WERNER JEHLE

GLÄNZENDES CHROM UND REINE SEELE

ESSAY

Als Fortbewegungsmittel allein wurde das Auto nie betrachtet. Seit seiner Erfindung verbeugt man sich vor ihm und ist der Meinung, es leite eine neue Epoche ein. Kurz nach der Jahrhundertwende steht in dem für Schriftsteller und Künstler der damaligen Avantgarde entscheidenden «Futuristischen Manifest», ein Rennwagen sei schöner als die Nike von Samothrake... wörtlich: «Ein Rennwagen, dessen Karosserie grosse Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike vom Samothrake»1. Ein knappes Jahrzehnt seiner Geschichte war kaum verflossen, da wurde das Auto zum Mythos erklärt, und ein halbes Jahrhundert später bestätigte der französische Strukturalist und Kulturkritiker Roland Barthes aus historischer Distanz, was die Futuristen in ihrer Streitschrift noch als Herausforderung ausgestossen hatten. Für Barthes ist das Auto «das genaue Äquivalent der grossen gotischen Kathedralen»... «... eine grosse Schöpfung der Epoche, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht wurde und die in ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch, von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet»2.

Man kann sich mit dem Soziologen Hans G. Helms auch darüber wundern, dass das Auto «Wagen» genannt wird, «als wäre es eine herrschaftliche Kalesche mit vier rassigen Rappen davor statt eines verdeckten, keuchenden Motors unter der Haube»3. Auch auf den alltäglichen Sprachgebrauch hat sich die Magie des Automobils ausgewirkt, und auf dieser Erkenntnis gründet wiederum das Vokabular der Autobranche. Den Vehikeln werden neben der Markenbezeichnung Titel wie Admiral, Commodore, Diplomat verliehen. Je nach Hubraum, Komfort und Preis werden Kraftfahrzeuge schliesslich auch noch in Klassen eingestuft, in untere Klassen, in Mittelklasse-Wagen und in Wagen der Superklasse. Solche Hinweise auf das sekundäre Leben des Autos werden unterstrichen durch ein entsprechendes visuelles Sprachsystem, das sich weder von der Transportfunktion des Fahrzeugs, noch von seiner massenhaften Reproduktion her erklären lässt. Kühlergrills sind reine Meisterwerke des Expressionismus. Es gibt aggressive Mäuler und defensive Schildformen, meist in blankem Chromstahl gehalten, versehen mit heraldischen Zeichen, Wappenschmuck, Tier- und Pflanzenornamentik. Geht man dem Aufwand nach, findet man, dass in das Styling von Autos teilweise mehr investiert wird, als in dessen technische Weiterentwicklung. Änderungen der Automodelle haben die USA Ende der 50er Jahre «rund 2,5% ihres Bruttosozialprodukts gekostet»4. Wer sich mit diesem Jahrhundert und seiner Gesellschaft auseinandersetzt, erkennt im Auto ein objet pilote5, das Lebensgewohnheiten und Wahrnehmung beeinflusst.

Henri Lefebvre schreibt zu Recht: «Der Raum wird nach den Zwängen des Automobils bemessen. Das Fahren ersetzt das Wohnen... Für viele ist ihr Auto ein Teil ihres Wohnens, oder besser das wesentliche Fragment»6.

Von Toulouse-Lautrec angefangen bis hin zu den radikalen amerikanischen Realisten der Gegenwart haben Künstler auf die durch das Auto veränderte Wirklichkeit reagiert. Die Futuristen haben das Vehikel als Symbol einer neuen antiklassischen Ästhetik angesprochen. Der Architekt Walter Gropius, Begründer des Bauhauses, hat selbst Autos entworfen. Le Corbusier hat in seinem 1923 erschienen Werk Vers une architecture Tempelarchitektur und Autokonstruktion miteinander verglichen7. Unter den Exponenten der Pop Art hat sich vor allem James Rosenquist mit dem Mythos beschäftigt. Eines seiner Hauptwerke heisst bezeichnenderweise: «I love you with my Ford».

