individuelle Mythologie», die allerdings mit der kollektiven Mythologie über weite Strecken identisch ist. Es gibt genügend Anhaltspunkte für die Annahme, dass Fellini nicht nur individuelle, sogar egomane Leitvorstellungen veräusserlicht, sondern kollektive: italienische, katholische, existentialistische. Der Interpret muss nicht bedingungslos kapitulieren.

Doch lernt er einsehen, dass da immer ein Rest bleibt, in den kein Licht fällt, Stehen, an denen Fellinis Werk magische Qualitäten zuwachsen. Ich denke etwa an die Szene im Nebel, an den Schnee, an den Onkel im Baum. An solche Stehen ordnen sich Realitätspartikel zu einer magischen — oder traumhaften — Einheit, zu der interpretatorische Klärung nur halbwegs vordringen kann und soll, weil die Kommunikation — automatisch — stattfindet, und zwar mit der naiven Seinsschicht des Zuschauers. Der von Fellini beschworene «Geist der Frühe» spricht unvermittelt den verschütteten Geist der Frühe im Zuschauer an. An diesen Steilen ist Amarcord am stärksten.

FELLINI: TEMPS ET ETERNITE

L’œuvre de Fellini est une permanente confession. La tentation est grande de composer la biographie de Fellini avec des éléments de ses films. Fellini serait: Moraldo (I Vitelloni), le «jeune homme» de Roma, le journaliste Marcello (La dolce vita), le metteur en scène Anselmi (Huit et demi) qui descend dans son passé; il était Titta (Amarcord) et le petit garçon des «Clowns». Mais, comme dans la confession catholique, ce ne sont pas seulement les actes qui comptent, mais aussi les rêves et les pensées. Depuis Huit et demi Fellini les traite de la même manière et avec la même intensité. Tandis que les films antérieurs connaissaient un plan présent, Amarcord descend quasi complètement dans le passé. Ce passé se compose d’une grande partie d’éléments déjà connus depuis Huit et demi, Les Clowns et Roma.

Dans ces films-là, le passé était le passé; dans Amarcord le passé devient présent, il n’y a plus aucun point de vue actuel. Les critiques négatives de ce film sont parties de ce fait. Fellini a vu dans le passé les proportions pures de ce qu’il est, pense et veut. Dans un cadre historiquement définissable, il a trouvé les dimensions éternelles. Il groupe son monde autour de deux thèmes principaux: les femmes et l’isolation. On peut facilement établir des rapports soit des deux thèmes entre eux, soit de n’importe quel thème mineur avec les centres de gravité nommés.

En décrivant l’initiation de Titta, Fellini développe son estimation de la femme et de l’amour. La femme est ange ou diable, damnation ou rédemption. Gradisca quitte les adolescents; à ce moment tout devient pâle et triste. Dans un «médaillon» génial, Fellini résume tout: dans un arbre (symbole de la vie et de la procréation), l’oncle fou réclame une femme; cela rappelle les «des profundis» baroques. Le christianisme (et même l’orient) semble être le fond de l’image fellinienne de la femme.

L’isolation est également vue en tant que grâce et que condamnation. Mais, depuis Huit et demi, Fellini accentue une solution humaniste de l’isolation extrême. La communauté des hommes se fête et trouve ainsi les moyens de la rédemption en elle-même.

Fellini place ses «proportions pures» sur un fond éternel: le retour des saisons, le perpétuel recommencement. L’accidentel n’a plus de valeur; l’histoire ne fournit que le matériel qui illustre l’immortel. Le spectateur réaliste ne suit Fellini que jusqu’à un certain point, puis il tombe dans le vide... ou dans «l’esprit de l’aube et de la jeunesse» duquel l’inspiration de Fellini se nourrit. Il y a des coins inaccessibles pour la lumière rationaliste. C’est là que règne la magie, la communication non-verbale. C’est là qu’Amarcord est le plus fort.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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