PAUL NIZON

SÄTZE ZU FELLINI

ESSAY

Es sind die (wattebauschkleinen) Samen der Pappeln, die jeweilen im März wie aus dem Nichts in windstillen Stunden über der Stadt erscheinen und in Richtung Meer wieder verziehen: ein Samenschneewunder, eine Himmelserscheinung. Sie deuten den unabsehbaren Raum an, sie markieren eine Überzeit oder Ewigkeit, und indem sie ins Städtchen einschweben und die Menschen bezaubern, lassen sie den Ort als lächerlich kleines Gebilde von Menschenhand, vor allem aber als Ausschnitt ahnen. Wir fahren also mit Fellini gleichsam aus einer himmlischen Unendlichkeit auf das Erdenplätzchen namens Rimini ein, das nun für eine Weile die Bühne seltsamen Geschehens abgeben wird.

Man könnte daraufhin alle fellinischen Filmanfänge untersuchen und käme immer auf dasselbe. In der Dolce vita ist es das von einem Reklame-Helikopter eingeflogene Kruzifix, das seinen drachengleichen Schatten über die Häuser Roms wirft und die Leute zum Aufschauen veranlasst. Auch hier wird der irdische Schauplatz aus der Luft und aus den Himmelsweiten «betreten». Aus dieser Perspektive treten die mondänen Badenixen und auch schon der im Zentrum stehende Klatschspaltenkolumnist in Erscheinung — man sieht sie aus der Luft, wie sie dem himmlischen Boten zuwinken.

Die Filme Fellinis beginnen vor einem Plane der Ewigkeit (sub specie aeternitatis), und dieser Masstab, diese Perspektive stempelt den Schauplatz des Geschehens zur rührend kleinen, beliebigen, eben ausschnitthaften Menschenbühne und Lebensarena.

Leben, Menschenleben, wird a priori als Episode deklariert, die zwar nichtig, wenn nicht überhaupt ein Wahn, aber gerade darum auch wunderbar ist.

Mit Otto e mezzo tritt an die Stelle der Allegorie die Autobiographie; und die Parabel von der Irrfahrt durch die Lebenslandschaft (mit der heilsamen Krisis zum Schlüsse) wird abgelöst durch eine Reise ins Unterbewusste, durch Seelenwanderung, Tiefenpsychologie. In Otto e mezzo findet der Zusammenbruch des «Helden» gleich zu Anfang statt, alles Folgende im Film beschäftigt sich mit «Heilung» und damit dem Ich (einem autobiographischen Ich); mit Selbstbegegnung, Selbstfindung und mit «Unterbewusstseinsausgräberei».

Die Expedition hinab zu den eigenen Tiefen fördert ein reiches Fundgut zutage: Eine neue Realität und einen neuen Zugang zu Realitäten. Es ist die aus der frühen Zeit bewahrte archetypische Gestaltenwelt, die inbildliche Welt. Der autobiographische Stoff Fellinis beginnt in seinen Präfigurationen freizuwerden. Otto e mezzo beschreibt das Auftauchen der ersten «Erinnerungs»-Archipele, der Film führt den schöpferischen Vorgang solchen Imaginierens vor. Es erstehen die in Inbildern gefasste Mütter (im Badehaus); die Präfiguration der Wölfin aus Amarcord taucht schon auf in Gestalt einer Strandhure; das Zuchtinstitut der Kleinkinderschule mit den Nonnenwärterinnen — insgesamt ein Reigen legendärer Gestalten. Fellini entlässt sie zum Schluss des Films in die Manege des Zirkuszelts. Er führt seine Geschöpfe im Reigen an.

Der zirkustolle, traurig-schöne Reigen in der Manege ist Metapher und Signal für die neuerworbene künstlerische Freiheit und Souveränität. Die Manege aber verbildlicht den magischen Kreis — der (aufgedeckten und entfesselten) Innenwelt.

Fellini-Roma. Rom ist der Geburtsort des Künstlers Fellini. Hier trat der junge Mann aus der Provinz «in die Welt», und hier kam er — als Künstler — auf die Welt. Jetzt, auf der Höhe des Lebens und Schaffens, ficht ihn die Frage an, ob er überhaupt je in die Welt und das heisst: in die Wirklichkeit, die heutige Wirklichkeit, gelangt sei. Oder ist er draussen geblieben, ein Flüchtling und wahnbefangener Egomane? (Woran glaubt, worauf fusst er, wofür lebt und optiert er — im Rom dieser heutigen Zeit?).

Rom wird in diesem Film auf zwei Ebenen angegangen: auf der Ebene der Innenwelt und derjenigen der Aussenwelt. Anders gesagt: Gegenstand der Bemächtigung ist die chaotische Weltstadt heute und andererseits das aus Erinnerungstiefen gehobene Rom der eigenen frühen Zeit.

Der Wechsel von der einen zur anderen Ebene wird in Roma mit der Vehemenz von Wechselbädern praktiziert, aber die Gegensätze von objektiver und subjektiver Wirklichkeit (von Aussen- und Innenwelt) kommen nicht sonderlich zur Geltung: was immer Fellinis hochentzündliche Künstlerphantasie berührt, wird von seiner Innenwelt verschlungen und in Mythen verwandelt; wird in den egomanen Fellini-Reigen integriert.

Zur Mythisierung des Lebens gehören eine Reihe immer-wiederkehrender gleichsam «ewiger Situationen» und dann eine entsprechende Bildfindung, Bilderfindung für diese Situationen. Da wäre, in Amarcord, die Szene zu erwähnen, wo die Leute des Städtchens, um draussen auf dem Meer dem vorüberziehenden Ozeanriesen REX ihre Ovation darzubringen, auf Booten, Kähnen und Kuttern hinausgefahren sind und nun auf hoher See warten. Es ist Abend, dann Nacht geworden, und allmählich stall in diesem Schifferlager. Nur der Wellenschlag ist zu hören, und auf dem Wellenschlag heben und senken sich die Boote und auf ihnen die Menschen, die teils schlafen, teils flüstern oder auch nur vor sich hin staunen. Über ihnen spannt sich das gestirnte Firmament, unter ihnen ist die bodenlose Schwärze des Wassers. Das nächtliche Schaukeln ist ein Bild, in das ein ganzer Hof mitgedachter und mitempfundener Bedeutung einfliesst: Argonauten und Odysseus, aber auch Fährboot über den Fluss Lethe und die Barke der Liebe. In der Stimmung sind Liebe, Tod und Traum Dominanten.

Eine andere Situation: es ist neblig, offener Spätherbst, und der alte Nonno aus der Familie des Titta, der bisher noch nie die geringsten philosophischen Anwandlungen bewiesen hat, findet sich, nicht weit von zuhause, auf einmal im Nebel verirrt. Er kann seinen Eingang nicht finden, er dreht und wendet sich in der suppendicken Graue und bekommt es allmählich mit der Angst zu tun. Da nähert sich eine Kutsche, erst ist es ein grosser dunkler Schatten, dann nimmt er Umrisse an. Der Alte, der überfahren zu werden fürchtet, drückt sich zur Seite, dann ruft er den Kutscher um Auskunft an, und siehe da: er befindet sich direkt vor seinem Hause. Die Verirrung im Nebel hat den Nonno auf Todesgedanken gebracht, aber mitbeteiligt an der Todesstimmung ist natürlich in erster Linie auch das gespenstische Auftauchen der Droschke mit dem schwarzen Kutscher auf dem Bocke — es ist, wie wenn Schwager Chronos den Alten gestreift hätte.

Paul Nizon
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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