Dieses Auto, das sich verselbständigt, das menschliche Züge annimmt und menschlich reagiert, hat auch immer wieder Filmrollen übernommen... besonders im amerikanischen Kino. Ich möchte hier lediglich an einige symptomatischen Beispiele der letzten zehn Jahre erinnern, zum Beispiel an die Rolle des Automobils in Arthur Penns Bonnie and Clyde aus dem Jahre 1967. Die Titelhelden und die Mitglieder ihrer Gang leben in und mit den Wagen. Sie verständigen sich über Kühlerhauben hinweg. Markenzeichen bedeuten für sie Welten. Der etwas debile C.W. Moss (Michael Pollard) gehört nur zur Bande, weil er äffisch an Automobilen hängt und sie zu pflegen versteht. Auto-Verfolgungsjagden geraten in Bonnie and Clyde zu Balletten, die sich vom Handlungsfaden losgelöst haben und nur noch für sich stehen. Man beobachtet auch in den französischen Unterwelt-Filmen, etwa in denjenigen Jean-Pierre Melvilles, wie Autos immer wieder ins Bild kommen ohne ersichtlichen Grund, wie die Welt immer wieder durch die Windschutzscheibe gesehen wird. In Le Deuxième Souffle von 1966 ist das Auto Angelpunkt. Es beherrscht die Leinwand im optischen Sinn und ist — buchstäblich — Vehikel der durchkonstruierten Handlung: Überfall auf Geldtransport, Durchbrechen einer Strassensperre, Fahrten, Fahrten...8

Selbst in den billigsten Polizistenfilmen, die fürs Fernsehen bestimmt sind, bezeichnet das objet pilote Dinge und Sachverhalte, die ausserhalb seiner selbst liegen. Es gibt eine Sorte von Serien, in denen der brandneue Strassenkreuzer zusammen mit dem bulligen Protagonisten die Hauptrolle spielt und für sich selbst und die Welt, die ihn hervorgebracht hat, wirbt. Der Glanz des Blechs und Chroms, der Luxus solcher Automobile steht dann für die Moral ihrer Benutzer. So blank wie Cannons Lincoln ist auch Cannons Seele.

Peter Bogdanovich, der viel von den Naiven des Kinos gelernt hat und aus den Ingredienzien des Hollywood-Films extrem konstruierte und manirierte Paraphrasen schneiderte, hat die magische Seite des Automobils besonders hervorgeholt. Im Drive-In-Kino kulminiert die Handlung von Targets (1968), in einem Mercury diejenige von The Last Picture Show (1971) und in einem truck diejenige von Paper Moon. Erinnerungen an das Kino Hollywoods, das sind für Bogdanovich Erinnerungen an diese oder jene Automarke, an diesen oder jenen Autotyp, hinter denen sich dieses oder jenes Kino-Erlebnis verbirgt. Welchen Wagen fuhr Humphrey Bogart, als er...; welchen Wagen fuhr Richard Widmark, als er...? Solche Autos sind Indikatoren. Man liest ihnen den Anspruch des Besitzers ab. Man identifiziert bestimmte Abschnitte der Vergangenheit mit ihnen. Man kennt Personen, die nur den, und andere, die nur diesen Wagen fahren.

Anders setzt wiederum Sam Peckinpah das Auto in seinen Western ein. In Wild Bunch (1968) und The Bailad of Cable Hogue (1970) wird es an der Wende von einer Epoche zur anderen als elegantes Fossil verwendet. Es taucht auf beim Untergang der letzten Desperados alten Stils in Wild Bunch, Es macht sich selbstständig und überrollt in The Ballad of Cable Hogue den letzten Westerner (Jason Robards). Doch nicht nur im amerikanischen Spätwestern, der um 1900, am Ende der Cowboy Ära spielt, sondern auch im Italo-Western, der den direkten Bezug zum Publikum sucht, erscheint ein Automobil, das den «Fortschritt» ankündigt. Ich erinnere an Sergio Corbuccis Il Mercenari (1968) oder Giulio Petronis Revolutions-Operette Tepepa (1968/69). Da sitzen jeweils die Vertreter der Staatsgewalt, die Militärs, in frühen Limousinen. In Tepepa Orson Weites als mexikanischer Oberst.

Es lassen sich Klassengegensätze verdeutlichen am Beispiel des Automobils. Vergangene Zeiten, eine gewisse lokale Atmosphäre, ein politisches Klima kann heraufbeschworen werden beim Vorzeigen entsprechender Autos. Das motorisierte Vehikel ist neben dem Kostüm zur zweiten Haut des Menschen geworden: manchmal nützlich, manchmal lebenswichtig, manchmal armselig, manchmal luxuriös.

Das Massenmedium Film, angewiesen auf neue, visuelle Codes, hat sich des Autos sofort bedient. Es hat darin jedoch nicht nur das Fetischhafte, das magische Objekt gefunden. Es hat das Auto nicht nur vorgezeigt. Es hat immer wieder demonstriert, wie sehr das Automobil die Sicht des Menschen von der Welt geändert hat, wie der Mensch seine Umgebung vom Auto aus erlebt. In einem Film mit dem Titel Summer of the City (1971) lässt der deutsche Filmemacher Wim Wenders seinen Helden in ein Taxi steigen und minutenlang durch Münchens Vorstädte fahren. Die Fahrt hat kein Ziel. Der Held geniesst sie, und der Zuschauer erlebt mit ihr bewusst ein Stück Stadt durchs Autofenster: ein Stück Stadt, das in nichts den Postkartenstädten gleicht, aber in vielem die autogerechten, ästhetischen Züge von Las Vegas aufgenommen hat.

Filippo Tommaso Marinetti, zitiert nach Konrad Farner, Kunst als Engagement, Darmstadt und Neuwied, 1973, S. 111.

Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M., 1970, S. 76.

Hans G. Helms, «Die Ideologie der anonymen Gesellschaft», Köln, 1966, S. 248.

Siehe Wolf gang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a. M., 1971. Benutzte Auflage 2., 1972, S. 36.

Josef Lischer, Die Sprache der Werbung in der Autobranche — Hintergründe — wie sie gemacht wird — ihre Besonderheiten. Diss. Freiburg i. Uechtland o. J., S. 12.

Henri Lefebvre, Soziologie nach Marx, Frankfurt a. M., 1972, S. 84.

Le Corbusier, Kommende Baukunst, Berlin u. Leipzig, 1926, S. 108 (Erstausgabe, Vers une architecture, o. O., 1923).

Dazu Melville über Amerika: «Wenn ich dort bin, brauche ich nichts Anderes mehr. Ich habe dann alles. Wenn ich mit einem Mietwagen im Westen oder im Süden auf einem Highway fahre, brauche ich nichts anderes mehr. Ich bin ein glücklicher Mensch. Es ist mir ein paar Mal beim Fahren passiert, dass ich eine Art von Freude verspürte, die mir die Kehle zusammenschnürte und ich fragte mich, ob ich glücklich war, weil ich auf einem Highway fuhr. Das ist schon verrückt.» Interview von Eric Breitbart mit J.-P. Melville, erschienen in Film Culture, Nr. 35, S. 15 ff. Zitiert nach Film, Jahresheft 1969, Velber bei Hannover, 1969, S. 62.

CHROME ET ÂMES POUS

Jamais la voiture ne fut comprise en tant que moyen de transport; dès son invention, on s’inclinait devant elle, estimant qu’elle inaugurait une nouvelle époque. Dans le manifeste futuriste, le bolide dépasse la Niké de Samotharque en beauté; une dizaine d’années après son invention, l’automobile était déjà un mythe, ce que Roland Barthes confirme cinquante ans plus tard: «L’équivalent des grandes cathédrales gothiques». La magie de l’automobile influence même le langage quotidien, ce que ses promoteurs publicitaires utilisent: Amiral, Diplomate, Commodore, etc.: comme noms de modèles; classe moyenne, super-classe: comme qualifications qui remplacent des dates techniques exactes. La deuxième vie de ce moyen de transport s’articule également sur les ornements plus ou moins baroques. L’industrie a investi plus dans le style de ces produits que dans leur développement technique.

Cet «objet pilote» influence les habitudes de vie et la perception. Depuis Toulouse-Lautrec jusqu’aux hyperréalistes américains, les artistes ont réagi sur la réalité transformée par l’automobile. James Rosenquist, le peintre pop, appelle une de ses œuvres: «I love you with my Ford».

Naturellement, l’automobile qui prend un aspect humain tient des rôles au cinéma. Exemples: Bonnie and Clyde d’Arthur Penn; chez Jean-Pierre Melviiie, le monde est souvent regardé par la fenêtre d’une voiture; même dans les séries les plus bon marché, «l’objet pilote» tient des rôles importants. La Lincoln de Cannon est aussi polie que l’âme du propriétaire. Bogdanovich se souvient des anciens films de Hollywood en (se) rappelant les voitures: quelles voitures conduisèrent Bogart dans..., Edward G. Robinson dans...? On identifie les époques passées. Chez Peckinpah l’automobile signale la fin du Far West, de même chez Corbucci (Il Mercenario).

La voiture accentue la différence des classes, elle a transformé la vision du monde de l’homme du 20e siècle. Dans Summer in the City (1971), le cinéaste allemand Wim Wenders fait rôder un de ses personnages dans Munich en taxi. Le spectateur voit une ville par la fenêtre d’une voiture: cela n’a rien de commun avec des vues de cartes postales. Le spectateur voit une réalité conforme à l’automobile, transformée pour et par l’automobile. (msch)

Werner Jehle
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]